Von Teamgeist war in der Großen Koalition bislang wenig zu spüren, vielmehr sorgten Störfeuer von Jens Spahn und Horst Seehofer immer wieder für Unmut - und auch Ablenkung. Politikwissenschaftler Simon Franzmann will nicht vom verpatzten Koalitionsstart sprechen, sieht aber dennoch Defizite.

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"Wir als Bundesregierung wollen Spaltungen unserer Gesellschaft überwinden", hatte Angela Merkel Ende März vor dem Deutschen Bundestag erklärt.

Vorbild dafür ist die GroKo bislang noch nicht. Sie fiel eher durch das Gegenteil auf: Streit und Gezank.

Von "Liebeshochzeit" war zwar von Anfang an nicht die Rede, angekommen ist aber bei den Bürgern aber vor allem die öffentliche Uneinigkeit im Kabinett.

Besonders zwei Minister sorgten für Störfeuer: Innenminister Horst Seehofer und Gesundheitsminister Jens Spahn. So trat Seehofer als erste Amtshandlung eine Islamdebatte los und erntete Kritik der Kanzlerin, die Seehofer in ihrer Regierungserklärung zurechtwies.

Spahn mischte unterdessen in fremden Ressorts mit und beklagte im Interview mit der "Neuen Züricher Zeitung", der Staat habe in den vergangenen Jahren nicht mehr ausreichend für Recht und Ordnung sorgen können.

"Ich sorge mich um seine Erinnerung" twitterte FDP-Chef Lindner daraufhin süffisant und erinnerte selbst daran, dass es seit 2005 die CDU ist, die die Innenminister stellt.

Zu früh für ein richtiges Urteil

Wurde also der Start der neuen GroKo bereits völlig verpatzt?

Nein, meint Politikwissenschaftler Dr. Simon Franzmann: "Für ein solches Urteil ist es noch zu früh. Die richtige Regierungsarbeit startet erst jetzt, entscheidend ist, was bis zur Sommerpause passiert."

Er erinnert an die besondere Situation: "Die Regierungsbildung hat ungewöhnlich lange gedauert, dann kam direkt die Osterpause", so der Parteienforscher.

Dadurch habe sich ein Gelegenheitsfenster zur Themensetzung und Profilierung ergeben.

"Es ging darum, bestimmte Claims abzustecken, Initiativen hervorzubringen und einen ersten Schachzug in der Phase zu machen, in der Angela Merkel und Olaf Scholz noch nicht direkt eingreifen konnten."

Jens Spahn und Horst Seehofer hätten das ausgenutzt, aber auch die Äußerungen von Arbeitsministers Hubertus Heil zur Abschaffung des Hartz IV-Begriffs seien kein Gegenstand der Koalitionsverhandlungen gewesen.

Streitkultur bislang wenig konstruktiv

Schnell beschwerte sich die SPD in Person von Fraktionschefin Andrea Nahles. Die neue Regierung sei "eher eine Ansammlung von Sprechern in eigener Sache", sagte sie dem Redaktionsnetzwerk Deutschland und ergänzte: "Es geht Kollegen wie Herrn Spahn oder Herrn Seehofer viel zu sehr um Eigenprofilierung. So kann es nicht weitergehen". Nahles forderte ein Machtwort der Kanzlerin.

Kein "Weiter so", sondern einen Beginn der Sacharbeit forderte ebenso SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil im Interview mit dem Bayerischen Rundfunk. "Bisher hat es zwischen den Unions-Ministern Spahn und Seehofer vor allem einen Wettbewerb um die besten Überschriften gegeben", so Klingbeil.

War die GroKo in der Vergangenheit durch einen Mangel an politischem Streit geprägt, der mitunter zu einer Art politischer Lethargie geführt hatte, so gibt es gegenwärtig zumindest schon einmal mehr Reibungswärme.

Doch darum geht es nicht allein. Politischer Streit als Grundlage der Kompromissfindung ist essenziell, solange er konstruktiv geführt wird.

Und so bewertet auch Politikwissenschaftler Franzmann den Stil der bisherigen Streitkultur als wenig fruchtbar. "Konstruktive Debatten waren das nicht. Spahns und Seehofers Äußerungen zielten nicht darauf ab, sich wirklich mit dem Gegner auseinanderzusetzen."

Beide Unions-Politiker hätten lediglich einzelne Punkte vorgebracht, ohne direkt einen Gegenpol zu haben.

Teamgeist auf Schloss Meseberg

"Alles ganz normal", wie Verkehrsminister Andreas Scheuer im Interview mit dem "ZDF-Morgenmagazin" sagte? Denn: "Wir sind ja nicht beim Hallenhalma!"

"Zum Teil gehört das zur Politik dazu", urteilt Experte Franzmann. Die Minister versuchten auszutesten, welche politischen Themen gesetzt werden könnten und welche nicht. "Die Situation ist nicht zuletzt auch davon getrieben, dass vorher Debatten gefehlt haben", so Franzmann.

Unnormal sei hingegen die Einmischung in fremde Ressorts. "Das widerspricht klar dem Ressortprinzip, ist unkollegial und illoyal gegenüber der Kanzlerin", stellt Franzmann fest. Er geht davon aus, dass insbesondere Jens Spahn vor erneuten Fehltritten bei der Kabinettsklausur auf Schloss Meseberg gewarnt wurde.

Dieser Termin sollte nämlich nicht nur dem Kennenlernen der Minister und dem Besprechen von Sachthemen dienen, sondern auch auf Geschlossenheit und Teamgeist einschwören.

Von einem "Politikcamp, wo wir Arbeitsatmosphäre aufnehmen", sprach Andreas Scheuer und die stellvertretende SPD-Vorsitzende Malu Dreyer sagte dem Sender "SWR Aktuell": "Ich hoffe doch, dass es nach Meseberg wirklich losgeht mit der Umsetzung der Projekte."

Merkel und Scholz versicherten bei der gemeinsamen Pressekonferenz zumindest, dass die Stimmung gut sei – die Störungen der vergangenen Tage beseitigt.

Künftig mehr Kabinettsbeschlüsse

Wie aber will Merkel die Bundesregierung nun zusammenraufen und auf eine gemeinsame Linie bringen?

Experte Franzmann vermutet: "Die aktuelle Situation ist ein Vorbote dafür, dass sich das Regierungsmanagement verändern wird."

Merkel befinde sich in ihrer letzten Legislaturperiode und habe nur eine knappe Mehrheit. "Normalerweise hat sie immer stark ihre Richtlinienkompetenz genutzt, nun wird es wohl gehäuft Kabinettsbeschlüsse geben, an die sich die Minister halten müssen", führt Franzmann aus.

Unwahrscheinlich, dass sich Jens Spahn traut, gegen diesen breiteren Konsens zu verstoßen, denn Illoyalität wird in der Union nicht geschätzt. Franzmann erklärt: "Die eigenständige Agenda-Setzung der Minister wird ab jetzt nur noch eingeschränkt möglich sein."

Damit die politische Streitkultur künftig konstruktiv ist, müsse sich dennoch einiges ändern. "Die Vorstöße der Minister müssen mit konkreten Politikmaßnahmen verbunden sein", meint Franzmann. "Sätze wie 'Der Islam gehört nicht zu Deutschland' wirken sonst wie ein Wahlkampfslogan und lassen zu viel Interpretationsraum."

Erst konkrete politische Forderungen würden für andere Akteure Anknüpfungspunkte bieten. Wenn es hingegen so weiterginge wie bisher, dann müsse von einem groben Fehlstart die Rede sein.

"Im Ergebnis wollen wir einen neuen Zusammenhalt schaffen", hieß es in Merkels Regierungserklärung.

Dafür müsste diese große Koalition zuerst bei sich beginnen.

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