Der frühere SPD-Chef Sigmar Gabriel teilte nach den Wahlpleiten bei Anne Will gegen die eigene Parteispitze um Andrea Nahles aus – ohne direkt personelle Konsequenzen zu fordern. Als ihn eine Journalistin an seine Mitverantwortung für den Zustand der SPD erinnerte, reagiert Gabriel dünnhäutig.

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Hohe Verluste für CDU/CSU und SPD, starke Zugewinne für die Grünen, ein überraschend schwaches Ergebnis für die AfD: Die Wahl zum EU-Parlament hat einige erwartete und einige weniger erwartete Ergebnisse hervorgebracht.

Die SPD wird zum ersten Mal bei bundesweiten Wahlen drittstärkste Kraft hinter den Grünen, die rechten Parteien Europas holen trotz des schwachen Ergebnisses der AfD zusammen rund 120 Sitze im neuen EU-Parlament.

"Anne Will": Was ist das Thema?

Betretene Miene bei Sigmar Gabriel. Schon bei der Vorstellung der Studiogäste war dem langjährigen SPD-Chef die Betroffenheit über das schlechte Abschneiden seiner Partei bei der Europawahl (knapp 16 Prozent) und der Wahl zur Bremer Bürgerschaft, wo die SPD mit rund 25 Prozent erstmals hinter der CDU auf Platz zwei landete, deutlich anzumerken.

Auch Armin Laschet, der CDU-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, machte nach dem schlechtesten Unions-Ergebnis bei einer Europawahl (rund 29 Prozent) einen nachdenklichen Eindruck.

Anne Will diskutierte mit ihren Gästen über den Niedergang der Volksparteien, das Hoch der Grünen und die erstarkte europäische Rechte.

Wer sind die Gäste?

  • Armin Laschet (CDU): Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen gab zu, dass die Reaktion seiner Partei auf die heftige CDU-Kritik des Youtubers Rezo nicht gelungen gewesen sei. Man hätte die jungen Leute besser abholen müssen. Er betonte, dass es für eine Volkspartei auch noch andere wichtige Inhalte als den Klimaschutz gebe. Das Thema hatte in der Öffentlichkeit, unter anderem durch die "Fridays for Future"-Demonstrationen zuletzt einen hohen Stellenwert genossen.
  • Sigmar Gabriel (SPD): Der ehemaliger Außen- und Wirtschaftsminister sprach von einem "schlimmen Wahlergebnis" für die SPD. Das Problem: Anders als die Grünen oder die Rechten habe die SPD kein eigenes Thema gefunden. Gabriel empfahl seiner Partei in Zukunft, wieder ein klares Profil zu entwickeln – eine Bankrotterklärung für die aktuelle Parteiführung.
  • Annalena Baerbock: Die Parteivorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen vermied trotz des tollen Ergebnisses von knapp 21 Prozent bei der Europawahl ein allzu triumphierende Haltung. Die jungen Leute wüssten im Zweifel gar nicht, "wer Andrea Nahles ist oder wer Annalena Baerbock ist, aber sie wissen, dass etwas getan werden muss", sagte sie über den Klimaschutz. Im Hinblick auf den erstarkten rechten Flügel im EU-Parlament forderte sie die demokratischen Parteien auf, sich nicht nur an den Rechten abzuarbeiten, sondern aktiv für ihre Ziele zu kämpfen.
  • Melanie Amann: Die Leiterin des "Spiegel"-Hauptstadtbüros legte den Finger gewohnt scharfzüngig in die Wunde. Union und SPD attestierte sie eine zunehmende "Verzwergung und Vergreisung". Sie hätten sich im Wahlkampf in einem "Paralleluniversum" befunden. Themen, die die jungen Menschen bewegen - wie die Urheberrechtsreform oder Fridays for Future - hätten praktisch keine Rolle gespielt. Zu Sigmar Gabriel sagte sie: "Wir erleben gerade live, warum ihr Wahlkampf nicht funktioniert hat." Verwundert zeigte sich Amann über das schlechte Abschneiden der AfD, die nur in Ostdeutschland nennenswerte Erfolge feiern konnte.
  • Christoph Schwennicke: Anders als Sigmar Gabriel sprach der Chefredakteur des "Cicero" in Bezug auf SPD-Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles Klartext. Sie müsse mindestens einen Posten aufgeben, um Druck abzulassen. Kein gutes Haar ließ Schwennicke an der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer, die versucht hatte, das Wahlergebnis der Union als Erfolg zu verkaufen. "Wer so redet, der hat einfach nichts verstanden, oder der will es nicht verstehen". Aus Armin Laschets Gesicht ließ sich nach diesem Satz stillschweigende Zustimmung ablesen. Das Publikum spendete Applaus.

Was war das Rededuell des Abends bei "Anne Will"?

"Spiegel"-Journalistin Amann brachte für das SPD-Bashing von Sigmar Gabriel wenig Verständnis auf. "Das ist jetzt alles ein bisschen so, als würde Lothar Matthäus die Fußball-Nationalmannschaft von heute kommentieren, was jetzt Herr Gabriel macht. Dort sitzt jemand, der dazu beigetragen hat jahrelang, dass die SPD zunehmend abstürzt." Bei der SPD sei ein nachhaltiger Markenschaden eingetreten.

Gabriel gab zwar indirekt zu, nicht alles richtig gemacht zu haben. Aber er betonte umgehend seine eigenen Erfolge als Parteichef: neun Siege bei Landtagswahlen in Folge und ein Bundestagswahlergebnis von knapp 26 Prozent im Jahr 2013. "Bei 15 waren wir nie." Es klang fast ein wenig triumphierend.

Gabriel fügte hinzu: "Es ist jetzt nicht so, dass ich über meine Leistungen als SPD-Vorsitzender völlig entsetzt bin. Ich fand, wir haben das schon ganz gut gemacht."

Was war der Moment des Abends?

Kann man eigentlich noch deutlicher einen Rücktritt empfehlen, ohne es ganz direkt zu sagen? Gabriel riet der SPD-Führung um Andrea Nahles, die Verantwortung für das Ergebnis zu übernehmen.

Aber das müsse nicht unbedingt "personelle Konsequenzen haben", schränkte er ein. Wirklich glaubwürdig wirkte das nicht, angesichts seiner wiederholten Nahles-Kritik in den letzten Monaten.

Dass sich Gabriel für den besseren Vorsitzenden gehalten hat, wurde im Verlauf von "Anne Will" immer wieder deutlich. Etwa als er stolz berichtete, dass er immer per Direktmandat in den Bundestag gewählt wurde.

Wie hat sich Anne Will geschlagen?

Im Gegensatz zur Vorwoche, als Anne Will mit AfD-Chef Jörg Meuthen aneinander geriet, war die Sendung zur Europawahl eher arm an Kontroversen.

Als Will die AfD-Wahlergebnisse in Sachsen und Brandenburg, wo die Partei offenbar stärkte Kraft geworden ist, als "krass" bezeichnete, gab es schlichthin keinen AfD-Vertreter, der diese durchaus wertende Aussage hätte kritisieren können.

Will hätte sich dieses Mal am selbstgefällig redenden Gabriel abarbeiten können – diese Chance verpasste sie. Die Rolle übernahm dafür Melanie Amann.

Was ist das Ergebnis?

Glaubt man Armin Laschet und Sigmar Gabriel, kann es ein "Weiter so!" für die Union und die SPD nach dem schlechten Wahlergebnissen nicht geben.

Allerdings ist angesichts der beschönigenden Analyse von Annegret Kramp-Karrenbauer zu erwarten, dass in der CDU/CSU genau dies trotzdem passieren wird.

Und wie sich die SPD jetzt inhaltlich-programmatisch aus der Abwärtsspirale befreien will, konnte Gabriel auch nicht überzeugend darlegen.

Die Stärkung des alten Markenkerns "Soziale Gerechtigkeit" dürfte jedenfalls kaum die alleinige Lösung sein, wie schon bei der Bundestagswahl 2017 zu sehen war.

Auch im jüngsten Wahlkampf hatten der Partei Forderungen nach einer deutlich erhöhten Mindestrente nur kurzzeitig Luft in den Umfragen verschafft.
Union und SPD werden sich wohl oder übel daran gewöhnen müssen, was "Cicero"-Chef Schwennicke hervorhob: "Zum dritten Mal in Folge wurde die Große Koalition abgewählt".

Das Zeitalter der Volksparteien neigt sich – auch mit Blick auf die langfristigen Trends in Europa – offenbar weiter dem Ende zu. Sigmar Gabriels eitler und selbstgefälliger Auftritt hat der SPD da ganz sicher keinen Gefallen getan.

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