Am Freitag, 14. Juni, wird Steffi Graf 55 Jahre alt. Ein guter Zeitpunkt für eine Bestandsaufnahme des deutschen Damen-Tennis. Denn die Situation "ist bedenklich - aber nicht aussichtslos", wie Matthias Stach im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt. Ein harter Generationswechsel steht an. Doch wie kann der Turnaround geschafft werden?

Eine Analyse
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Platz 55. Und Rang 91. Das war’s auch schon, mehr gibt es in den Top 100 der Frauen-Weltrangliste aus deutscher Sicht nicht. Tatjana Maria und Jule Niemeier halten dort die schwarz-rot-goldene Fahne hoch. Ein kurzer Blick reicht also schon, um festzustellen, dass die Situation im deutschen Damen-Tennis alarmierend ist. Denn das ist sie tatsächlich. Oder wie Kommentator und Experte Matthias Stach es im Gespräch mit unserer Redaktion ausdrückt: "Es ist bedenklich - aber nicht aussichtslos."

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Der 55. Geburtstag der deutschen Ausnahmespielerin Steffi Graf an diesem Freitag ist eine gute Gelegenheit, die Situation näher zu beleuchten. Denn die Probleme sind nicht nur ein viel diskutiertes Thema, sondern sie sind auch vielschichtig und werden immer besonders brutal deutlich, wenn es bei Grand-Slam-Turnieren wie nun jüngst bei den French Open nicht viel zu gewinnen gibt. Sieben Spielerinnen waren in Paris am Start, einzig Tamara Korpatsch schaffte es in die zweite Runde. Bei den Juniorinnen war für Sonja Zhenikhova und Julia Stusek in Runde eins Schluss.

Deutsches Damen-Tennis: Eine bittere Bestandsaufnahme

Eine bittere Bestandsaufnahme. Ein desaströses Ergebnis, das aber Gründe hat. "Es liegt viel an einer Struktur, die fehlt und die geschaffen werden muss. Mir fehlt die Möglichkeit, neben einer richtig guten Ausbildung zum Tennisspieler auch eine schulische Ausbildung zu machen. Es fehlt die absolute Konzentration darauf, beste Voraussetzungen für Leistungssport zu schaffen", sagt Stach, die "Stimme des Tennissports". In solchen Momenten wird gerne das College-System aus den USA als leuchtendes Beispiel angeführt, "das steckt in Deutschland aber noch in den Kinderschuhen, weil die Mühlen hier sehr langsam mahlen."

Parallel dazu sieht der 61-Jährige ein generelles Problem, das interessanterweise auch der frühere Zehnkämpfer Frank Busemann zuletzt im Interview mit unserer Redaktion ausgemacht hat: Eine Generation, der offenbar der letzte Wille fehlt, sich zu quälen, über die Grenzen hinauszugehen. Dorthin, wo es weh tut. "Man entscheidet sich relativ früh, ob man in den Leistungssport gehen will", sagt Stach, der selbst drei Kinder hat, die diesen Weg gegangen sind. Sohn Anton ist Profi-Fußballer, die Töchter Emma und Lotta spielen professionell Basketball.

"Die Frage ist, ob ich in allen Konsequenzen bereit dazu bin, den Weg zu gehen. Und da sehe ich in Deutschland große Unterschiede zu den meisten anderen Ländern", beobachtet Stach. Im Leistungssport gehe es um das Sich-Messen mit anderen, um Vergleiche, um Enttäuschungen, um Niederlagen, um das Aufstehen, um Resilienz, um Titel: "Ich kenne keinen, dem es geschadet hat, schon früh leistungsorientiert zu denken. Denn das kann auch Spaß machen. Das Entscheidende ist unter anderem – und darauf haben auch meine Frau und ich sehr geachtet -, dass eben genau dieser Spaß am leistungsorientierten Sport auch vermittelt wird."

Harter Einschnitt, harter Generationenwechsel

Die grundsätzlichen und strukturellen Probleme treffen im deutschen Damen-Tennis aktuell auf einen harten personellen Einschnitt. Barbara Rittner hat Anfang des Jahres nach fast 20 Jahren beim Deutschen Tennis Bund (DTB) aufgehört, dazu kommt ein Generationswechsel, der laut Stach "ziemlich hart ausfallen wird".

Andrea Petković hat aufgehört, Sabine Lisicki erwartet Nachwuchs, Angelique Kerber hat 2024 ihr Comeback nach einer Babypause gegeben, sieht aber auch einem nahenden Karriereende entgegen, ebenso wie Maria mit 36 Jahren. Niemeyer ist mit 24 noch jung, kämpft sich aktuell aber erst wieder zurück. Ihren Wimbledon-Viertelfinaleinzug von 2022 konnte sie noch nicht bestätigen.

Dahinter sieht es vorerst mau aus. Vor allem im Hinblick auf eine so immens wichtige Vorbildfunktion. Ohne eine Galionsfigur wie zum Beispiel Alexander Zverev bei den Herren wird es schwierig. Denn dass Tennis immer noch Potenzial für ein Millionen-Publikum hat, bewies Zverev mit seinem Finaleinzug in Paris, mit dem er bis zu 2,23 Millionen Zuschauer vor den Fernseher zu Eurosport lockte.

Ein Marktanteil von 4,6 Prozent bedeutete den drittbesten Tag der Sendergeschichte in Deutschland, besser waren nur der 20. Juli 1997 (5,2), als Jan Ullrich bei der Tour de France sein Gelbes Trikot in den Alpen verteidigte, und der 24. August 1999 (4,6) mit der Leichtathletik-WM in Sevilla. Stach glaubt fest daran, dass man im Tennis auch heute konstant ein Millionen-Publikum anlocken kann, "wenn man Galionsfiguren hat, denn die Leute haben Lust auf Topstars aus Deutschland", sagt er.

Wo ist eine Galionsfigur?

Bei den deutschen Damen gibt es im Moment aber keine Spielerin, "bei der 13-, 14-Jährige sagen: 'Oh, schau mal, die ist im Fernsehen. Komm, das kann ich auch.' Das Schwierige ist, dass du keine permanent in der Endphase eines Turniers auftauchende Galionsfigur hast. Das würde eine Menge ausmachen", sagt Stach. Denn klar: So finden neue Talente oft überhaupt erst den Weg zum Sport.

Auf dem Sprung sind Talente wie Eva Lys (22), Noma Noha Akugue (20), Nastasja Schunk (20) und Ella Seidel (19), doch einschneidende Erfolge lassen noch auf sich warten, die Transformation vom Talent zur Top-Spielerin sollte aber in absehbarer Zeit passieren. Petkovic versprühte beim SWR trotzdem Zuversicht, betonte, sie habe keine Angst um das deutsche Tennis: "Ich bin absolute Optimistin. Ich habe nie Angst vor irgendetwas und glaube, dass die drei jungen Mädels Nastasja Schunk, Ella Seidel und Noma Noha Akugue, die ich gerade im Kopf habe, sich durchsetzen werden. Vielleicht wird es eine Weile dauern, aber alle haben etwas sehr Besonderes an sich."

Es fehlt an der Breite im Damen-Tennis

Allerdings weiß auch sie, dass es an der Breite fehlt. "Als unsere Generation um Angelique Kerber, Tatjana Maria, aber auch eine Sabine Lisicki oder Julia Görges damals hochkam, gab es zehn bis 15 solcher Spielerinnen, von denen wir uns dann durchgesetzt haben. Die anderen sind dann aus unterschiedlichsten Gründen weggefallen", erklärte sie. Aktuell habe man drei bis vier solcher Spielerinnen, sagt Petkovic: "Wenn allen vier etwas passiert, haben wir plötzlich keine mehr. Es ist unglaublich schwierig, wenn man alleine da steht. Die Qualität haben wir, aber es fehlt die Tiefe."

Wie kommt man zurück zur Breite in den Jahrgängen? Am besten ganz unten anfangen, an der Basis, indem man früh Begeisterung weckt und dafür zum Beispiel in die Schulen geht. Dazu müssen die Strukturen verbessert werden. "Dazu halte ich Jugendtrainer für ultimativ wichtig", sagt Stach. Denn die können verhindern, dass man in einem schwierigen jugendlichen Alter anderen gesellschaftlichen Reizen erliegt und mit dem Sport aufhört. Dazu müsse sich die Turnierlandschaft verbessern, wie zum Beispiel in Italien. "Die können jede Woche ein Turnier spielen und müssen keine 200 Kilometer dafür fahren", erklärt Stach.

Italien feiert eine neue Ära

Die Italiener feiern gerade neue Helden wie Jannik Sinner und eine neue Ära, der Neuaufbau hat allerdings auch gute zehn Jahre gedauert. Ähnlich lange bräuchte man wohl auch in Deutschland, wenn man die Probleme bei der Wurzel anpackt. Und wenn man dazu auch Visionen hat, die Ideen, die Motivation, etwas anzutreiben. Stach ist "nicht sehr optimistisch, dass das in einem relativ kurzen Zeitrahmen passiert". Denn der Verband müsste mehr oder weniger alles auf links drehen.

Wäre da nicht Steffi Graf prädestiniert, um an einem Neustart mitzuwirken? Stach ist ein Verfechter davon, Stars wie Petkovic oder Kerber intensiv mit einzubinden. "Das hilft sehr, wenn man sieht, dass sie den Weg gegangen sind." Und Graf "ist mit dem, was sie durchgemacht hat, das perfekte Beispiel dafür, wie man mit Ehrgeiz und unbändigem Willen diesen beschwerlichen Weg gehen kann".

Ob die Gräfin Lust dazu hat, ist die andere Frage. Doch dass das deutsche Damen-Tennis die wohl größte Galionsfigur gut gebrauchen könnte – dafür reicht bereits ein Blick auf die Weltrangliste.

Über den Gesprächspartner

  • Kommentator Matthias Stach ist seit Jahren bekannt als "die Stimme des Tennissports", er hat im Laufe seiner Karriere von über 100 Grand-Slam-Turnieren berichtet, zuletzt erst für Eurosport von den French Open.

Verwendete Quellen

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