Schon in der Vergangenheit lag die FPÖ in Umfragen lange Zeit weit vor allen anderen Parteien. Der frühere ÖVP-Chef Sebastian Kurz luchste ihnen Stimmen ab, indem er sie kopierte. Das ist seinem Nachfolger Karl Nehammer nicht gelungen. Er wird wohl ein Bündnis mit SPÖ und Neos schmieden – wenn ihn seine Partei lässt.

Eine Analyse
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Darf man Umfragen noch trauen? Die Antwort muss wohl "Jein" lauten.

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Auf den letzten Metern vor der Nationalratswahl schien der Abstand zwischen der weit nach rechts gedrifteten FPÖ und der konservativen ÖVP zu schmelzen. Das legten zumindest einige Prognosen nahe. Platz eins schien für Bundeskanzler Karl Nehammer greifbar. Bei den Bürgerlichen machte das Wort von einem "Foto-Finish" die Runde.

Davon kann nun keine Rede sein. Die FPÖ unter Spitzenkandidat Herbert Kickl wurde zum ersten Mal stärkste Partei in Österreich. Und das nicht einmal knapp: Laut dem vorläufigen Endergebnis inklusive Wahlkartenprognose kommt sie auf 28,9 Prozent, die ÖVP liegt mit 26,3 Prozent deutlich dahinter.

Die Umfragen der vergangenen Tage waren trügerisch. Andere nicht.

Ausgang der Nationalratswahl kann nicht wirklich überraschen

Denn der Ausgang der Nationalratswahl sollte eigentlich kaum jemanden überraschen. Das Ergebnis entspricht im Großen und Ganzen allen Umfragen der letzten zwei Jahre, bei denen der FPÖ von allen Instituten konstant rund 30 Prozent an Wählerpotenzial prognostiziert wurden.

Diese Wahl war keine Momentaufnahme. Die meisten Leute, die für Herbert Kickl stimmten, haben diese Entscheidung wohl schon vor langer Zeit getroffen. Das wurde korrekt vorhergesagt.

Wie aber lässt sich dieser gewaltige Rechtsrutsch erklären, der die österreichische Konsensdemokratie in ihren Grundfesten erbeben lässt?

Kickl ist aus einem anderen Holz geschnitzt als seine Vorgänger an der FPÖ-Spitze, die es in der Regel bei fremdenfeindlicher Rhetorik beließen, sich in Regierungsbeteiligungen aber stets zähmen ließen. Der FPÖ-Chef macht kein Hehl daraus, dass etwa zwischen ihm und dem gesichert rechtsextremen AfD-Mann Björn Höcke kein Blatt Papier passt.

Sein erklärtes Vorbild ist der ungarische Autokrat Viktor Orbán. Auch deshalb hat ÖVP-Chef Nehammer in der Vergangenheit immer wieder ausgeschlossen, Kickl zum Kanzler zu machen oder mit ihm als Minister eine Regierung zu bilden. Eine Ansage, die der konservative Generalsekretär Christian Stocker nach der Wahl mehrfach wiederholte: nicht mit Kickl.

In ganz Europa sind Rechte und Rechtsextreme im Aufwind

Wer nach Ursachen für den Ausgang dieser Wahl sucht, kann die geopolitische Großwetterlage kaum außer Acht lassen. In ganz Europa feiern Rechte und Rechtsextreme Erfolge, in den USA könnte Donald Trump ein weiteres Mal in das Weiße Haus einziehen.

Der Krieg in der Ukraine stärkt die politischen Ränder – erst recht, weil die Sanktionen gegen Russland auch die Bevölkerungen im demokratischen Westen treffen. Dazu kommen die Themen Migration und Asyl. Wie die deutsche Schwesterpartei AfD bewirtschaftet auch die FPÖ Kanäle wie TikTok weitaus professioneller und effektiver als die anderen Parteien. Sie hat einen exklusiven Draht zu vielen Jungen.

Und dann wäre da jenes Thema, mit dem Kickls rasanter Aufstieg in den Umfragen begann: Die konservativ-grüne Bundesregierung hatte als einzige in Europa eine Impfpflicht beschlossen. Das war im Herbst 2021, kurz nachdem der frühere Bundeskanzler Sebastian Kurz den Hut nehmen musste.

Wenn die ÖVP gehofft hatte, damit von dessen zahllosen Skandalen ablenken zu können, dann ist der Schuss gewaltig nach hinten losgegangen. Heute weiß man, dass die niemals umgesetzte Impfpflicht für viele gemäßigte Gegner der Corona-Maßnahmen das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Noch dazu, weil sie im Nationalrat mit den Stimmen aller Parteien außer jenen der FPÖ beschlossen wurde.

FPÖ schöpft politisches Potenzial voll aus

Kickl sprach damals von "Diktatur", er nannte Konservative, Sozialdemokraten, Grüne und Liberale fortan nur noch "Einheitspartei". Er, Kickl, sei der Einzige, der sich einer Verschwörung der Mächtigen in den Weg stelle. Das verfing. Auch im Hinblick auf den Ukraine-Krieg, bei denen alle Parteien außer der FPÖ klar den Aggressor Russland verurteilen.

Aber auch das ist nicht die ganze Wahrheit. Denn tatsächlich konnte die FPÖ bei dieser Wahl ein Potenzial ausschöpfen, das sie in Österreich seit vielen Jahren hat. Schon ab Mitte 2015 – damals führte der Sozialdemokrat Werner Faymann eine weithin unpopuläre große Koalition an – kletterte die FPÖ unter dem damaligen Parteichef Heinz-Christian Strache in Umfragen auf Platz eins.

Mitunter wurden den Rechtspopulisten bis zu 34 Prozent prognostiziert, während Sozialdemokraten und Konservative bei knapp mehr als 20 Prozent dahindümpelten.

Erst Kurz holte die ÖVP aus dem Tief

Das änderte sich erst, als Sebastian Kurz ÖVP-Chef wurde und die ungeliebte Koalition mit den Sozialdemokraten sprengte. Mit einem bis dahin für die österreichischen Konservativen undenkbaren Rechtskurs gelang es ihm, der FPÖ einen großen Teil der Stimmen abzuluchsen. Kurz besiegte die FPÖ, indem er sie kopierte. Als diese schließlich über das Ibiza-Video stolperte, schien es so, als ob die Freiheitlichen erledigt wären.

Aber der Skandal, bei dem Strache einer vorgeblichen russischen Oligarchin Staatsaufträge gegen Parteispenden in Aussicht stellte, sollte auch Kurz zum Verhängnis werden. Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen die FPÖ und weitete die Untersuchungen schließlich auch auf die ÖVP aus. Kurz erhielt zu Jahresbeginn eine noch nicht rechtskräftige Haftstrafe auf Bewährung, weitere Verfahren wegen Korruption stehen noch aus. Bei einer weiteren Verurteilung droht ihm das Gefängnis.

Nehammer fehlt Kurz' politisches Talent

Seinem Nachfolger Karl Nehammer gelang es nicht, die geliehenen FPÖ-Stimmen zu halten. Die Impfpflicht war – wie Nehammer inzwischen einräumt – ein großer politischer Fehler. Und ihm fehlt das politische Verkaufstalent von Sebastian Kurz.

Seine Chancen, Bundeskanzler zu bleiben, sind trotzdem gut. Das wahrscheinlichste Szenario ist eine Koalition mit den Sozialdemokraten und den liberalen Neos. Ob es diesem ungleichen Dreierbündnis gegen Kickl gelingt, die Stimmungslage im Land zu drehen, muss sich zeigen.

Aber ausgemacht ist ohnehin noch nichts: Denn das Wahlergebnis der ÖVP ist schlechter als erwartet. Die nächsten Tage werden zeigen, ob sich Nehammer an der Spitze der Partei halten kann. Oder ob am Ende jemand übernimmt, der oder die kein Problem damit hat, die ÖVP als Juniorpartner in eine Regierung unter dem klaren Wahlgewinner Herbert Kickl zu führen.

Eine Brandmauer gegen Rechtsaußen wie in Deutschland gibt es in Österreich nicht. Und zumindest Sebastian Kurz – dem viele in der ÖVP noch immer nachtrauern – sieht Kickl nicht als Gefahr für die Demokratie: "Ich habe keine offenen Rechnungen und Themen mit ihm", sagte er im Juni 2024 dem "Kurier".

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