Der ehemalige SPD-Chef Sigmar Gabriel hatte zuletzt eine glaubwürdige Abschreckung durch europäische Atomwaffen gefordert. Der bisherige Schutz durch Atomwaffen der USA sei durch die mögliche Wahl von Donald Trump gefährdet. Aber wie könnte so eine Abschreckung aussehen?

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"Ich hätte nie gedacht, dass ich darüber mal nachdenken muss. Aber Europa braucht eine glaubwürdige Abschreckung. Dazu gehört eine gemeinsame nukleare Komponente", schreibt der Ex-SPD-Chef und früherer Außenminister Sigmar Gabriel in einem Gastbeitrag im aktuellen "Stern". Ihm zufolge ist die Gefahr groß, dass eine Wahl von Donald Trump dazu führt, dass die USA ihren Bündnispflichten innerhalb der Nato nicht mehr nachkommen.

Der ehemalige US-Präsident hatte zuletzt wieder mit Äußerungen für Aufsehen gesorgt, die einen Austritt aus der Nato nahelegen, sollte er im November abermals die Wahl gewinnen.

"Der amerikanische Schutz wird absehbar zu Ende gehen, die Debatte darüber, woher der Ersatz kommen soll, muss jetzt beginnen", argumentiert der frühere SPD-Chef. "Wenn wir diese Frage nicht beantworten, werden andere es tun. Zum Beispiel die Türkei. Das kann nicht unser Interesse sein."

SPD-Politiker fordern europäische Atomwaffen

Konkret in der Pflicht sieht Gabriel die Bundesregierung. Deutschland als größte Volkswirtschaft Europas müsse "diese Debatte vorantreiben und aufhören, sich nur mit sich selbst zu beschäftigen." Er plädierte für eine "große strategische Offensive Deutschlands und Frankreichs, am besten zusammen mit den Briten", um die Sicherheit Europas zu erhöhen.

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Gabriel ist nicht der erste deutsche Politiker, der diese Forderung formuliert. Auch die europäische Spitzenkandidatin der SPD, Katharina Barley, hatte zuletzt dem "Tagesspiegel" gesagt, auf dem Weg zu einer europäischen Armee könne "auch das ein Thema werden" und meinte damit eine gemeinsame nukleare Abschreckung.

Opposition kritisiert Pläne

Auch Finanzminister Christian Lindner (FDP) erklärte in einem Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", Europa müsse an der nuklearen Abschreckung festhalten. Er deutete eine Beteiligung Deutschlands am britischen und französischen Atomwaffenprogramm an. In der Vergangenheit wurde mehrfach diskutiert, ob Frankreich seinen nuklearen Schutzschirm mit Deutschland teilt.

Laut dem "Spiegel" hatte der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy Angela Merkel 2007 ein Angebot hierzu gemacht. Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier lehnten den Vorschlag damals jedoch ab.

Oppositionspolitiker kritisieren den Vorstoß der Ampel-Politiker hingegen heftig. "Die Diskussion um eine europäische nukleare Abschreckung erfolgt derzeit völlig im luftleeren Raum", sagte der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Johann Wadephul (CDU), dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. "Es fehlt derzeit jede politische, strategische, technische und finanzielle Grundlage für ein solches Ziel."

Wie realistisch sind europäische Atomwaffen und wie könnte ein entsprechendes Projekt konkret aussehen?

Wie ist Deutschland aktuell geschützt?

Als Nato-Staat ist Deutschland Teil einer nuklearen Allianz. Die Idee ist, dass sich bei einem Angriff auf das westliche Militärbündnis Mitgliedsstaaten im Rahmen des Artikel 5 des Nordatlantikvertrags gegenseitig beistehen. Primär hat die USA hierbei die Funktion als nukleare Schutzmacht, wie Franziska Stärk vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg gegenüber unserer Redaktion erklärt.

"Militärisch manifestiert sich das vor allem in der sogenannten Nuklearen Teilhabe: Deutschland stationiert wie vier andere europäische Nato-Staaten – Italien, Niederlande, Belgien und Türkei – amerikanische substrategische Atomsprengköpfe, die im Ernstfall von deutschen Pilotinnen und Piloten ans Ziel gebracht werden sollen." Das heißt, deutsche Piloten üben im Falle eines nuklearen Angriffs einen Vergeltungsschlag mit US-amerikanischen Atomwaffen aus.

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Wie könnte eine mögliche europäische Lösung aussehen?

"Es gibt derzeit sehr verschiedene Vorschläge dazu und es geht einiges durcheinander", sagt Franziska Stärk. Einer der Vorschläge, wie ihn Katharina Barley formuliert hat, wäre eine eigene europäische Abschreckung im EU-Kontext. Das hält Stärk allerdings für unrealistisch. Andere Vorschläge zielen auf eine verstärkte, komplementäre Rolle des französischen oder britischen Nukleararsenals innerhalb der Nato ab.

Wieder andere fordern einen deutlichen Ausbau dieser Arsenale, sodass diese quasi die derzeitige US-Rolle ersetzen könnten. Auch hier gibt es aber laut Expertin Stärk eine große Anzahl von praktisch-militärischen und politischen Hindernissen: "Nicht zuletzt würde eine solche massive Aufrüstung die Abrüstungsverpflichtungen von Frankreich und Großbritannien im Rahmen des Nichtverbreitungsvertrags verletzen."

Wie realistisch ist ein europäisches Atomwaffen-Projekt?

"Eine europäische Lösung ist sehr schwierig", sagt Liviu Horovitz von der Stiftung Wissenschaft und Politik unserer Redaktion. Die meisten Beobachter sind ihm zufolge der Meinung, dass es de facto sogar unmöglich sei, eine europäische Atombombe zu entwickeln. Es gebe eine technische Grundlage und eine wirtschaftliche Komponente, die erfüllt werden müsste: Das heißt man müsste die Waffen produzieren und schauen, dass die Produktion und der Unterhalt der Waffen finanziell gestemmt werde. Das sei aber nicht das große Problem.

Am wichtigsten sei ihm zufolge die politische Komponente und hier liege die große Hürde: Die europäischen Staats- und Regierungschefs müssten sich auf eine gemeinsame Linie einigen. "Da kommt man sehr schnell auf unglaublich unangenehme Fragen", so Horovitz. Bevor man eigene Atomwaffen anschaffen könne, müsste die europäische Politik sich einig werden über eine gemeinsame Sicherheitspolitik, aber auch das sei aktuell noch schwer vorstellbar.

Und letztlich müsste es im Krisenfall eine klare Hierarchie geben und geklärt sein, wer den Oberbefehl über die Atomwaffen hat: "Die Abschreckung funktioniert nur, wenn Atomwaffen schnell abgefeuert werden können." Da sei es nicht möglich, dass man sich mehrere Tage in Brüssel treffe und über das Vorgehen debattiere, wie es derzeit bei anderen Themen passiere.

Expertin Stärk ergänzt: "Eine Union, die sich bei deutlich weniger drastischen außenpolitischen Entscheidungen sehr schwer tut, gemeinsame Haltungen zu entwickeln, wird sich kaum auf entsprechende nukleare Kommandostrukturen einigen können, zumal nicht alle EU-Staaten nukleare Abschreckung als legitimes Mittel der Sicherheitspolitik ansehen."

Wie wahrscheinlich ist es, dass die Europäer die USA als atomare Schutzmacht ersetzen?

Bisher ging es in der Debatte um europäische Atomwaffen nicht darum, wie man die US-Amerikaner ersetzen könne, sondern man habe europäische Atomwaffen eher als Ergänzung gesehen, so Experte Horovitz. Dass die EU nun sich selbst atomar gegen einen etwaigen Angriff, etwa durch Russland, verteidigen kann, ist ihm zufolge schwer vorstellbar.

Allein der Aufbau eines Atomwaffen-Arsenals dauere einige Zeit: "Das kann nicht übermorgen umgesetzt werden." Bis man überhaupt über eine europäische Abschreckung sprechen könne, würde es sicher Jahre dauern. Bis zur nächsten US-Präsidentschaftswahl wäre es also definitiv nicht möglich, die USA als Schutzmacht zu ersetzen.

Allerdings ist der Experte auch pessimistisch, was die Pläne von Donald Trump betrifft, aus der Nato auszusteigen beziehungsweise den Beistand gegenüber Europa aufzukündigen. Dieser habe dies in der vergangenen Amtszeit nicht getan und es sei schwer vorstellbar, dass er es in Zukunft tun werde: Es ergebe schlicht keinen Sinn, da die USA von der Nato profitiere. Dementsprechend sei es laut Horovitz auch sehr wahrscheinlich nicht nötig, dass die EU eine eigene Atomstreitmacht aufbaue, um die USA als Schutzmacht zu ersetzen.

Franziska Stärk ergänzt: "Vor dem Hintergrund der jüngsten Äußerungen von Trump ist es natürlich erwartbar, dass entsprechende Debatten aufkommen." Derzeit würden diese aber sehr aufgeregt und ohne strategische Tiefe geführt. "Ein Fokus auf kluge und nachhaltige konventionelle Verteidigungskonzepte für die Nato wäre deutlich sinnvoller", so die Expertin.

Über die Gesprächspartner

  • Liviu Horovitz ist Wissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Sein Schwerpunkt sind Nukleare Abschreckung und Rückversicherung; Nukleare Bedrohungen und Bedrohungswahrnehmungen
  • Franziska Stärk ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungs- und Transferprojekt "Rüstungskontrolle und Neue Technologien" am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH).

Verwendete Quellen

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