Anne Will lud am Sonntag (15. Oktober) zur Diskussion über die geplante israelische Bodenoffensive im Gazastreifen. Kann die Geiselbefreiung gelingen? Gibt es Alternativen zur militärischen Operation? Während Baerbock ihr Statement den Tränen nah vorbrachte, beschrieb Historiker Michael Wolffsohn die Tragödie des palästinensischen Volkes und bezeichnete die Bodenoffensive als Fehler. Eine eindringliche Warnung kam von Journalistin Natalie Amiri: "Die bringen sich jetzt alle in Stellung", warnte sie, als es um die Verbündeten des Iran ging.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Marie Illner dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat es angesichts des Terrors durch die Hamas deutlich beschrieben: "Deutschland hat nur einen Platz, den Platz an der Seite Israels." Aber was bedeutet das konkret? Wie sollten die Verbündeten Israel unterstützen? Das war nur eine der Fragen, denen Anne Will am Sonntag mit ihren Gästen nachging.

Mehr aktuelle News

Das ist das Thema bei "Anne Will"

Israel befindet sich im Krieg und bereitet eine Bodenoffensive auf den Gazastreifen vor. Ziel: Den Terror vom vergangenen Wochenende rächen und die Hamas militärisch und politisch ausschalten. Ist das ein realistisches Ziel? Anne Will debattierte am Sonntag mit ihren Gästen über Alternativen zur Bodenoffensive, die Gefahr eines Flächenbrands und die Absichten des Irans.

Annalena Baerbock

Baerbock: Regierung hat keinen direkten Kontakt zu deutschen Geiseln

Die Bundesregierung hat nach Aussage von Außenministerin Annalena Baerbock weiterhin "keinen direkten Kontakt" zu den im Gazastreifen festgehaltenen deutschen Geiseln.

Das sind die Gäste

  • Annalena Baerbock (Grüne): "Der Kern dieser ganzen Katastrophe ist der Terror von Hamas", betonte sie. Die große Herausforderung sei, dass man zwei Dinge gleichzeitig im Kopf haben müsse. "Einerseits: Ohne die Bekämpfung dieses Hamas-Terrors wird es keinen Frieden und keine Sicherheit geben. Dieser Terror muss bekämpft werden. Auf der anderen Seite ist das perfide Spiel dieses Terrors, dass sich die Terroristen ganz bewusst hinter Zivilisten in Gaza verschanzen", so Baerbock. Als sie von dem Gespräch mit einem israelischen Vater berichtete, der Frau und Kinder verloren hatte, sagte sie den Tränen nah: "Das könnten wir alle sein".
  • Kevin Kühnert (SPD): Der Generalsekretär meinte: "Es ist Teil unserer Verantwortung, alle uns zur Verfügung stehenden Gesprächskanäle zu nutzen". Angela Merkel habe in ihrer Knesset-Rede 2008 gesagt, im Moment der Bewährung dürfe die Staatsräson kein leeres Wort sein. Kühnert dazu: "Der Moment der Bewährung ist jetzt."
  • Michael Wolffsohn: "Es gab sehr viele politische Chancen für den Gazastreifen", so der Historiker und Publizist. Israel habe sich aus dem Gazastreifen vollkommen zurückgezogen, es gebe keinen einzigen Siedler. Außerdem habe es in der Vergangenheit Versuche gegeben, aus dem Gazastreifen eine Art Singapur oder Hongkong im Nahen Osten zu machen, die Investoren hätten bereits Schlange gestanden. "Die Tragödie des palästinensischen Volkes – und es ist eine Tragödie – liegt daran, dass ihre Führung sie verraten hat", sagte Wolffsohn.
  • Gerhard Conrad: Der ehemalige BND-Beamte mit Schwerpunkt Nahost sagte: "Bei Flächenbränden kann man auch Schwelbrände legen und unterhalten." Es sei im Interesse des Iran und der Hamas, Instabilität und Unsicherheit in anderen Ländern zu fördern, um der Förderung islamistischer Regimes Vorschub zu leisten. Er beschrieb, wie schwierig es ist, bei Hamas Ansprechpartner zu finden. Die militärische und die politische Führung der Hamas in Gaza sei nahezu unabhängig von der Führung in Katar oder der Türkei.
  • Arye Sharuz Shalicar: Der Sprecher des israelischen Militärs sagte: "Das Land steht komplett unter Schock, ich selber auch." Der Tag des Angriffs werde ihn von nun an sein ganzes Leben begleiten. "Ich würde jetzt fast schon behaupten, dass das der neue Jom-Kippur-Krieg eventuell ist für meine Generation", so Shalicar. In 50 Jahren würden seine Enkelkinder davon in der Schule hören.
  • Natalie Amiri: "Es wird gesagt, dass die Bodenoffensive eine politische Falle für Israel sein kann", sagte die Journalistin. Sie werde Bilder blutender Kinder hervorbringen, die neues Propagandamaterial für die Hamas seien. Das sei das Kalkül der Hamas und des Iran – der vor einem Erdbeben in der Region gewarnt hatte. Die islamische Republik habe sich eine schiitische Verteidigungsachse aufgebaut – in Syrien, im Libanon mit der Hisbollah, mit Milizen im Irak und Huthis im Jemen. "All die bringen sich gerade in Position", so Amiri. Weder Israel noch Iran wollten einen flächendeckenden Brand in der Region. "Aber es ist so gefährlich wie noch nie", so die Journalistin.

Das ist der Moment des Abends bei "Anne Will"

Armee-Sprecher Shalicar beschrieb den Terror der Hamas eindrücklich. Die Terroristen hätten bei ihrem Angriff ein eigenes Kamerateam mitgebracht. Diese Bilder und Videos habe er gesehen. "Von Video zu Video und von Foto zu Foto ging es mir schlechter, weil ich nicht glauben konnte, dass das Bilder aus Israel sind", gab er zu. Die Bodenoffensive sei noch nicht gestartet, weil "die israelische Armee mittlerweile seit drei Tagen die Bewohner des nördlichen Gazastreifens aufgerufen hat, über alle möglichen Kanäle, den nördlichen Gazastreifen Richtung südlichen-Gazastreifen zu verlassen", betonte der Sprecher.

Das Hamas-Hauptquartier befinde sich vor allem in Gaza-City – "in zivilen Objekten, die wir jetzt in den nächsten Tagen und Wochen angreifen werden", so Shalicar. Das Ziel seien die Terroristen, nicht die Zivilisten. Wenn die Menschen nicht weggehen würden, sei das aber von Vorteil für die Hamas. Sie wolle den Anschein erwecken, Israel würde unschuldige Menschen ermorden. "Das Hauptproblem muss vernichtet werden und dieses Hauptproblem heißt Hamas", bekräftigte er.

Das ist das Rede-Duell des Abends

"Ich halte die Bodenoffensive für einen politischen Fehler und auch für einen militärischen Fehler", meinte Wolffsohn. Man könne es "eleganter" machen, indem man den Gazastreifen vollkommen absperre – kein Wasser, keine Lebensmittel, keine medizinischen Güter.

Mit Ägypten könne es ein Abkommen für einen Fluchtweg geben. "Es gibt Alternativen", befand der Historiker. Damit könne man möglicherweise das zu erwartende Blutvergießen israelischer Soldaten verhindern. Shalicar kommentierte: "In Deutschland herrscht oft großes Unwissen in Sachen Gaza." Gaza habe auch eine Grenze zu Ägypten. Hier könne mehr Druck auf Ägypten ausgeübt werden, um das unnötige Sterben von Zivilisten zu verhindern.

Gerhard Conrad, Natalie Amiri, Anne Will, Kevin Kühnert, Michael Wolffsohn, Arye Sharuz Shalicar
v.l.: Gerhard Conrad (ehemaliger BND-Mitarbeiter im Nahen Osten), Natalie Amiri (Journalistin, leitete von 2015 bis 2020 das ARD-Studio in Teheran), Anne Will (Moderatorin), Kevin Kühnert (SPD), Michael Wolffsohn (Historiker und Publizist) und zugeschaltet Arye Sharuz Shalicar (Sprecher der israelischen Armee), bei "Anne Will" am 15. Oktober 2023. © NDR/Wolfgang Borrs/Wolgang Borrs

So hat sich Anne Will geschlagen

Will gelang es an diesem Abend besonders, den Ball von Studiogast zu Studiogast weiterzuspielen. So diskutierte sie beispielsweise mit Historiker Wolffsohn darüber, ob es eine adäquate militärische Antwort auf den Hamas-Angriff geben könne. Als der die Bodenoffensive als Fehler bezeichnete und eine Abriegelung von Gaza vorschlug, fragte sie den israelischen Armee-Sprecher Shalicar: "Hat man darüber nachgedacht?" Als der wiederum politischen Druck auf Ägypten ins Spiel brachte, reichte Will die Frage an Kühnert weiter: "Wäre das eine Aufgabe für die Bundesregierung?".

Das ist das Ergebnis bei "Anne Will"

Das war eine äußerst ertragreiche Sendung, aus der sich unter anderem Folgendes mitnehmen ließ: Journalistin Amiri prophezeite, dass die Solidarität den Israelis gegenüber in den nächsten Tagen kippen wird, wenn die Bodenoffensive beginnt. Denn dann könnten genau die Bilder von getöteten Zivilisten um die Welt gehen, die Hamas sich wünscht – und vorbereitet, indem sie die Zivilisten nicht in den südlichen Teil des Gazastreifens fliehen lässt.

Außerdem hielt die Runde fest, dass der Iran ein wichtiger Player ist, dem es nicht um die Palästinenser, sondern um sein eigenes Überleben geht. Man müsse die Iran-Politik massiv überdenken. Zuletzt kritisierte Historiker Wolffsohn mangelnde Selbstkritik. All die Brutalität, die man jetzt erlebe, sei von uns mitfinanziert worden.

Verwendete Quelle:

  • ARD: Sendung "Anne Will" vom 15.10.2023
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.