Die Grünen befinden sich gegenwärtig im Höhenflug. Mit ihm steigen zwar die Erwartungen und damit auch die Fallhöhe. Doch es gibt Anzeichen, dass diese neuen Grünen so schnell nicht wieder abstürzen werden, sondern stattdessen zu einer neuen Volkspartei in Deutschland heranwachsen - auch wenn der Begriff nicht ganz zutreffend sein mag.

Eine Analyse
von Michael Wollny

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Der aktuelle ARD-Deutschlandtrend zeichnet ein erschreckendes Bild für die GroKo. Die Regierungsparteien werden abgestraft, die AfD legt zu. Sie sammelt Stimmen bei SPD wie Union und mobilisiert auch jene, die es bislang nicht so mit dem Wählen hielten.

Doch der AfD gelingt dieses Kunststück nicht allein. Die Zeichen stehen auch auf Grün.

Mut zum Umbruch wird belohnt

Als die damalige Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt im März 2017 erklären sollte, warum die Grünen gerade aus dem saarländischen Landtag geflogen waren, lautete die Antwort, dass die Themen der Grünen offensichtlich "nicht gerade wahrgenommen werden als der heiße Scheiß der Republik".

Eine recht verkürzte, aber deshalb nicht weniger plausible Erklärung. Damals. Im März 2017.

Aber: Die Zeiten ändern sich. Göring-Eckardt ist zwar noch Fraktionschefin der Grünen, doch an der Parteispitze stehen nun nicht mehr Cem Özdemir und Simone Peter, sondern Robert Habeck und Annalena Baerbock.

Den Grünen ist gelungen, woran die SPD scheiterte und was sowohl CDU wie auch CSU erst noch gelingen muss: ein Führungswechsel, mit neuen Gesichtern, neuen Schwerpunkten – und einem neuen Stil.

Die neuen Grünen sind weit entfernt von den Peinlichkeiten eines "Veggie Day", haben sich vom Stigma der wirtschaftsfeindlichen Öko-Spinnerei emanzipiert und vermitteln nun eine Ernsthaftigkeit beim Willen zur politischen Gestaltung, die authentisch wirkt.

Auch weil sich die neue Parteispitze von jener ideologischen Kompromisslosigkeit zu verabschieden scheint, die der linke Flügel seit jeher als Prinzipientreue verteidigt, die von den Realos aber immer auch als Hemmschuh empfunden wurde.

Grünen wollen Begriff "linksliberal" neu besetzen

Die Grünen sind mit ihrer Neujustierung - und laut Habeck einer neuen Definition des Begriffes "linksliberal" abseits der ökologischen Nische - ein hohes Risiko eingegangen.

Schließlich war keineswegs absehbar, dass die Überwindung tradierter Konfliktlinien innerhalb der streitlustigen Partei nicht auf massive Widerstände stoßen und den Wandel umgehend im Keim ersticken würde.

Diese Gefahr scheint mittlerweile gebannt. Angesichts beachtlicher Zustimmungswerte sind auch Parteilinke wie Jürgen Trittin vom neuen Führungsduo begeistert. Ihm gefällt, dass die neuen Grünen zu ihren Grundwerten stehen und sie in praktische Politik einfließen lassen.

Sie reduzieren sich dabei längst nicht mehr nur auf umweltpolitische Kernkompetenzen, sondern stehen auch für sozialpolitische Visionen.

Franziska Brantner, die europapolitische Sprecherin der Grünen, formuliert das in der "Zeit" so: "Baerbock und Habeck verbinden Pragmatismus mit dem Bekenntnis zu einer neuen Radikalität, zum Beispiel bei umwelt- oder sozialpolitischen Themen."

Diese Aussage bliebe auch dann noch richtig, würde man Radikalität mit Realität ersetzen. Denn mittlerweile decken sich die grünen Schwerpunkte mit dem, was viele Menschen in Deutschland von zukunftsgewandter Politik erwarten.

Gerade erst bekamen das die Christsozialen in Bayern zu spüren, die ihren Landtagswahlkampf primär auf das Thema Flüchtlinge sowie Horst Seehofers "Mutter aller Probleme", die Migration, ausgerichtet hatten.

Politik an den Problemen der Menschen vorbei

Die Wähler konterten und nannten in einer Forsa-Umfrage vom Juni mit 34 Prozent die CSU selbst als das größte Problem Bayerns - weit vor der Flüchtlingsthematik auf Platz zwei (28 Prozent) und dem prekären Wohnungsmarkt (26 Prozent).

Dass sich die Volksparteien beim Thema "Flüchtlinge und Migration" von der AfD treiben ließen, zeigte sich am Widerspruch zwischen monothematischem Wahlkampf und den vielen Themen, die die Wähler laut Emnid-Umfrage tatsächlich bewegten - und immer noch bewegen.

Die Zuwanderung schaffte es hier nur auf Platz 17. Bildungspolitik, Klimawandel und zahlreiche Themen aus dem Bereich der sozialen Gerechtigkeit wurden als weitaus relevanter gewichtet. Daran hat sich auch ein Jahr später wenig geändert.

Wenn sich Wahlerfolge der Grünen zum Trend entwickeln, könnten sie für eine breite bürgerliche Mitte für einen neuen Optimismus stehen, dass Deutschland in seiner Gesamtheit eben doch nicht nach rechts ruckt, wie nach Chemnitz und Köthen gemutmaßt – quasi als Widerspruch zu den Wahlerfolgen der AfD.

Groko-genervtes Wahlvolk

Viele Wähler in Deutschland haben die Kausalität zwischen Klimawandel, Globalisierung, Rüstungsexporten und Migration schließlich längst erkannt.

Sie scheinen genervt von Zugeständnissen der Politik an die deutsche Automobilindustrie, die sich unter Androhung von Arbeitsplatzabbau vor der eigenen Verantwortung für die Diesel-Betrügereien drücken darf.

Den Menschen fehlt das Verständnis, warum Deutschland enorme Strommengen ins Ausland exportiert, beim Verzicht auf klimafeindliche Braunkohle aber plötzlich alle Lichter ausgehen sollen.

Die Bürger nehmen Absichtserklärungen zur Bekämpfung von Fluchtursachen nicht ernst, solange Deutschland weiter Waffen in Krisenregionen liefert.

Und sie empören sich über verfallene Schulen, Straßen, Brücken und den verschleppten Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und der Digitalisierung, während zunächst ein christdemokratischer und nun ein sozialdemokratischer Finanzminister auf enormen Steuereinnahmen sitzt wie auf einem Drachenhort.

Die Grünen profitieren von dieser drögen Politik des Verwaltens statt Gestaltens, weil sie sich als interessante Alternative anbieten und mittlerweile "von vielen in der gesellschaftlichen Mitte für wählbar gehalten werden", wie Forsa-Chef Manfred Güllner in der "Welt" betont.

Annalena Baerbock bestätigt diese Einschätzung, wenn sie erklärt: "Politik heißt für mich, die Gesellschaft in Gänze im Blick zu haben."

Grüne formatieren die Festplatte der Politik

Die Partei gewann am vergangenen Wochenende in Bayern über eine halbe Million Wähler hinzu, sinnbildlich die meisten von der SPD (210.000) und der CSU (180.000). Und es spricht für die gegenwärtige Anziehungskraft der Grünen, dass sie zusätzlich 120.000 Nichtwähler für den Urnengang begeistern konnten.

Vor der Landtagswahl in Hessen wehrt sich die SPD nun tapfer gegen den Trend und liegt noch knapp vor den Grünen. Bundesweit sieht es hingegen anders aus.

Bei der jüngsten "Sonntagsfrage", in der das Stimmverhalten für eine Bundestagswahl simuliert wird, sahen alle Umfrage-Institute die Partei vor der SPD als zweitstärkste Kraft in Deutschland.

"Es spürt doch jeder, dass etwas in Bewegung ist in Deutschland, das viel größer ist, so als würde da eine Festplatte überschrieben", meinte Habeck in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" bereits im März dieses Jahres.

Die Grünen sind dabei, sich gegen den Trend der aussterbenden Volksparteien zu stemmen – als eine Art neue Volkspartei, die sich aus der Asche der alten erhebt. Auch wenn die Grünen selbst den Begriff als Anachronismus bezeichnen.

Ob nun aber Volkspartei, Plattform, Bewegung oder Bündnis, eines ist klar: Wer hoch aufsteigt wie Phoenix, der kann auch tief fallen wie Ikarus.

Die Erwartungen und Vorschusslorbeeren müssen die Grünen in Regierungsverantwortung auf Bundesebene erst noch bestätigen. Doch mit dem neuen Führungspersonal traut man ihr das mit Blick auf 2021 durchaus zu.

Bayern und wohl auch Hessen senden mit dem Wählerwillen vorab schon mal ein Signal: Grün bedeutet für viele wieder Hoffnung. Oder mit Katrin Göring-Eckardt: "Wieder der heiße Scheiß der Republik".

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