Sachsens Innenminister Armin Schuster rechnet in diesem Jahr mit bis zu 400.000 Asylanträgen in Deutschland. Im Interview mit unserer Redaktion warnt der Politiker: Die von der Bundesregierung erhoffte Integrationsleistung sei nicht mehr zu erbringen.
Armin Schuster empfängt in seinem Büro im obersten Stockwerk des Innenministeriums in Dresden. Als CDU-Bundestagsabgeordneter gehörte er 2015 und 2016 zu den innerparteilichen Kritikern der Flüchtlingspolitik von
Herr Schuster, schaffen wir das?
Armin Schuster: Wir schaffen aktuell gerade noch die Aufnahme. Jeder hat noch ein festes Dach über dem Kopf. Mit "Wir" meine ich nicht die Bundesregierung, sondern Länder, aber vor allem Kommunen. Die Suche nach Unterbringungsmöglichkeiten lastet die Ausländerbehörden und Landratsämter komplett aus. Wer meint, wir könnten gleichzeitig auch große Integrationsleistungen erbringen, verkennt die Realität völlig.
In der ersten Hälfte dieses Jahres hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 150.000 Erstanträge auf Asyl verzeichnet. Eine solche Zahl kann ein Land wie Deutschland doch stemmen.
Nicht ständig. Insgesamt rechne ich mit knapp 400.000 in 2023, 2022 lagen wir schon bei deutlich über 200.000, und Stand jetzt haben wir seit Kriegsbeginn 1,3 Millionen Flüchtende aus der Ukraine aufgenommen. Ich glaube, dass Deutschland stabil in der Lage sein muss, im Schnitt 150.000 Menschen pro Jahr aufzunehmen. Das kann bedeuten, dass wir in besonderen Krisenjahren auch mal 300.000 aufnehmen. Dann muss es aber danach auch eine ruhigere Phase mit weniger Aufnahmen geben. Wir müssen die Menschen ja auch erfolgreich integrieren. Die Integrationsleistung, die von der Bundesregierung am Rednerpult so gerne herbeigeredet wird, schaffen wir bei diesem unbegrenzten Zustrom schon jetzt nicht mehr.
Schuster: "Für mich sind die Kapazitätsgrenzen längst erreicht"
Im April haben Sie bereits gewarnt, die Limits für die Aufnahme von Asylbewerbern seien bald erreicht. Sind sie aus Ihrer Sicht inzwischen erreicht?
Für mich sind die Kapazitätsgrenzen längst erreicht. Wenn sich das Jahr 2023 so entwickelt wie die vergangenen Jahre, kommen die zugangsstärksten Monate jetzt erst. Von August bis November kommen in der Regel die meisten Menschen. Ob wir es dann in Sachsen noch ohne Zelte schaffen oder ohne Turnhallen zu belegen, kann ich nicht mehr versprechen. In und nach der Flüchtlingskrise 2015 und 2016 hatten CDU und CSU harte innerparteiliche Konflikte, bis wir uns sehr gut hinter der Strategie von Humanität und Ordnung versammelt haben. Die Zahlen gingen mehrere Jahre auf ein leistbares Niveau von deutlich unterhalb unserer Obergrenze von 200.000 zurück. Ich kann gar nicht glauben, dass die Ampel-Koalition die Zeit zurückgedreht hat und jetzt die alten Fehler wiederholt.
Die Koalitionsparteien fahren inzwischen auch einen strengen Kurs. Es gibt jetzt einen Beauftragten für Rückführungen und neue Abkommen, damit Staaten die von hier abgeschobenen Bürgerinnen und Bürger leichter aufnehmen.
Ich kann leider von keinem neuen Rückführungsabkommen berichten, das bei uns im Alltag positive Wirkung zeigt. In Sachsen gibt es mehrere Tausend Ausreisepflichtige, die eigentlich im Flieger in ihre Heimatländer sitzen müssten. Tunesien ist ein Beispiel: Tunesien stellt so hohe Hürden für die Rücknahme eigener Staatsbürger auf, dass wir eine kaum nennenswerte Zahl von Abschiebungen dorthin hinbekommen. Mal bezweifeln die tunesischen Behörden, dass es sich um ihre Staatsbürger handelt. Mal bezweifeln sie den Passersatz. Mal wollen sie nur einen Abgeschobenen pro Linienflug in der Woche. So kommen wir nicht weiter.
Schuster: "Brauchen richtige Rückführungsabkommen"
2022 sind bundesweit zwei Drittel aller geplanten Abschiebungen gescheitert. Allerdings sind für die Umsetzung die Bundesländer verantwortlich – also auch Sie.
Und daran arbeiten wir intensiv. Zunächst brauchen wir aber richtige Rückführungsabkommen, an die sich die Herkunftsländer auch halten. Die kann nur der Bund aushandeln und ich wundere mich über die Tatenlosigkeit der Außenministerin in dieser Frage. Zudem wäre es eine Riesenerleichterung, wenn die Bundesregierung jetzt in die Unterbringung von abzuschiebenden Asylbewerbern selbst einsteigen würde. Dass ausreisepflichtige Menschen auf die Kommunen verteilt werden, versteht kein Landrat, kein Bürgermeister – und ich auch nicht.
Sie fordern deshalb Rückführungszentren des Bundes. Welche Wirkung sollen die haben?
Wir bräuchten vom Bund betriebene Rückführungszentren mit Abschiebehaftplätzen an deutschen Großflughäfen. Dorthin könnten zum Beispiel zuerst die Mehrfach- und Intensivstraftäter kommen. Ein Bundeszentrum mit der diplomatischen Wucht und Expertise der Berliner Ministerien und der Unterstützung der Länder, Bundespolizei und Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Ein erster Schritt in diese Richtung wurde mit der Einrichtung des ZUR (Gemeinsames Zentrum zur Unterstützung der Rückkehr, Anm.d.Red.) von der alten Regierung schon gemacht. Hier könnten die Hürden für Rückführungen in schwierigen Fällen jedenfalls leichter überwunden werden als von jeder kommunalen Ausländerbehörde im Alleingang.
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Armin Schuster: "Wir brauchen ein Signal in Richtung Brüssel"
Wenn Politiker ständig darüber sprechen, dass Aufnahmekapazitäten ausgeschöpft sind – sorgen sie damit nicht auch für zusätzliche Verunsicherung oder gar Ängste und Wut in der Bevölkerung?
Ich beschäftige mich mit Themen, die die Menschen beschäftigen. Ich will die Bürger nicht dominieren, ich setze mich auf jede Bierbank und in jede Sporthalle und höre zu. Es gehört zur repräsentativen Demokratie, dass Politiker das Stimmungsbild in der Gesellschaft kennen und damit umgehen. Die Menschen hier in Sachsen sehen, dass wir an Kapazitätsgrenzen stoßen. Sie sehen das in Schulen, Kitas, Arztpraxen oder den immer häufiger aus der Not geborenen Standorten für Flüchtlingsheime.
Es ist aber auch Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass diese Eindrücke nicht irgendwann dazu führen, dass Flüchtlingsheime angegriffen werden.
Die Leute, die Flüchtlingsheime angreifen, sind etwas ganz anderes als die breite Mitte dieser Gesellschaft. Und diese Mitte sagt in der aktuellen Situation in Richtung der Politik: Leute, das haben wir bald nicht mehr im Griff, und wir fühlen uns mit der Situation nicht wohl. Wer aber Flüchtlingsheime angreift, würde das immer sagen – völlig unabhängig von der Zahl der Flüchtlinge. Diese Menschen haben eine extreme Haltung im Umgang mit Minderheiten, und das nehmen wir sehr ernst.
"Es geht nicht um Kontrollen jedes Einzelnen wie zu Corona-Zeiten"
Sie fordern auch Kontrollen an den Grenzen zu Polen und Tschechien, um die Migrationszahlen zu drücken. Wie stellen Sie sich das konkret vor?
Es geht nicht um Kontrollen jedes Einzelnen wie zu Corona-Zeiten. An einem hochfrequentierten Autobahnübergang würden 90 oder 95 Prozent des Verkehrs weiter ungehindert durchrollen. Die Beamten müssten erstens Fahrzeuge kontrollieren, bei denen der Verdacht besteht, dass darin Menschen über die Grenze geschleust werden. Wir haben schon jetzt viel zu viele solcher Großschleusungen. Die sind auch für die Transportierten äußerst gefährlich. Die Fahrer bringen die Menschen auf den Ladeflächen in große Gefahren. Solche Schleusungen direkt an der Grenze unmittelbar zu unterbinden, ist aus meiner Sicht ein Gebot der Stunde.
Und zweitens?
Zweitens möchte ich Zurückweisungsmöglichkeiten, wie sie seit 2015 an der bayerisch-österreichischen Grenze bestehen. Immerhin fast 15.000 in 2022. Das könnte auch ein Grund sein, warum Schleuser mittlerweile verstärkt über die polnische und tschechische Grenze operieren. Über die polnische Grenze haben wir seit Februar fast doppelt so viele Zugänge wie über Österreich.
Dann würden diese Menschen in Polen und Tschechien bleiben – das wollen die Regierungen dort wahrscheinlich auch nicht.
Wir müssen unseren Partnerstaaten im europäischen Schengenraum auch aufzeigen, dass es irgendwann auch bei uns nicht mehr geht. Viele Menschen kommen zu uns, nachdem sie schon mehrere Binnengrenzen in der Europäischen Union überschritten haben. Das entspricht nicht den Regeln des Schengenraums. Wir brauchen jetzt ein Signal auch in Richtung Brüssel: So geht es nicht weiter, und zwar kurzfristig.
"Ich baue keine Zäune, ich bin grenzenloser Schengen-Fan"
Wenn Sie so stark auf mehr Abschiebungen und Grenzkontrollen dringen – wo ziehen Sie dann noch die Trennlinie zur AfD?
Wenn Sie meine Haltung mit der AfD vergleichen, finde ich das ehrverletzend. Die Migrationspolitik der AfD gleicht eher einem Vorschlaghammer und ist menschenverachtend. Ich bin für Humanität und Ordnung, eine flexible Obergrenze und damit für eine Zuwanderung mit Maß und Mitte, die wir durchhalten können und wollen. Das ist christliche Grundhaltung. Ich möchte, dass wir anderen Menschen helfen. Ich baue keine Zäune und bin grenzenloser Schengen-Fan. Wenn Schengen funktioniert, brauchen wir in Europa auch keine Schlagbäume. Wir haben Menschen in Not Asyl zu geben, aber eben gesteuert, geordnet und nicht unkontrolliert einfach jedem Ankommenden. Bei der aktuellen Bundesregierung komme ich mir dagegen vor, als sei Deutschland ein Schiff, auf dem alle Radarsysteme ausgefallen sind.
Über die Zusammenarbeit mit der AfD gerade in den ostdeutschen Kommunen wird gerade diskutiert. Sie sind auch für die Kommunen in Sachsen zuständig. Zu welchem Umgang mit der AfD raten Sie den Bürgermeistern oder Stadträten vor Ort?
Für CDU und CSU gilt der Unvereinbarkeitsbeschluss: keine freiwillige Zusammenarbeit mit ganz links und ganz rechts. Punkt. Das heißt: CDU-Kommunalpolitiker sollten nie freiwillig die Zusammenarbeit mit der AfD suchen, und sie sollten sich deren Anträgen auch nicht anschließen, wir haben im Zweifel die besseren Ideen. Ich rate meiner Partei jetzt aber auch, die neue Lage zu klären.
Wie meinen Sie das?
Es gibt jetzt einen AfD-Landrat im Kreis Sonneberg und einen AfD-Bürgermeister in Raguhn-Jeßnitz. Stadt- und Kreisräte, die abends und nachts ehrenamtlich Kommunalpolitik machen, sind auf die Zusammenarbeit mit ihrer Verwaltung angewiesen. Das ist jetzt eine neue Situation – und man muss klären, wie man damit umgeht und pragmatische Lösungen finden. Darauf hat Friedrich Merz völlig zurecht hingewiesen.
In diesen Fällen halten Sie also nichts von der oft beschworenen Brandmauer zur AfD?
Im Kreis Sonneberg sind, soweit ich weiß, zwei Kreistagsmitglieder der CDU schon länger gewählte Beigeordnete des Landrats. Sollen die etwa zurücktreten und die Funktionen unbesetzt bleiben? Wir dürfen die Kommunalpolitiker dort nicht mit Brandmauer-Theorien alleine lassen. Jeder Bürgermeister in diesem Landkreis kommt um eine irgendwie geartete Zusammenarbeit mit dem Landrat gar nicht drumherum, jedenfalls wenn er seinen Eid zum Wohle der Gemeinde einhalten will. Die Brandmauer ist in diesen sehr speziellen Fällen zu schablonenhaft und stumpf. Die Schere zwischen den Vorstellungen und Erfahrungen mancher Bundespolitiker und Parteifunktionäre und den Kommunalpolitikern vor Ort in den Kommunen geht da schon sehr weit auseinander.
Und wer ist dafür verantwortlich, diese Schere zu schließen?
Jeder Parteivorsitzende für seine Partei, nur das war die Botschaft von Friedrich Merz an die CDU. Sozialdemokraten und Grüne scheinen die Situation wie aus einer Loge betrachten zu wollen. Dabei sitzen deren Mitglieder doch auch in den Kreistagen und Gemeinderäten, sind auch Bürgermeister – und da bleibt die Frage, wie mit Vorschlägen einer gut bekannten Verwaltung umgegangen werden soll, an deren Spitze jetzt ein AfD-Wahlbeamter steht. Aus meiner Sicht müssen alle Parteien einen Kurs finden, wie sie mit dieser neuen Lage umgehen.
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