Am Brandenburger Tor stehen ein paar Schauklötze, die zeigen Visionen für die "Straßen für morgen" in ganz Berlin.

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Die Ausstellung präsentiert den Ist-Zustand von zehn Kiezen in West und Ost und verbindet dies mit Ideen für die Zukunft. Am vielleicht krassesten ist der Unterschied zwischen heute und morgen bei der Möllendorffstraße in Lichtenberg. Einer typischen breiten Plattenbaumagistrale aus DDR-Zeiten, die gleich hinter dem S-Bahn-Ring von der Frankfurter Allee nach Norden führt.

Dort fuhren bereits in der DDR die Straßenbahnen entlang, auch sonst hat sich bis heute nicht viel geändert. Viel Grau in Grau, kaum Läden, eine triste Betonwüste. Umso strahlender wirkt die Zukunft der Straße in der Schau am Prachtboulevard Unter den Linden: Alles ist grün. Es gibt eine richtige Allee, Hightech-Öffis. Begrünte Glasblöcke ragen aus den Häusern, und überall sind junge Leute in Cafés oder am Flanieren. Ist das noch Lichtenberg oder schon Saint-Tropez?

Bevor wir in der Straße selbst nachfragen, ob die Leute dort reif sind für so viel gebautes Glück, lassen wir uns den Entwurf erklären. Er stammt von dem vielfach ausgezeichneten Architekten Sergei Tchoban. Die Karriere des heute 62-Jährigen hat einst in Leningrad begonnen. Anfang der 90er kam er nach Deutschland. Heute hat er Büros in Hamburg, Berlin und Dresden. In Berlin wurde etwa die Deutschlandzentrale von Coca-Cola nach seinen Entwürfen gebaut. Die steht am Osthafen. Dort stammt auch das Designhotel nhow aus seinen Skizzenbüchern, dessen oberster Block weit in die Spree hinausragt. In dem Hotel wurde viel Holz verbaut. Deshalb könne man es im Zusammenhang mit der Möllendorffstraße erwähnen, sagt Tchoban.

Der neue Hauptsitz von Vattenfall am Südkreuz ist nach seinen Plänen ebenfalls in "nachhaltiger Holz-Hybrid-Bauweise" errichtet worden. Nun schlägt er so etwas auch für Lichtenberg vor. Wo an der Möllendorffstraße "offene Lücken" klaffen, will er mit Holz, Alu und Glas die "Kanten schließen, damit die Begegnungslinie, wo die Menschen sich entlangbewegen an den Häusern, freundlicher wird".

Dazu eine Allee mit viel Grün, jede Menge Sitzgelegenheiten … – wenn man den Leuten in der Möllendorffstraße die Vision von Sergei Tchoban zeigt, ist das Lob meist kürzer als die Kritik. "Sieht neckisch aus", sagt die junge Verkäuferin im Lotto-Toto-Laden, "ist aber nicht umsetzbar."

Die Neuaufteilung des Bürgersteigs hält sie für aus der Luft gegriffen: "Wenn Sie bei mir aus dem Laden gehen, machen Sie vielleicht sechs Schritte und stehen am Bordstein", erklärt sie und ruft einen Kollegen als Zeugen: "Was sagst du? Ist jetzt einfach mal rumgesponnen, wie das hier aussehen könnte. Allein der Weg von unserer Ladentür bis zur Straße ist niemals so groß, dass Leute da sitzen und laufen können, dann eine Grünfläche, dann noch mal ’ne Fußgängerzone …" – Der Kollege winkt nach einem flüchtigen Blick entnervt ab: "Ach!"

In der Möllendorffstraße in Lichtenberg befindet sich auch das Rathaus des Stadtbezirks.
In der Möllendorffstraße in Lichtenberg befindet sich auch das Rathaus des Stadtbezirks. © imago

Wohl aus Mitgefühl mit den Leichtgläubigen, die Tchobans Entwurf für realistisch halten, schickt die junge Frau noch hinterher, dass das viele Grün "optisch toll" wirke. Und gibt zu: "Mehr Geschäfte wären schon schön."

Die Welt des Eisverkäufers nebenan ist ähnlich klein. Auch er kann sich kaum vorstellen, dass Tchoban den Gehweg "richtig abgemessen" hat. Auf dem Entwurf des Architekten sieht er riesige Sonnenschirme. "Die würden niemals hierhin passen." Er habe für seinen Laden deutlich kleinere bestellen müssen.

Und was die vielen Pflanzen angeht: Er habe für den Außenbereich mal ein paar Blumenkübel beantragt; die seien nicht genehmigt worden. "Also: Es ist ein kleiner Garten Eden. Sehr schön. Aber ein Traum. So wunderbar das für uns als Eisladen wäre – wir können nicht daran glauben."

Die Vorstellungskraft der Leute scheint schnell erschöpft. Vielleicht mögen sie nicht mehr auf eine bessere Zukunft hoffen, um nicht schon wieder enttäuscht zu werden. Die Rentnerin Inge bringt das noch vor dem ersten Blick auf Tchobans Entwurf auf den Punkt: "Alle wollen ständig was verändern! Ist doch gut so, wie es ist." Und dann, nach einer Pause: "Wat heißt jut?" Sie lässt die Frage offen.

Inge ist waschechte Ost-Berlinerin, das waren schon ihre Großeltern. Früher hat sie Spielwaren eingekauft und Schaufenster dekoriert. Nun guckt sie sich mit ihrer Freundin Regina den Entwurf von Tchoban an, als müsste man nur lange genug suchen und würde den Haken dann schon finden. Irgendwann hat sie ihn: "Dann fallen praktisch die Parkplätze weg. Dit is natürlich och scheiße. Nee, dit könn wa vajessen. Wir haben ja hier schon kaum Parkplätze. Wo willste mit dem Auto hin? Ins Wohnzimmer geht ja nicht."

Tatsächlich sind die Parkplätze auf der rechten Spur der Straße bei Tchoban durch einen Radweg ersetzt. Aber darüber ließe sich reden, erklärt er im Gespräch mit der Berliner Zeitung. "Im Endeffekt muss man mit den Verkehrsplanern gucken, wie viele Parkplätze entlang der Straße noch nötig sind."

Ihm sei es darum gegangen, "das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten". Er habe sich an den heutigen Verkehrsströmen orientiert und wolle nichts in der Straße abreißen, nicht mal ein DDR-Hochhaus. "Berlin ist ein wunderbares Geschichtsbuch der Architektur", sagt er. "Und der sozialistische Städtebau hat darin seine Berechtigung."

So weit würde die aufgeräumte Rentnerin nicht gehen, die früher in der Lohnbuchhaltung gearbeitet hat, aber ihren Namen nicht nennen will. Sie ist die Einzige hier, die Tchobans Entwurf kennt. Sonst hat noch niemand davon gehört. Sie aber war am Wochenende bei dem "Lichterdings" am Brandenburger Tor, also beim Festival of Lights, und wurde dort überrascht von der Ausstellung des Architekten- und Ingenieurvereins zu Berlin-Brandenburg (AIV). Ihr erster Gedanke sei gewesen: "Das soll die Möllendorffstraße sein? So sieht die doch gar nicht aus!" Aber gut, mit der Bewahrung der Plattenbauten hat Tchoban bei ihr einen Stein im Brett: "Sehr schön, solange er mein Haus nicht abreißt." Und ihr Lob geht noch weiter: "Modern, neu und schick – nicht so altbacken, wie es jetzt aussieht."

Eine Straßenskizze der Möllendorffstraße von Architekt Sergei Tchoban
Eine Straßenskizze der Möllendorffstraße von Architekt Sergei Tchoban © Sergei Tchoban

Vor allem hätte sie gern mehr Geschäfte in der Straße. "Wobei: Dit lohnt sich ja hier nicht." Entweder haben die Leute kein Geld oder sie bestellen alle per Internet. Selbst in den Einkaufszentren seien immer weniger Geschäfte. Im Ring-Center an der Frankfurter Allee sei "schon fast nüscht mehr drinne", im Eastgate in Marzahn genauso.

Wenn Tchoban sagt, dass die Leute auf der Möllendorffstraße "nicht mehr entlang der ungeordneten Brandmauer" gehen sollten, sondern "entlang der schönen Schaufenster", dann hat er die frühere Lohnbuchhalterin auf seiner Seite. "Mehr soziale Kontrolle, aber auch sozialen Austausch genießen", wie er meint – sie könnte das bestimmt gut.

Aber auch ihr sind "die Parkplätze bisschen wenig" in seinem Entwurf. Und wenn die Presse schon mal da ist: Zu viel sind ihr die Ausländer im Viertel.

Darauf läuft es auch bei der "waschechten" Inge hinaus. "Is’ grün jenuch hier", sagt sie. "Wir sind ’ne Großstadt", ergänzt ihre Freundin. "Die Leute wollen alle ihre Ruhe haben, dann sollen sie aufs Dorf ziehen." – "Gute Idee", findet Inge und kommt auf ihre "Kopftuchallergie" zu sprechen.

So zukunftsmüde die Lichtenberger auch sein mögen, sie werden den Lauf der Dinge kaum aufhalten können. Die Verdichtung des Viertels, den Zuzug von Menschen aus aller Welt, die Aufwertung der Kieze. Für Jüngere erscheint das weniger bedrohlich. Drei angehende Erzieherinnen geraten beim Anblick des Entwurfs von Tchoban in Verzückung. "Oh! Schön! Mehr Pflanzen, weniger Beton – die Idee ist schon cool." Aber auch sie vermissen die Parkplätze "für Leute, die hier arbeiten oder in die Erzieherschule kommen mit dem Auto aus Timbuktu".

Die Mehrheit der zufällig ausgewählten Umfrageteilnehmer würde für den Erhalt der Parktaschen also auf den Radweg verzichten. Aber die Grünstreifen, die den Radweg begrenzen, sind für den jungen Vater Marko das Highlight von Tchobans Entwurf. Da müsste er sich keine Sorgen mehr machen um den Vierjährigen, den er auf seiner Schulter trägt. Der "rast hier richtig lang auf seinem Fahrrad, wenn er gesund ist". Gerade hat er die Grippe.

Nach anfänglicher Begeisterung für den Entwurf überkommen Marko Bedenken, ob sich das ganze Grün bewässern lässt. "Berlin ist so trocken." Und mit Blick auf den leicht futuristischen Minibus in der Bildmitte schiebt er hinterher: "Mit dem autonomen Fahren bin ich skeptisch – bei dem, was man da jetzt gerade wieder hört."

Seiner Frau Silvia scheint die Straße "bisschen zugebaut, sehr voll". Auch sie hätte alles lieber ein paar Nummern kleiner. Vielleicht aus Angst, den Anschluss zu verlieren. Längst seien auch in der Möllendorffstraße schon "genug Wohnungen auf dem Markt, die widerlich teuer sind – für was?", fragt sie gereizt. Optimismus klingt anders.

Tchoban hat seine Zukunftsvision ohne die üblichen Beschwernisse entworfen. Es gab keinen Kostenrahmen, er musste nicht über Baugenehmigungen nachdenken. Beim Glasdach der Straßenbahnhaltestelle hatte er südkoreanische Wartehäuschen-Pergolen im Sinn. Aber er hat den Ball bewusst flach gehalten. Seine Vorschläge sind nicht Science-Fiction, sie wären schnell realisierbar.

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Um die Anwohner mitzunehmen beim Abheben in die bessere Zukunft, wäre noch einige Vertrauensarbeit zu leisten. Auf den ersten Blick haben sie auch nicht so viel Ähnlichkeit mit den Figuren in Tchobans Vision von der Möllendorffstraße. "Das ist einfach so eine erfundene Szene", sagt der Architekt. Der relativ große Reichtum, der äußerst geringe Anteil von Nichtweißen – das alles habe nichts zu bedeuten. "Was dabei rüberkommen soll, ist, dass die Leute in dieser Umgebung zufriedener sein werden und dann auch zufriedener aussehen."  © Berliner Zeitung

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