Die letzte Landtagswahl in Thüringen liegt bereits mehr als drei Monate zurück. Das ostdeutsche Bundesland hat aber bis heute keine neue Regierung. Dieser Zustand soll sich mit der bevorstehenden Ministerpräsidentenwahl am 5. Februar ändern. Die Umstände sowohl der Wahl als auch der anschließenden Regierungsarbeit sind aber verzwickt.

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Amtsinhaber Bodo Ramelow von der Linken stellt sich zur Wiederwahl als Regierungschef von Thüringen. Die Wähler haben dem bisherigen rot-rot-grünen Bündnis eigentlich eine Absage erteilt. Linke, SPD und Grüne kommen gemeinsam auf weniger als die Hälfte der Sitze im Thüringer Parlament. Ramelow strebt dennoch eine Minderheitsregierung mit den bisherigen Bündnispartnern an.

Bei der Ministerpräsidentenwahl kann er in den ersten beiden Wahlgängen aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Parlament nicht mit einer Wiederwahl rechnen - vier Sitze fehlen zur absoluten Mehrheit.

Im dritten Wahlgang ist nur noch die relative Mehrheit erforderlich. Gewählt ist dann laut Verfassung derjenige, der "die meisten Stimmen erhält". Unter Juristen umstritten ist, was das bei nur einem Kandidaten bedeutet: Wäre Ramelow auch mit mehr Nein- als Ja-Stimmen gewählt?

Und selbst wenn er diese Hürde nimmt, bleibt das nicht die einzige Tücke bei der bevorstehenden Regierungsbildung. Wir haben den Regierungsforscher Stephan Bröchler von der Humboldt-Universität zu Berlin zu den Besonderheiten der aktuellen Situation in Thüringen befragt.

Herr Bröchler, was ist der Hintergrund der Streitfrage, ob Bodo Ramelow im dritten Wahlgang mit mehr Nein- als Ja-Stimmen gewählt werden kann?

Stephan Bröchler: Es geht um die entscheidende Frage, ob Bodo Ramelow rechtmäßig zum Ministerpräsidenten Thüringens gewählt werden kann. Denn der Koalition aus Linke, SPD und Grünen fehlen vier Stimmen zur Erreichung der absoluten Mehrheit im Landtag in Erfurt. Nach Artikel 70 der Landesverfassung Thüringens benötigt der Kandidat im ersten und zweiten Wahlgang jedoch genau diese Mehrheit der Mitglieder des Landtags. Das wären 46 von 90 Stimmen.

Erst im dritten Wahlgang senkt die Verfassung die Hürde. Gewählt ist dann, wer "die meisten Stimmen erhält". Wie diese Formulierung auszulegen ist, wenn es nur einen einzigen Kandidaten gibt, wird unterschiedlich bewertet.

Aus der Logik des zugrunde liegenden Meiststimmenverfahrens lässt sich meiner Ansicht nach überzeugend begründen, dass in einem solchen Fall die Zahl der Ja-Stimmen den Ausschlag gibt. Ramelow wäre mit den Stimmen seiner Minderheitskoalition im dritten Wahlgang zum rechtmäßigen Minderheitsministerpräsidenten des Freistaates Thüringen gewählt.

Inwiefern verändert es die Situation, wenn die AfD wie angekündigt einen Gegenkandidaten aufstellt?

Für den Fall, dass die AfD aus den eigenen Reihen einen Gegenkandidaten aufstellt, ändert sich die Bedeutung von Ja- und Nein-Stimmen. Haben die Parlamentarier die Wahl zwischen mindestens zwei Kandidaten, so zeichnet das Wahlergebnis ein eindeutiges Bild von Gewinner und Verlierer.

Aufgrund der Mehrheitsverhältnisse ist die AfD jedoch ohne Chancen, einen eigenen Kandidaten aus den Reihen der Partei durchzubringen, da sie nur 22 Mandate besitzt. Die AfD könnte realistischerweise nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, eine ganz erhebliche Zahl von "Leihstimmen" von CDU und FDP zu erzielen, etwa im dritten Wahlgang.

Wenn eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung zustande kommt und diese von keiner Oppositionspartei toleriert wird: Wie werden Gesetzesvorhaben dann konkret umgesetzt?

Gelingt es Ramelow und seiner Koalition nicht, parlamentarische Mehrheiten für Gesetzesinitiativen zu organisieren, dann ist die Minderheitsregierung handlungsunfähig. Die Chance, dass es Rot-Rot-Grün gelingt, projektbezogen Mehrheiten zu erarbeiten, ist jedoch realistisch.

Zwar haben CDU und FDP sich klar positioniert, die Minderheitsregierung weder zu tolerieren noch selbst Regierungsämter zu übernehmen. Doch der Landesvorsitzende der CDU Thüringens Mike Mohring hat bereits einen Katalog von 22 Themen vorgelegt, die er mit der Minderheitskoalition verhandeln möchte.

Welche Bereiche werden überhaupt auf Landesebene geregelt? Wo spielt die Regierungsarbeit in Erfurt noch eine Rolle?

Wie in allen Bundesländern spielt im deutschen Föderalismus auch die Landesregierung Thüringens sowohl auf Landes- wie auf Bundesebene eine wichtige Rolle. Allein zuständig für die Gesetzgebung ist nach dem Grundgesetz ein Bundesland wie Thüringen vor allem für die Bereiche Schule und Bildung, Kultur, Polizei- und Kommunalrecht wie auch für Presse und Rundfunk.

Doch in Deutschland sind Bund und Länder eng miteinander verflochten. Deshalb hat das Land Thüringen auch bei der Aufteilung der weiteren Gesetzgebungskompetenzen ein gewichtiges Wort mitzusprechen.

Zudem kommt der Landesregierung von Thüringen erheblicher politischer Einfluss als Mitregent in der Bundespolitik durch den Bundesrat zu. Denn über alle Gesetze des Bundes entscheidet die Regierung in Erfurt mit ihren vier Stimmen im Bundesrat mit.

Gesetze, die unsere Verfassung ändern, die in bestimmter Weise Folgen auf die Finanzen der Länder haben oder die in Verwaltungshoheit der Länder eingreifen, können ohne die Zustimmung der Länderkammer gar nicht in Kraft treten.

In der vergangenen Wahlperiode betrug der Anteil dieser Zustimmungsgesetze knapp 36 Prozent. Das Gewicht der Stimmen Thüringens wiegt umso mehr, weil die GroKo im Bundesrat über keine Mehrheit verfügt. Die drei großen Schwesterkoalitionen aus Union und SPD in den Ländern (Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und im Saarland, Anm. d. Red.) kommen insgesamt gerade einmal auf zwölf von 69 Stimmen.

Damit die Bundesregierung Gesetze durch den Bundesrat bringen kann, sind deshalb auch die Stimmen Thüringens begehrt, um die erforderliche Mehrheit von 35 Stimmen der Länder zu erreichen.

Sind Szenarien denkbar, in denen eine Regierung unter Ramelow auf die Unterstützung der AfD angewiesen wäre?

Die Vorstellung, dass sich die rot-rot-grüne Minderheitsregierung ausgerechnet auf die Stimmen der AfD stützt, um Regierungsvorhaben durchzusetzen, erscheint auf den ersten Blick ausgeschlossen.

Unwahrscheinlich ist tatsächlich eine aktive Einladung, an Gesetzen mitzuwirken. Nicht so eindeutig ist der Fall, wenn die AfD als passiver Mehrheitsbeschaffer ins Spiel kommt.

Warum werden Minderheitsregierungen in Deutschland nach Möglichkeit gemieden, während sie in skandinavischen Ländern nicht unüblich sind?

Minderheitsregierungen sind für reife liberale Demokratien kein Ausdruck für einen Notstand der Demokratie. Es geht nicht um Fluch oder Segen. Die Erfahrungen mit Minderheitsregierungen in mehreren europäischen Nachbarstaaten und in einzelnen Bundesländern in Deutschland zeigen, dass sich Minderheitsregierungen durchaus als handlungsfähig erwiesen haben.

Daraus abzuleiten, dass Minderheitsregierungen gegenüber Mehrheitsregierungen überlegen sind, ist aus politikwissenschaftlicher Sicht jedoch verfrüht und nicht zu belegen. Bei den Befürwortern ist viel Wunschdenken im Spiel. Die Frage, wie sinnvoll eine Minderheitsregierung tatsächlich ist, hängt stets von den konkreten politischen Bedingungen des Einzelfalls ab.

Problematisch in Thüringen ist, dass die Minderheitsregierung eine Notlösung darstellt. Die parlamentarische Demokratie Deutschlands befindet sich auch in Thüringen im Stress. Das Ergebnis der Landtagswahlen vom 27. Oktober 2019 ist Ausdruck eines polarisierten Parteienwettbewerbs, der zu einem fragmentierten sechsgliedrigen Fraktionenparlament geführt hat.

Die Folge ist eine blockierte Regierungsbildung, in der sich rot-rot-grün wie auch CDU und FDP von der in Teilen rechtsextremen AfD abschotten und zugleich CDU und FDP eine Regierungsbeteiligung mit der Linken ablehnen.

Können CDU und FDP Neuwahlen erzwingen und müssten sie dafür mit der AfD kooperieren?

Ein klares Nein. Es zeigt sich, dass die Einflussmöglichkeiten von CDU und FDP, auf eine Minderheitsregierung von Ramelow einzuwirken, sehr asymmetrisch verteilt sind. Einerseits haben die beiden Oppositionsparteien erhebliche Gestaltungsmöglichkeiten auf die Politikinhalte der Minderheitsregierung, da Rot-Rot-Grün vier Stimmen zur parlamentarischen Mehrheit fehlen.

Anderseits sind beide Parteien aus eigener Kraft handlungsunfähig, wenn es darum geht, die Regierung durch Neuwahlen aus dem Amt zu bringen. CDU und FDP verfehlen mit lediglich 26 Mandaten bereits das laut Landesverfassung Thüringens erforderliche Drittel der Stimmen (30), um überhaupt einen Antrag zur Auflösung des Landtags zu stellen.

Erst recht ist die erforderliche Zweidrittel-Mehrheit für einen Beschluss zur Auflösung des Parlaments durch die Opposition nicht erreichbar. Selbst wenn CDU und FDP über ihren Schatten springen und gemeinsam mit der AfD für Neuwahlen stimmen, würde die erforderliche Zweidrittel-Mehrheit nicht erreicht.

Zur Person: Prof. Dr. Stephan Bröchler ist Regierungsforscher und leitet aktuell den Lehrstuhl für "Innenpolitik der Bundesrepublik Deutschland" an der Humboldt-Universität zu Berlin.
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