Thilo Sarrazin ist zurück in der öffentlichen Debatte. Die These seines neuen Buchs: Das Land befindet sich auf der schiefen Bahn. Im Interview sagt der frühere SPD-Politiker, welche Rolle Migration und Sozialpolitik dabei spielen – und ob es ihn nochmal in eine Partei zieht.

Ein Interview

Ein ruhiges Viertel im bürgerlichen Westteil von Berlin. Hier wohnt Thilo Sarrazin. Und hierhin hat er die Reporter zum Interview geladen. Anlass ist sein neues Buch, das Sarrazin einen Tag zuvor in Berlin vorgestellt hat. Es geht, na klar, um Migration, aber auch um Wirtschaftspolitik und die angeblichen Grenzen dessen, was sagbar ist.

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Sarrazin nimmt am Tisch im Garten Platz. Seine Frau serviert Kaffee und Kekse. Dann kann das Gespräch beginnen.

Herr Sarrazin, Ihr bekanntestes Buch heißt "Deutschland schafft sich ab". Jetzt haben Sie wieder ein Buch geschrieben, dieses Mal mit dem Titel "Deutschland auf der schiefen Bahn". Das klingt weniger drastisch. Sind Sie altersmilde geworden?

Thilo Sarrazin: Nein, das hat andere Gründe. Buchtitel entstehen nach der eigentlichen Arbeit. "Deutschland schafft sich ab" ist ein Buch über die Probleme des Sozialstaats. Es hatte erst den Arbeitstitel "Wir essen unser Saatgut auf". Aber es sollte ja kein Buch über Landwirtschaft werden. Im Verlag kam dann jemand auf die Idee, aus einem Satz im hinteren Teil den Titel zu machen. Der Satz hat gezündet.

Und dieses Mal? Warum sehen Sie Deutschland auf der schiefen Bahn?

Weil die deutsche Politik sämtliche Ausfahrten verpasst. Ich zeige, was schiefläuft und was man ändern könnte. Die Vergangenheit kann man zwar nicht ändern, aber man kann die Zukunft gestalten.

Ein großes Thema ist für Sie die Migration. Da hat die Bundesregierung doch die Richtung geändert. Sie hat Grenzkontrollen und eine Bezahlkarte für Asylbewerber eingeführt, hat sich Abschiebungen auf die Fahnen geschrieben. Auf europäischer Ebene gibt es ebenfalls eine Asylreform, die die Regeln verschärft.

Für eine Kursänderung reicht das nicht. Sicherlich hat die Bundesregierung eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, einige von eher symbolischem Charakter, andere von materieller Substanz. Aber was hat das in der Summe geändert? Die Zahl der Abschiebungen ist praktisch nicht gestiegen. Der Bundeskanzler hat nach dem Anschlag in Solingen gesagt: Er will die Verfassung nicht ändern und er will das Individualrecht auf Asyl erhalten. Das heißt, es passiert gar nichts.

Der mutmaßliche Täter von Solingen sollte nach Bulgarien abgeschoben werden – das ist aber offenbar an den lokalen Behörden gescheitert.

Daran sieht man: Der Staat ist nicht einmal der banalen Aufgabe gewachsen, Asylbewerber in das Land zu überstellen, in dem sie erstmals in die EU gereist sind. Mit dem Staat meine ich hier nicht nur den Bund, der das Recht setzt, sondern auch Länder und Kommunen.

Was müsste aus Ihrer Sicht in so einem Fall passieren?

Die Vertreter des Staates müssen sich fragen: Wie muss ich den Prozess gestalten, damit er vernünftig funktioniert? Welche Hindernisse stehen im Weg? In den Verwaltungsabläufen, in der Zusammenarbeit der Behörden. Muss das Recht geändert werden? Egal, wen ich jetzt höre – ob es der Bundeskanzler ist oder Justizminister Buschmann oder Innenministerin Faeser: Das Verständnis dafür, dass sie die Verantwortung für diese Prozesse tragen, scheint ihnen völlig zu fehlen.

Der Bundeskanzler hat eine Taskforce angekündigt.

Die Hindernisse für Abschiebungen lassen sich schnell aufzählen, dafür brauche ich keine Taskforce. Das kann Ihnen ein tüchtiger Sachbearbeiter im Bundesinnenministerium an einem Vormittag darstellen. Ich habe 30 Jahre in der öffentlichen Verwaltung gearbeitet. Wenn ich so etwas sehe und höre, kriege ich eine innere moralische Krise.

"Ich finde, dass sich der Meinungskorridor verengt hat."

Thilo Sarrazin

Sie warnen in Ihrem neuen Buch vor "repressiven Tendenzen" in Demokratien. Was meinen Sie damit?

Umfragen zeigen, dass es in Deutschland ein wachsendes Gefühl gibt, dass man sich nicht mehr zu allen Dingen frei äußern kann. Man muss nicht mit dem Gefängnis rechnen, aber viele Menschen fühlen sich offenbar unter Druck. Die Medien setzen ein bestimmtes Meinungsklima, an dem sich die Politik dann orientiert. Ich finde, dass sich der Meinungskorridor verengt hat.

Aber in der Öffentlichkeit wird ständig über Themen gesprochen, über die angeblich nicht gesprochen werden darf. Sie schreiben Bücher darüber, die von vielen Menschen gelesen werden – und auch wir sprechen jetzt darüber.

Nach meinem Buch "Deutschland schafft sich ab" ist ein Sturm über mich hinweggebraust. Die Medienwelt tickt anders als die Masse der Bevölkerung, vor allem der öffentlich-rechtliche Rundfunk steht deutlich weiter links. Es gibt dazu verschiedene Untersuchungen, unter anderem von der Universität Mainz.

Die Medien bestehen aber nicht nur aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Wir könnten jetzt viele Printmedien mit einem konservativen oder wirtschaftsliberalen Profil aufzählen – "Bild", "Welt", "Focus", "FAZ", "Handelsblatt", "NZZ", um nur die größten zu nennen.

Ich lese die FAZ seit meinem elften Lebensjahr. Da gibt es einen Linkstrend und genauso bei der "Bild"-Zeitung. Der ehemalige Chefredakteur des Handelsblatts hat seine Redaktion angewiesen, über mein Buch "Der neue Tugend-Terror" nicht zu berichten. Viele Journalisten haben über meine Bücher geurteilt, ohne sie selbst gelesen zu haben. Es fand gar keine Auseinandersetzung mit dem Buch statt, sondern ein permanentes Voneinanderabschreiben. Das ist meine persönliche Erfahrung. Trotzdem trete ich Journalisten offen gegenüber.

Sie sehen Deutschland auch wirtschaftlich auf der schiefen Bahn. Was läuft falsch?

Eine ganze Menge – und alles hängt miteinander zusammen. Die Sozialausgaben steigen immer weiter. Die Gesellschaft altert. Es gibt ungesteuerte, falsche Einwanderung. Allein das kostet Milliarden. Schauen Sie sich den Bundeshaushalt an. Die SPD sagt: Im Sozialen darf nicht gekürzt werden. Dabei macht dieser Bereich bereits über 50 Prozent des Haushalts aus. So engt sich Politik selbst ein.

Bei der Rente fordern Sie Leistungskürzungen. An die Beamtenpensionen, von denen Sie selbst profitieren, wollen Sie aber nicht ran.

Bei den Beamtenpensionen geht es – anders als bei der gesetzlichen Rente – um eine kleine Gruppe. Für den Staat ist dieses System auch wirtschaftlicher. Würden die Beamten in das gesetzliche System eingegliedert, müssten ihre Bruttogehälter stark steigen, damit die Nettogehälter gleichbleiben. Das ist extrem teuer. In Berlin wurden Lehrer eine Zeitlang nur angestellt. Das Ergebnis: Sie haben einen Bogen um die Stadt gemacht.

"Am Ende führt in der Rentenpolitik kein Weg daran vorbei, dass die Menschen länger arbeiten und das Rentenniveau abgesenkt werden muss."

Thilo Sarrazin

Die Ampel hat Schritte unternommen, um die Rente zu stabilisieren. Es gibt mit dem Generationenkapital eine weitere Säule, die auf Aktien setzt.

Der Einstieg ist mit zehn Milliarden Euro gemacht. Das ist ein richtiger Schritt – der aber 20 Jahre zu spät kommt. Und zehn Milliarden reichen nicht. Das ist Symbolik. Am Ende führt in der Rentenpolitik kein Weg daran vorbei, dass die Menschen länger arbeiten und das Rentenniveau abgesenkt werden muss – das ist eine Folge der Demografie.

Beim Bürgergeld sagen Sie: Die Regelsätze "müssen grundsätzlich deutlich abgesenkt werden". Wohin?

Es geht mir nicht um die Höhe des Regelsatzes. Viele Leistungen sind ineinander verzahnt. In Berlin hat ein Paar mit zwei Kindern ein Haushaltseinkommen von 1850 Euro. Da sind Miete und Krankenversicherung schon abgezogen. Das ist mehr, als viele mit Ganztagsarbeit verdienen. Als Alleinverdiener bräuchte man dafür brutto 4500 bis 5000 Euro. Das verdienen qualifizierte Beschäftigte. Das Bürgergeld setzt also die falschen Anreize.

Am 1. September wählen Sachsen und Thüringen neue Landtage. Brandenburg ist am 22. September dran. Mit welchem Ergebnis rechnen Sie?

Ich kenne auch nur die Umfragen. Es ist offen, ob Ereignisse wie in Solingen die Wahlbeteiligung erhöhen. Die SPD schrammt in Sachsen und Thüringen an der Fünf-Prozent-Klausel und sagt ihren Wählern: Stimmt für uns, dann verhindern wir zumindest als Juniorpartner in der Regierung das Schlimmste. Das ist eigentlich eine klassische FDP-Strategie. Die entscheidende Frage ist aber eine andere.

Nämlich?

Wenn AfD und BSW im Osten auf bis zu 50 Prozent der Stimmen kommen, müssen sich die anderen Parteien doch fragen: Was haben wir falsch gemacht? Warum wurde uns die Legitimationsbasis weggeschlagen? Es kann doch nicht sein, dass Mehrheiten gegen die Ränder nur noch in einer Allparteienkoalition möglich sind. Eine solche Einheitsregierung ist extrem ungesund – und ein Drama für die Demokratie.

"Heute bin ich nur noch Autor. Und dabei auch glaubwürdiger ohne Parteimitgliedschaft."

Thilo Sarrazin

Sie waren lange Sozialdemokrat. Was sind Sie heute?

Ich war sogar 47 Jahre Mitglied der SPD. Heute bin ich parteilos und gedenke das auch für den Rest meines Lebens zu bleiben.

Eine Parteimitgliedschaft reizt Sie nicht mehr?

Ich wurde im Alter von 28 Jahren Mitglied der SPD. Damals hat mich die Liberalität der Partei überzeugt. Ich hatte aber nie irgendwelche Ämter in der Partei. Mein Weg ging durch Ministerien und die öffentliche Verwaltung. Heute bin ich nur noch Autor. Und dabei auch glaubwürdiger ohne Parteimitgliedschaft.

Sie denken also schon wieder über das nächste Buch nach?

Im Februar werde ich 80 Jahre alt. Ich habe meiner Frau versprochen, dass ich künftig, wie ein normaler Pensionär lebe – was immer das auch bedeuten mag. (lacht)

Über das Buch

  • Thilo Sarrazin: "Deutschland auf der schiefen Bahn: Wohin steuert unser Land?", Verlag Langen-Müller, erschienen am 27. August 2024, 328 Seiten, 26 Euro

Über den Gesprächspartner

  • Thilo Sarrazin wurde 1945 in Gera geboren und wuchs in Recklinghausen auf. Er studierte Volkswirtschaft, arbeitete danach unter anderem im Bundesfinanzministerium, als Finanzstaatssekretär in Rheinland-Pfalz und bei der Deutschen Bahn. 2002 bis 2009 verordnete er als Berliner Finanzsenator der Hauptstadt einen Sparkurs, danach war er Vorstandsmitglied der Bundesbank. Mit seinen Büchern und Äußerungen über Migranten und Hartz-IV-Empfänger löste er bundesweite Kontroversen aus. 2020 schloss die SPD ihn nach 47 Jahren Mitgliedschaft aus.
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