Schon von weitem fällt das sonnengelbe Gebäude auf. Emmas Kaufhalle übersieht man nicht. Zwei Autos halten auf dem kleinen Parkplatz vor der Tür.

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Aus jedem steigt eine Frau, die eine kauft Eis, die andere fragt nach dem Weg in die nächstgrößere Gemeinde. Susanne Scheuermann zeigt in eine Richtung. "Acht Minuten mit dem Auto", sagt sie.Susanne Scheuermann wäre normalerweise gar nicht hier. Denn Personal braucht dieses Geschäft grundsätzlich nicht. Jedenfalls nicht im Verkauf. Susanne Scheuermann will nur mal vorführen, wie Emmas Kaufhalle funktioniert.

In dem brandenburgischen Örtchen Teschendorf (Löwenberger Land) nördlich von Berlin hat ein besonderes Lebensmittelgeschäft geöffnet. Joghurt, Milch, Fleisch, Eier, Waschmittel, Dosensuppen gibt es hier, Waren wie in jedem Supermarkt und auch zu den üblichen Supermarktpreisen. Sogar Zigaretten und Alkohol kann man kaufen – aus Jugendschutzgründen muss dafür der Personalausweis eingescannt werden.

Aber etwas ist komplett anders. Es gibt keine Regale, an denen man seinen Einkaufswagen entlangfahren kann. Der Verkaufsraum ist leer, bis auf zwei große Displays an der Wand. Ein bisschen wie bei Pfandautomaten sieht das aus, nur die Displays sind größer. Es gibt auch keine Quengelware mit Süßigkeiten an der Kasse. Stattdessen nur zwei Löcher in der Wand, aus denen Förderbänder jeweils auf einen Tresen münden.

Und doch sind die meisten Dinge des täglichen Bedarfs im Angebot, nur die Auswahl ist geringer als im Supermarkt. Anstelle von fünf verschiedenen Sorten Mehl, Apfelsaft, Tomatenketchup und Senf bietet dieses Geschäft jeweils nur eine einzige Marke an.

Der Kunde ist ganz allein im ansonsten leeren Verkaufsraum. Der nahezu vollständige Verzicht auf Menschen macht den Einkauf in Teschendorf zu etwas Besonderem. Kunden wählen am Display aus, zahlen, nehmen ihren Einkauf entgegen und gehen wieder. Alles ohne das Zutun weiterer Menschen. Allein für die Belieferung kommen noch lebendige Personen vorbei, bestücken die Kühlregale, warten die Förderbänder, putzen den Kundenraum.

Aber ist das nicht öde? Andere setzen auf persönliche, freundliche Ansprache, intim wie früher. Hier passiert das Gegenteil: Der Kunde trifft auf eine Maschine, der Einkauf ist absolut anonym. Irgendwie seelenlos? Offenbar nicht. Man muss die Frage nur mal denjenigen stellen, die hier anhalten. "Nö, ist doch super, dass man hier wieder was kriegt." "Öde war’s hier früher." "Rund um die Uhr auf, welcher Supermarkt kann das denn." Das sind Kommentare von Menschen, die an diesem Tag zufällig hier anhalten.

Seit drei Monaten gibt es Emmas Kaufhalle nun. Wir wollten wissen, ob der Laden Kundschaft gefunden hat und ob dies also eine clevere Geschäftsidee in einem immer dünner besiedelten Landstrich ist. Ein Pilotprojekt, das kopiert werden könnte, eine Lösung für Orte, in denen es keine Läden mehr gibt. In Teschendorf jedenfalls hat der letzte Supermarkt vor 13 Jahren geschlossen. Am selben Ort bietet jetzt Emmas Kaufhalle, was man zum Leben braucht – ohne Personal, dafür 24 Stunden am Tag. Wie ein Automat.

Für Nachschub sorgen 13 automatische Kühlregale.
Für Nachschub sorgen 13 automatische Kühlregale. © Benjamin Pritzkuleit/Berliner Zeitung

Der vollautomatische Supermarkt hat jedenfalls die Erwartungen ihrer Betreiber bereits übertroffen. "Es läuft super", sagt Susanne Scheuermann. Die Nachfrage sei viel größer als gedacht. Mehr als 5000 Einkäufe haben sie in den drei Monaten registriert. Es gibt Expansionspläne. Ganz konkret sogar. Im Frühjahr soll eine Filiale in Sommerfeld aufmachen. Ebenfalls ein kleiner Ort ohne eigene Lebensmittelversorgung.

Das System ist eigentlich recht einfach. Susanne Scheuermann geht auf eins der großen Displays zu, eröffnet auf einem Touchscreen einen Kaufvorgang, lädt Waren in einen virtuellen Warenkorb wie beim Onlinehandel, hält eine Geldkarte davor und nach einer kurzen Weile transportiert ein Förderband die ausgewählten Stücke in die Ablage wie im Supermarkt hinter der Kasse.

Susanne Scheuermann ist 38 Jahre alt und Betriebswirtin mit Erfahrung im Lebensmittelgroßhandel. Ihr Geschäftspartner Christian Lambeck, 32 Jahre alt, ist Inhaber einer Gebäudereinigungsfirma. Aber es sind noch mehr Menschen beteiligt.

Emmas Kaufhalle in Teschendorf hat durchgehend geöffnet.
Emmas Kaufhalle in Teschendorf hat durchgehend geöffnet. © Benjamin Pritzkuleit/Berliner Zeitung

Susanne Scheuermann hat an diesem Tag ihre kleine Tochter und ihren Mann mitgebracht. Sie kann nicht lange bleiben. Bald will sie das zweite Kind aus der Kita abholen. Der Mann kommt aus dem Lebensmitteleinzelhandel, ist also ebenfalls aus der Branche. Während das kleine Mädchen durch den Verkaufsraum tappst, schildern beide mit sichtlicher Begeisterung, wie dieses Projekt zustande gekommen ist und wie es funktioniert. Ein Bild entsteht, das diese Geschäftsidee mit einer persönlichen Note versieht. Hier haben offenbar professioneller Hintergrund und eigene Bedürfnisse zusammengefunden und den Antrieb zu einem Unternehmen gegeben, das für viele Menschen die Situation in einem entvölkerten Landstrich verbessern kann.

Dazu passt die Entstehungsgeschichte. Zwei Familien sitzen an einem Sonntagnachmittag zusammen auf der Terrasse eines Einfamilienhauses im Speckgürtel Berlins und beschließen spontan zu grillen. Der Kühlschrank sei leer gewesen und die einzige Einkaufsmöglichkeit eine teure Tankstelle in der Nachbarschaft mit den dort üblichen abgepackten Produkten von eher minderer Qualität, erzählen die Scheuermanns. "Wir haben uns den ganzen Abend darüber unterhalten, dass es doch auch anders gehen müsste und wie das sein könnte", sagt Susanne Scheuermann. Als Nächstes stellten sie sich die Frage, wie so etwas noch weiter draußen auf dem Land wäre, wo es oft ja nicht mal eine Tankstelle in erreichbarer Nähe gebe.

Orte wie Teschendorf zum Beispiel: klein, etwas über 800 Einwohner, eine gotische Kirche, ein Straßendorf an der B96. Der Ort hat einen Bäcker und einen Hofladen, einen Supermarkt hat er nicht. Susanne Scheuermanns Geschäftspartner Christian Lambeck stammt aus dem Nachbarort. So kamen sie auf Teschendorf. "Wir waren dann jedenfalls recht schnell bei Automaten", sagt Susanne Scheuermann.

Das war im August 2023. Eine Firma gründeten sie im Dezember. Die Eröffnung war für den 1. April geplant. Das musste dann noch einmal verschoben werden, weil keine passenden Förderbänder lieferbar waren. Auch die übrige technische Lösung brauchte eine Weile. Denn das Kernstück des Ladens befindet sich natürlich hinter dem Display: Es sind 13 Kühlautomaten mit 700 Artikeln.

Susanne Scheuermann öffnet eine Tür in den hinteren Bereich des Gebäudes. Dort stehen die Kühlregale in zwei Reihen. Sobald ein Kunde seine Bestellung aufgegeben und bezahlt hat, fangen die Automaten an zu arbeiten. Ein Lift fährt am Regal hoch, ein Schieber kippt das entsprechende Produkt heraus, der Lift senkt sich und kippt die Ware aufs Förderband. Das Band transportiert die Ware dann nach vorn.

Mittlerweile gibt es in Emmas Kaufhalle auch regionale Artikel von den Bauernhöfen der Umgebung: frische Milch, Wurstwaren, Fleisch aus der Direktvermarktung, Wild. Nicht zu vergleichen mit dem abgepackten Fleisch von der Tankstelle. Das sei eine Frage der Überzeugung gewesen, sagen die Scheuermanns. Anfangs hätten die Bauern gezweifelt. Sie haben dann einfach eine Palette Leberwurst gekauft und ins Regal gestellt. Als die Gläser schon nach einer Woche verkauft waren, hätten die Bauern ihre Meinung geändert. Mittlerweile liefern sie regelmäßig – sogar Eier. Das allerdings sieht lustig aus. Damit die Eier nicht kaputtgehen, packt der Lieferant ein bisschen Stroh mit in die Eierkartons. Damit Kunden ihre Wünsche äußern können, haben sie eine Tafel aufgehängt. Hafermilch wollte jemand. Die gibt es nun auch.

Die Kunden kämen mittlerweile zu allen Tageszeiten, erzählen die Scheuermanns. Sogar nachts. Weil sie herausfinden wollten, wer nachts einkaufen geht, haben sie sich einmal auf die Lauer gelegt. Es seien Mitarbeiter von Pflegediensten, der Polizei und aus Rettungswagen, die zu diesen Uhrzeiten kommen, und natürlich wirft zu allen Tageszeiten auch Transitverkehr auf der B96 ein paar Kunden ab.

Tomaten, Salat, Getränke: Nur die Eier müssen in etwas Stroh gepackt werden.
Tomaten, Salat, Getränke: Nur die Eier müssen in etwas Stroh gepackt werden. © Benjamin Pritzkuleit/Berliner Zeitung

Am meisten erstaunt war die Crew von Emmas Kaufhalle aber über die Teschendorfer. Sie hatten es den Ortsbewohnern ja erst mal leicht gemacht und am Eröffnungstag ein Fest veranstaltet, mit Bierwagen, Grill und Hüpfburg. Gekommen seien auch zwei ältere Frauen aus der direkten Nachbarschaft mit Rollatoren und dem festen Willen, schon herauszufinden, ob das Konzept etwas taugt. Und das hat die Unternehmensgründer dann beeindruckt. Ihre Erklärungen zum Bestellen auf dem Display hätten die Frauen nämlich überhaupt nicht hören wollen. Sie hätten es selbst ausprobieren wollen, denn wenn sich die Technik nicht selbst erkläre, würden sie einfach nicht wiederkommen, hätten sie gesagt. Sie kamen aber wieder. "Manche kommen jetzt zweimal täglich, weil sie dann Beschäftigung haben. Sie haben uns gesagt: ‚Endlich müssen wir niemanden mehr bitten, uns zum Einkaufen zu fahren. Endlich können wir wieder selbst einkaufen. Einen Wocheneinkauf brauchen wir jetzt nicht mehr‘", sagt Susanne Scheuermann.

Erstaunlicherweise hätten gerade die Älteren auch sofort nach einer entsprechenden App zum Bestellen gefragt. Von wegen, Ältere könnten mit der Digitalisierung nichts anfangen. Susanne Scheuermann lacht. Die Frauen mit den Rollatoren suchten jetzt ihre Ware bereits zu Hause aus und kämen dann mit dem QR-Code nur noch zum Abholen. Dass sie bei Emma nur mit Karte bargeldlos zahlen können, schreckt sie offenbar nicht ab. Für die meisten ist es wichtiger, dass die Preise nicht höher sind als im Supermarkt.

Vielleicht kommen hier zwei Dinge zusammen, die passen: ein Bedarf und ideenreiche Tüftler, die die nötige Liebe für ihr Projekt mitbringen. Sie haben jedenfalls auch gleich zwei Bierbänke und einen Tisch vor die Tür gestellt, sodass man vor dem Laden auch sitzen und klönen kann. Morgens säßen dort nun Mütter, die ihre Kinder in die Kita gebracht haben, und frühstückten, nachmittags Schulkinder. Mittlerweile gibt es offenbar auch zwei Stammtische: mittwochs die Älteren mit Bier und Aperol Spritz, donnerstags kämen die Jüngeren, sagen die Scheuermanns. Und gegen Randale und Einbruch helfe das auch, sagen die Betreiber. "Die Dorfjugend passt auf ihre Emma schon auf", sagt Susanne Scheuermann.

Nach drei Monaten ist das Geschäft noch nicht profitabel. Sie haben 200.000 Euro investiert, das Gebäude angemietet und renoviert. In drei Jahren wollen sie Gewinn machen. Dass das geht, davon sind die Kaufhallen-Betreiber überzeugt. Mittlerweile sind es offenbar auch die Banken. In Teschendorf hätten sie privates Geld gebraucht, sagen die Scheuermanns, für das neue Geschäft in Sommerfeld, wo Technik und Verkaufsraum in einem Container installiert werden sollen, gebe es jetzt Finanzierungszusagen.

Mittlerweile gebe es auch Anfragen von anderen Bürgermeistern und Ortsvorstehern, die auch so eine automatische Kaufhalle wollen. Einen Bedarf gibt es also. Aber Neugründer müssten natürlich auch eine gewisse Risikobereitschaft für so ein Projekt mitbringen, sagen die Scheuermanns.

Dass das Projekt so gut läuft, freut die Betreiber. Aber da ist noch mehr. Fragt man bei der Gemeinde Löwenberger Land nach, heißt es, der Laden habe Potenzial zu einem echten Game Changer, er sei zum Treffpunkt geworden in dem kleinen Ort. "Wir sind absolut glücklich mit dem Konzept", sagt ein Sprecher. Die Gemeinde hält Emmas Kaufhalle für ein Zukunftsprojekt und hofft, dass es viele Nachahmer findet.

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In Sommerfeld plant man genau das. Sebastian Busse, der zuständige Bürgermeister in Kremmen, sagt: "Die Stadt Kremmen setzt sich mit all ihren Möglichkeiten ein, dieses Projekt zu verwirklichen, um gerade für die älteren Menschen aus den Ortsteilen Sommerfeld und Beetz eine Einkaufsmöglichkeit für die alltäglichen Produkte zu erschaffen." Er hofft auf eine vollautomatisierte Kaufhalle genau wie in Teschendorf, "um vor allem den Älteren wieder etwas Lebensqualität zurückzugeben". Er möchte, dass auch Bänke und Tische aufgestellt werden, damit ein kleiner geselliger Treffpunkt entsteht, "um mal einen Kaffee zusammen zu trinken".

In den vergangenen Jahrzehnten ist die Zahl kleiner Läden in Deutschland um fast 90 Prozent geschrumpft. Jetzt stoßen an vielen Orten Start-ups in die Lücke. Klassische Hofläden setzten auf Nähe und persönliche Ansprache. Die Start-ups setzen auf Automatisierung und wenig Personal. Manche sind dabei schon recht erfolgreich. Die 2018 gegründete Bremer Online-Supermarkt-Kette MyEnso zum Beispiel. Bei diesem Anbieter können sich Kommunen ohne eigene Versorgung bewerben. Bei MyEnso scannen und zahlen Kunden ihre Ware selbst, damit das auch funktioniert, gibt es flächendeckende Videoüberwachung. Mittlerweile gibt es eine Menge solcher Läden in Norddeutschland. Im Unterschied zu Emmas Kaufhalle müssen Kunden sich aber bei MyEnso registrieren und Genossenschaftsanteile erwerben.

Das wollten die Scheuermanns und ihre Partner nicht. "Nee, das erhöht wieder die Schwelle. Einfach rein und einkaufen, selber Preis und gleiche Ware wie woanders auch, kein aufwendiges Registrieren, kein Mitgliedsbeitrag", sagt Susanne Scheuermann. Dann muss sie los, in die Kita, das zweite Kind abholen. Zeit dafür hat sie ja, verkaufen muss sie nicht. Das macht Emma ganz alleine.  © Berliner Zeitung

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