Während die Ukraine Geländegewinne verzeichnet, wiederholt Bundeskanzler Olaf Scholz sein Nein zur Lieferung von westlichen Kampf- und Schützenpanzern: keine Alleingänge. Doch wie stichhaltig ist dieses Argument? Darüber diskutierte am Sonntagabend Anne Will mit ihren Gästen.
Auch ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn wirkt es surreal, dass man darüber diskutiert, wie man im Jahr 2022 der Ukraine helfen kann, sich gegen den Überfall Russlands zu wehren. Doch es gibt tatsächlich wieder Krieg in Europa und deshalb fragt Anne Will am Sonntagabend: "Kampfpanzer für die Ukraine - warum zögert die Bundesregierung?"
Mit diesen Gästen diskutierte Anne Will:
Annalena Baerbock (B’90/Die Grünen), AußenministerinMichael Müller (SPD), Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags- Roderich Kiesewetter (CDU), MdB und Oberst a.D.
- Egon Ramms, General a.D. und ehem. Oberbefehlshaber NATO Allied Joint Force Command
- Anne Applebaum, Historikerin und Journalistin
Darüber diskutierte die Runde bei "Anne Will":
Wo genau das Problem bei der Lieferung moderner, westlicher Schützenpanzer liege, will
Lesen Sie auch: "Deutschland, wir warten auf Dein Wort": Kiew fordert schnelle Panzerlieferung
Diesen Schritt könne man aber nur gemeinsam mit den internationalen Partnern gehen, denn man brauche dafür deren Know-how, etwa bei Reparaturen. "Es geht ja nicht darum, dass man sich auf die Schulter klopfen und sagen kann: Wir haben aber das geliefert und dann funktioniert es aber im Feld nicht", erklärt Baerbock die Argumentation der Bundesregierung. Bisher gehe aber keiner der internationalen Partner diesen Schritt mit und "wir können diesen Schritt auch nicht alleine gehen", so Baerbock. So gut wie kein Land und erst recht nicht die Bundeswehr sei so ausgestattet, "dass wir von allem wirklich alles haben, was man bräuchte, um die Ukraine bestmöglich zu unterstützen", erklärt die Außenministerin.
Auf den Vorschlag angesprochen, ein Konsortium von Staaten, die über Leopard-II-Panzer verfügen, zu bilden, antwortet Baerbock, dass sie im Fernsehen nicht über vertrauliche Gespräche mit dem Kanzler oder dem ukrainischen Außenminister sprechen werde. Damit lässt die Außenministerin auch in der Runde Raum für Spekulationen bezüglich der Pläne der Bundesregierung.
Für Michael Müller werde der Eindruck erweckt, es gebe einen deutschen Sonderweg, doch das genaue Gegenteil sei der Fall. "Solange Amerikaner, Franzosen, Briten nicht liefern, werden wir uns diesem Weg auch anschließen." Roderich Kiesewetter hingegen hält diese Politik mindestens für schwer nachvollziehbar. Furcht vor einer Eskalation, wie
Mit diesen Panzern, so Kiesewetter, könnten die ukrainischen Soldaten geschützt in die Kampfzonen gebracht werden, statt zu Fuß gehen zu müssen. Zur internationalen Abstimmung sagt Kiesewetter, dass Spanien bereits Leopard-II-Panzer angeboten habe, die Bundesregierung habe aber abgelehnt. Ein Konsortium der Leopard-II-Länder hält Kiesewetter für eine gute Idee. Die Angst vor einer Eskalation nimmt Kiesewetter nicht ernst, "weil Putin typisch deutsche Angst bedient". Man solle auch der deutschen Öffentlichkeit sagen, "dass wir hier einer Chimäre aufsitzen".
Ähnlich sieht es auch Anne Applebaum. Die US-Amerikanerin sagt, dass man das eigene Handeln an der Ukraine ausrichten müsse, nicht an dem, was Putin sagt. "Wir wissen über Putin, wenn er mit dem Rücken zur Wand steht, zieht er sich zurück." Putin habe schon mit Schlimmem gedroht, etwa beim Nato-Beitritt von Finnland und Schweden, und bisher sei nichts passiert.
Das Zitat des Abends:
Die Runde diskutiert über die Führungsrolle Deutschlands, bei der für Michael Müller das abwägende Handeln von Olaf Scholz wichtig ist: "Besonnenheit gehört zwingend zu einer Führungsmacht dazu." In die Führungsrolle müsse und werde man allerdings hineinwachsen. Kritischere Töne kommen von Anne Applebaum. Deutschland habe durch seine Russlandpolitik der vergangenen Jahre Putin groß gemacht.
Deutschland habe deshalb eine besondere Verantwortung, doch die Führungsrolle fehle, genauso wie eine klare Verlautbarung Richtung Ukraine und Russland: "Ja, wir kämpfen in diesem Krieg bis zum Ende." Die Lieferung von Panzern wäre "die perfekte Art und Weise, das zu zeigen", erklärt Applebaum. Das sei gegenüber Putin eine gute Art der Abschreckung, denn Putin reagiere auf die Zurschaustellung von Stärke. Erst dann sei er zu Gesprächen bereit.
Noch deutlichere Töne schlägt Egon Ramms an. Als Will feststellt, dass die Ansage von Verteidigungsministerin Lambrecht in puncto Führungsrolle "nicht mit Verve" gekommen sei, antwortet Ramms: "Ich sage das mal so: In der jetzigen Situation würde ich das so beurteilen, dass die Wahrnehmung der Führungsrolle aus der zweiten Reihe ein bisschen schwierig ist. Man muss schon nach vorne treten, wenn man führen will."
Die Prophezeiung des Abends:
Bei der Abwägung, ob Deutschland moderne Kampf- und Schützenpanzer an die Ukraine liefern soll, macht General a.D. Ramms auf ein Detail aufmerksam, dem bislang viel zu wenig Raum geschenkt wurde. So scheint man im bisherigen Diskurs davon auszugehen, dass die Ukraine, wenn sie nicht mit modernen Waffen aus dem Westen versorgt wird, dann eben mit Waffen sowjetischer Bauart weiterkämpfen werde.
Doch diese Argumentation hat einen Denkfehler, wie Ramms erklärt: "Auch die Ukrainer haben Verluste. Und diese Verluste müssen durch uns ersetzt werden. Das ist eigentlich der entscheidende Punkt dabei. Ob es dabei um Ringtausch geht, der endlich ist – irgendwann ist Schluss mit Waffensystemen sowjetischer Bauart – und dann werden westliche Systeme geliefert werden müssen. Das ist nur eine Frage der Zeit."
Das Fazit:
Ja, es war eine Diskussion, die so oder so ähnlich bereits vor Wochen oder Monaten stattgefunden hat, schließlich gibt es die Frage, ob und welche Waffen Deutschland liefern soll, bereits seit Kriegsbeginn. Daher sind die Pro- und Contra-Argumente, die hier am Sonntagabend bei "Anne Will" angeführt wurden, auch nicht wirklich neu. Aktuell wird die Diskussion lediglich durch die kürzlichen Geländegewinne der Ukraine und die damit verbundene Frage, ob nun ein Wendepunkt im Krieg erreicht ist.
Und genau deshalb war es eine gute Diskussion, einfach, weil sie geführt werden muss und zwar genau jetzt. General a.D. Ramms ist es dabei zu verdanken, dass die alten Argumente um eine Perspektive erweitert wurden, der in der Vergangenheit zu wenig Beachtung geschenkt wurde. Dass am Ende kein eindeutiges Ja oder Nein heraus kommt, ist dennoch wenig überraschend, schließlich war es eine Polittalkshow und keine Abstimmung. Aber immerhin bleibt nach einer Stunde Diskussion die Ahnung übrig, dass das strikte Nein der Bundesregierung, vielleicht bald gar nicht mehr so strikt sein wird.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.