• Noch nie hat jemand mehr Stimmen bei der Wahl zum Parteivorsitz der Grünen geholt als Annalena Baerbock.
  • Die 40-Jährige hat die Partei geeint und könnte die jüngste Regierungschefin in Deutschlands Geschichte werden.
  • Doch nach einem anfänglichen Umfragehoch steht Baerbock nun durch Plagiatsvorwürfe und Ungenauigkeiten im Lebenslauf unter Druck.

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Die Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, hat einen rasanten Aufstieg hinter sich. Mit 28 Jahren wird sie Landesvorsitzende in Brandenburg, mit 32 folgt der Einzug in den Bundestag. Nur fünf Jahre später übernimmt sie gemeinsam mit Robert Habeck die Parteispitze der Grünen. Dabei erhält sie bei der Wahl zum Parteivorsitz so viele Stimmen, wie noch niemand vor ihr. Baerbock wird mit 97 Prozent, Habeck "nur" mit 90 Prozent der Stimmen ins Amt gewählt.

Baerbock habe Habeck erst sehr kurzfristig über ihre Ambitionen informiert und ihn damit unter Zugzwang gesetzt. Er musste einen Tag früher als geplant an die Öffentlichkeit treten. "Anfangs dachte ich: Die drängelt ja ganz schön. Aber Annalenas Kraft ist ein Vorwärtsdrang. Auf dem Parteitag Anfang 2018 hat Annalena eine bombastische Rede gehalten", sagt Habeck über seine Kollegin im Januar 2020 der "taz".

Annalena Baerbock: Kanzlerkandidatin der Grünen gilt als akribische Arbeiterin

Im Gegensatz zu Habeck, der mediale Inszenierungen mag, lässt sich Baerbock nur ungern fotografieren. Sie gilt als akribische Arbeiterin, Parteikollegen erzählen sich, sie könne sogar im Schlaf aus dem Kohleausstiegsgesetz zitieren. Nach ihrem großen Sieg bei der Wahl in die Parteispitze der Grünen schloss sie sich nicht den Feierlichkeiten an, sondern zog sich mit einer "Cola Light“ auf ihr Zimmer zurück, um sich durch die nächsten Dokumente zu arbeiten.

"Sie fällt auf durch eine extrem gute Vorbereitung, sie wirkt sehr kompetent, zugleich wirkt sie dynamisch, sie hat eine sehr unmittelbare Art, das Publikum anzusprechen", erklärt dazu die Publizistin Liane Bednar im "Deutschlandfunk Kultur". So wundert es auch nicht, dass Baerbock ihr erstes Interview als Kanzlerkandidatin nicht den öffentlich-rechtlichen Sendern ARD oder ZDF, sondern dem Privatsender Pro 7 gab, um so ihr Image als "die Neue" zu bespielen.

Annalena Baerbock: "Ich trete an für Erneuerung"

Trotz "Quotenreinfall" ("Focus") lag der Marktanteil laut "dwdl.de" in der Zielgruppe junger Menschen mit 8,5 Prozent mehr als doppelt so hoch wie beim Gesamtpublikum. Den Vorwurf fehlender Regierungserfahrung, der auch im Interview mit Pro 7 zur Sprache kam, nutzt Baerbock für ihr Narrativ der Erneuerung: "Ja, ich war noch nie Kanzlerin, auch noch nie Ministerin. Ich trete an für Erneuerung. Für den Status quo stehen andere", sagte sie in ihrer Rede zur Kanzlerkandidatur. Obwohl sie in der Partei als "Realo" gilt – unter anderem forderte sie gegenüber der "Süddeutschen Zeitung" eine Stärkung der Bundewehr – blieb der Klimaschutz in ihrer Antrittsrede das zentrale Motiv. Blickt man auf ihren Lebenslauf, verwundert das kaum.

Baerbock wächst mit zwei Schwestern in der Nähe von Hannover auf, ihre Eltern nehmen sie auf Anti-Atom-Demos mit und sie kommt früh mit grünen Themen in Berührung. Sie springt Trampolin auf Leistungssportniveau, bis sie eine Verletzung stoppt. Als Schülerin verbringt sie Zeit an einer Highschool in Florida, nach dem Abitur studiert sie Öffentliches Recht und Politikwissenschaften in Hamburg, im Jahr 2005 schließt sie ihr Masterstudium in Völkerrecht an der London School of Economics ab.

Kretschmann über Baerbock: Ost-Erfahrung ist ein Vorteil

Internationale Erfahrung kann man Baerbock also nicht absprechen, schließlich ist sie außerdem Mitglied der "Young Global Leaders"-Gesellschaft des World Economic Forums (WEF) und hat durch die Arbeit im Büro der Europaabgeordneten Elisabeth Schroedter Erfahrung in europäischer Politik gesammelt. Darüber hinaus arbeitete sie von 2008 bis 2009 als Referentin für Außen- und Sicherheitspolitik für die Bundestagsfraktion ihrer Partei.

In der aktuellen Legislaturperiode 2017-2021 ist Baerbock als stellvertretendes Mitglied in den Ausschüssen für Wirtschaft und Energie, sowie für Familie, Senioren, Frauen und Jugend tätig. Ihre Erfahrungen als Parteivorsitzende des Landesverbandes der Grünen in Brandenburg (2009-2013) rechnet ihr der Ministerpräsident Baden-Württembergs, Winfried Kretschmann, laut Deutscher Presser-Agentur als Stärke an: "Sie ist eine Frau aus dem Westen, die aber im Osten seit vielen Jahren Politik gestaltet. Sie ist gewissermaßen die personifizierte Überwindung des Ost-West-Konfliktes."

Fischer: Baerbock "hat die Fähigkeiten" – aber Grün-Rot-Rot unrealistisch

Der ehemalige Grünen-Politiker Joschka Fischer hält große Stücke auf Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock. "Sie hat die Fähigkeiten", sagt der frühere Außenminister. Dass es nach der Bundestagswahl zu einer Grün-Rot-Roten Koalition kommt, hält Fischer jedoch für unrealistisch.

Ex-Innenminister über Baerbock: "Diese Frau beeindruckt mich"

Kretschmann sieht auch kein Problem in der fehlenden Regierungserfahrung: "Die hatte ich auch nicht, als ich 2011 zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Und ich glaube, ich mache es nicht ganz so schlecht." Baerbock selbst verweist gerne auf die neuseeländische Regierungschefin Jacinda Ardern, die ebenfalls ohne Regierungserfahrung an der Spitze ihres Landes steht. Dasselbe traf seinerzeit auch auf Ex-US-Präsident Barack Obama zu.

Zudem gilt Baerbock in der Partei als gut vernetzt und konnte sich bei den gescheiterten Jamaika-Sondierungen im Jahr 2017 einen Namen machen. Ex-Innenminister Thomas de Maizière (CDU) sagte im Podcast der "Zeit" über sie: "Diese Frau beeindruckt mich. Ich habe Frau Baerbock erlebt bei den Sondierungsverhandlungen und da hat sie einen sehr guten Eindruck gemacht, sehr informiert, zum Punkt."

Kanzlerkandidatin Baerbock unter Beschuss: Verspätete Zahlungsmeldungen

Auf die Frage der "Bild", ob sie die Nervenstärke, Ausdauer bei Verhandlungen, sowie die psychischen und physischen Kräfte für das Kanzleramt habe, antwortet Baerbock: "Ja, diese Faktoren braucht man alle. Und glauben Sie mir: Drei Jahre als Parteichefin, Abgeordnete und Mutter kleiner Kinder stählen ziemlich. Und für alle, die gerade im Gespräch sind, gilt: Niemand ist als Kanzler vom Himmel gefallen. Alle müssten im Amt dazu lernen."

Die besagte Nervenstärke ist auch bitter nötig. Denn seit ihrer Nominierung ist Baerbock nach und nach unter Beschuss geraten. Zuerst hatte sie Sonderzahlungen der Partei zu spät an den Bundestag gemeldet. In der Debatte um die zu spät gemeldeten Nebeneinkünfte hatte die Spitzenkandidatin der Grünen ihren Fehler auch eingeräumt: "Das war ein blödes Versäumnis", erklärt sie dem "ARD-Hauptstadtstudio". Doch damit nicht genug.

Annalena Baerbock: Ungenauigkeiten im Lebenswurf und Plagiatsvorwürfe

In ihrem Lebenslauf tauchten Ungenauigkeiten bezüglich der Mitgliedschaften in verschiedenen Organisationen auf. Baerbock entschuldigte sich und gab den Fehler zu: "Das war Mist", kommentiert sie gegenüber der "dpa". Und auch ihr Promotionsstipendium der Heinrich-Böll-Stiftung sorgte für Schlagzeilen. Baerbock hat die Stiftung nun laut "Bild" gebeten, ihr Stipendium erneut zu prüfen. Die Promotion selbst hatte sie nicht abgeschlossen.

Am schwersten wiegen aber wohl die Plagiatsvorwürfe, denen sich Baerbock wegen ihres Buches "Jetzt. Wie wir unser Land erneuern" ausgesetzt sieht. Bei dem Buch handelt es sich allerdings nicht um einen akademischen Text. Der österreichische Medienwissenschaftler Stefan Weber wirft ihr dennoch vor, abgeschrieben zu haben. Sie habe Formulierungen aus anderen Veröffentlichungen übernommen: "Und wenn man es genau nimmt, handelt es sich auch um mehrere Urheberrechtsverletzungen," so Weber in seinem Blog.

SPD-Kanzlerkandidat Scholz zu Kritik an Baerbock: "Ein bisschen übertrieben“

Die Grünen schalteten daraufhin den auf Medienrecht spezialisierten Rechtsanwalt Christian Schertz ein und gingen zum Gegenangriff über: "Wir wehren uns dagegen, dass Kleinigkeiten aufgebauscht werden – das ist sicherlich auch der Versuch, von den großen Debatten abzulenken," so Bundesgeschäftsführer Michael Kellner gegenüber dem "ARD-Hauptstadtstudio". Unterstützung erhält Baerbock auch von SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz, mit dem Sie auch um ein Direktmandat für den Bundestag im Wahlkreis Potsdam konkurriert.

Im Wahlkampf werde zwar genauer hingeschaut, doch "trotzdem finde ich die Kritik im Fall von Frau Baerbock ein bisschen übertrieben," so Scholz laut "dpa". Die Union hatte zuletzt noch vor ihrem eigenen Wahlprogramm eine Argumentationshilfe für Abgeordnete gegen das grüne Wahlprogramm veröffentlicht. Die Christdemokraten sehen wohl – trotz der mittlerweile gesunkenen Umfragewerte – die Grünen weiterhin als Hauptgegner bei der Bundestagswahl.

Verwendete Quellen:

  • bild.de: Baerbock lässt ihr Doktor-Stipendium prüfen
  • bild.de: Kommt Deutschland 2021 noch an den Grünen vorbei, Frau Baerbock?
  • deutschlandfunkkultur.de: Baerbock als Kanzlerkandidatin. Dynamisch, kompetent, gut vorbereitet
  • dpa
  • Dwdl.de: "Chernobyl" verliert nach Baerbock viele Zuschauer
  • focus.de: Am Ende klatschen Moderatoren für Baerbock – doch Interview wird zum Quoten-Reinfall
  • plagiatsgutachten.com: Plagiatsvorwurf gegenüber Annalena Baerbocks Buch "Jetzt. Wie wir unser Land erneuern"
  • Prosieben.de: Prosieben spezial live. Das Kanzlerkandidat:innen-Interview
  • tagesschau.de: "Das war ein blödes Versäumnis"
  • Tagesschau.de: Nur noch Abwehr
  • taz.de: "Du musst deinen Partner permanent im Blick haben"
  • Zdf.de: Dieses Land braucht einen Neuanfang
  • Zeit.de: Podcast: Alles gesagt? Thomas de Maizière, was ist heute konservativ?
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