Soziale Medien: Tiktok und Co. sind Suchtmittel. Sie sollten auch so behandelt werden, meint Frank Dievernich.

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Der Vorstand der Polytechnischen Gesellschaft Frankfurt fordert massive Aufklärung, denn er sieht die Freiheit des Menschen in Gefahr.

Alles Verantwortungsbewusste in der Gesellschaft beginnt damit, im Kollektiv auch bewusst "Nein" sagen zu können. Es geht darum, kollektiv zu entscheiden, was man sich vorschreiben lässt, um ein gedeihendes, gutes und gesundes Leben als gesamte Gesellschaft zu führen. "Nein" zu sagen scheint derzeit eine Fähigkeit zu sein, die gebrandmarkt ist. Alles, was den Charakter einer Grenze vermitteln könnte, wird populistisch in das Abseits eines Verbotes geschoben.

Hoffen wir, dass die ablehnende Stimmung gegenüber Einschränkungen die Talsohle des politisch Durchsetzbaren erreicht hat. Es braucht gerade jetzt die Wiedereinführung und Akzeptanz der Vernunft in Form der Negation. Gerade jetzt, da die gesellschaftliche Dynamik ein Tempo aufgenommen hat, hinter dem der Mensch nurmehr hinterherhecheln kann.

Die Digitalisierung, die sozialen Medien und insbesondere Tiktok zeigen dies in beeindruckender Weise und ohne dass wir dagegen wirklich bewusst ansteuern würden. Will der Mensch also nicht nur Spielball gesellschaftlicher und in diesem Fall digitaler Verhältnisse bleiben, dann braucht er die selbstentschiedene Begrenzung, um seine Unabhängigkeit als Mensch gegenüber der beeinflussenden Dynamik des Digitalen zu sichern. Der Mensch braucht Zeit, um einmal durchatmen zu können und zu seinem eigenen Bewusstsein zu finden.

Wo bleibt der Schrei der Empörung?

Findet diese Begrenzung nicht statt, wird es für den Menschen immer gefährlicher: Die Dynamik, die Inhalte und die Medien der Digitalisierung verändern das vernunftbasierte, freie, reflektierte und konzentrierte Bewusstsein des Menschen sowie seine Fähigkeit zur Empathie. Der Mensch wird, ohne dass er das bewusst entschieden hätte, ein anderer.

Er wird zu einem, der durch die Medien gesteuert wird und mit jedem Verhalten, welches zunehmend seine Abbildung im Digitalen findet, einen Beitrag dazu leistet, in Zukunft noch mehr fremdgesteuert zu werden. Der Mensch, wie wir ihn kannten, schafft sich derzeit mehr oder weniger unmerklich selbst ab. Das ist mittlerweile kein unbekanntes Wissen mehr. Tun wir in aller Deutlichkeit etwas dagegen? Nein.

Im gesellschaftlichen Bereich sind Verbote verpönt, während sie im Privatbereich durchaus als legitim angesehen werden. Das wortwörtlich gefährliche Spiel kleiner Kinder mit dem Feuer wird diesen selbstverständlich untersagt. Auch scheint es gesellschaftlich legitim, Verbote gegen Drogen einzufordern. Wenn es aber, wie aktuell, um eine Sache geht, die den Menschen und vor allem die Kinder und Jugendlichen durch den Medienkonsum aufgrund neuer neuronaler Verknüpfungen im Gehirn nachhaltig strukturell selbst verändert, dann erfolgt kein lauter Schrei nach einem Einhalt.

Wenn es um Einschränkungen geht, wird auf die Entscheidungsfreiheit der Menschen gepocht. Die Frage sei gestattet: Steht die Freiheit des Einzelnen nur so hoch im Kurs, da sie vor allem die freiheitliche Dynamik des Digitalkapitalismus sichert? Eine unverdächtigere Erklärung dieser passiven Haltung gegenüber Einschränkungen könnte aber auch schlichtweg im Unwissen in Bezug auf den Wirkmechanismus der sozialen Medien, dessen Einordnung und/oder dem Unvermögen, Alternativen zum mächtigen Kommunikationsapparat bereitzustellen, liegen.

Die Folgen sind dramatisch

Wie ist also in einer Gesellschaft, die nach der neuesten Studie des Allensbach-Instituts im Auftrag der Telekom-Stiftung die Bildung und die Bildungsgerechtigkeit für das höchste Gut erachtet, zu erklären, dass sehenden Auges die junge Generation sich selbst überlassen und geschädigt wird, ohne dass sich ein Sturm des Protestes und ein breites gesellschaftliches Bündnis für das Sperren bestimmter sozialer Medien, wie zum Beispiel Tiktok, bildet?

Wie ist zu erklären, dass trotz des zunehmenden Wissens über die Funktionsweisen der Algorithmen, die zu einer überhitzten emotionalen psychischen Verfasstheit sowie einem populistischen Wahrnehmen mit entsprechend sozialen Blasenbildungen und Demokratiefeindlichkeiten führen, bislang niemand ernsthaft eine massive Begrenzung dieser Medien einfordert?

Was muss passieren, damit die Stimmen unüberhörbar werden, die fordern, dass Medienkompetenz ganz oben in allen schulischen Curricula auftaucht? Wie viel psychisches Leid, wie viel Ausgrenzung und Mobbing, wie viel Konzentrationsstörungen müssen in den Schulen noch geschehen, bis jemand "Halt" sagt und Schulen, zumindest bis zu einem gewissen Alter, smartphonefreie Zonen werden? Und warum wird, wenn die Diskussion eines Verbotes bei uns aufkeimt, als Erstes mit der organisatorischen Unfähigkeit der Durchsetzung argumentiert?

Dabei dürfte es derzeit nichts Schädlicheres für die psychische Gesundheit junger Menschen geben, als die unreflektierte Digitalisierung mit den sozialen Medien und der damit einhergehenden Tempoverschärfung sowie der Neigung zur negativ aufgeheizten Emotionalisierung. Wir nehmen das alles in Kauf, obwohl die Folgekosten in der psychischen Entwicklung der Kinder noch gar nicht vollends abzuschätzen und dramatisch sind.

Den Wolf im Schafspelz demaskieren

Die Frage, die wir gesellschaftlich mit einer Klarheit und Priorisierung beantworten müssen, ist, wie viel uns, in Geld gesprochen, die psychische, stimmungsmäßige und letztendlich demokratische Verfasstheit unserer Gesellschaft wert ist. Was es uns wert ist, eine solche Begrenzung respektive ein solches Verbot durchzusetzen.

Die Perspektive auf die sozialen Medien, vornehmlich auf Tiktok, dürfte sich massiv verändern, wenn man diese ganz offiziell als Drogen mit entsprechendem Abhängigkeitspotential einstuft. Das kann eine Regierung, der die psychische Gesundheit ihrer Bevölkerung wichtig ist, tun. Massive Aufklärungsarbeit und Prävention wären die notwendigen Folgen.

Gesellschaftlich haben wir uns über die Jahre hinweg darauf geeinigt, dass vor allem der Alkohol den Rang eines Suchtmittels eingenommen hat. Über synthetische Drogen müssen wir erst gar nicht sprechen. Der Verkauf von Alkohol ist bis zu einem gewissen Alter verboten und sein übermäßiger Konsum gesellschaftlich nicht toleriert. Nun müsste es uns doch wohl auch gelingen, diese Logik auf die sozialen Medien, auf Tiktok, zu übertragen.

Dafür muss das Smartphone, das mittlerweile wohl liebste Kind der jungen Deutschen, in gewisser Weise als Mittel mit großem Suchtpotential behandelt werden. Smartphone und soziale Medien sind in Abhängigkeit eines mündigen und selbstreflektierten Alters nur in kleinsten Dosen zu verabreichen und zu konsumieren. Die Schwierigkeit dabei wird sein, nicht nur gegen eine starke Industrielobby anzugehen, sondern gleichzeitig das Smartphone als das Sinnbild der Freiheit infrage zu stellen, den Wolf im Schafspelz zu demaskieren.

Wir verlernen, bei uns zu bleiben

Das Smartphone suggeriert aufgrund des Zugangs zu potentiell jedem Wissen auf der Welt, dass es den Inbegriff der Freiheit darstellt und zudem eine gute Grundlage für intelligentes, informiertes Handeln darstellt. Hinter diesem Schein verbergen sich aber die Algorithmen, die dafür verantwortlich sind, dass der Mensch nur mehr präsentiert bekommt, was vermeintlich aufgrund seines Verhaltens im Netz zu ihm passt.

Das Smartphone mit Medien wie Tiktok ist daher auch als Angriff auf die gesellschaftliche Vielfalt zu sehen. Die politische Herausforderung wird nun sein, dass eine Bevölkerung, dass Eltern eine solche Perspektive auch einnehmen können. Dafür muss man sie ihnen erklären.

Erfolgreich kann dieses Vorhaben nur werden, wenn eine reizvolle Alternative zur Smartphone-Nutzung bereitgestellt wird, die verhindert, dass die Angst vor der Leere ohne Smartphone überhandnimmt. Denn genau das ist das Problem hinter dem Problem: In einer auf das Außen, das Auffallen, fokussierten Gesellschaft wirkt alles beängstigend, was den Menschen auf sich selbst zurückwirft.

Bei uns zu bleiben, verlernen wir zunehmend. Besonders stark dürfte das für die Jugend gelten, ist diese Lebensphase doch eine, die eben durch große Unsicherheit geprägt ist und gleichzeitig dafür steht, große menschliche Nähe und Bindung zu benötigen.

Die Freiheit des Menschen retten

Echte Nähe und Bindung werden durch viele der sozialen Medien jedoch nur suggeriert. Wir sind nicht nur nicht mehr darin geübt, mit uns selbst in Kontakt zu kommen, sondern auch verführen uns die sozialen Medien dazu, die Fähigkeit, mit anderen Menschen im echten Leben eine tragfähige Beziehung einzugehen, zu verlernen.

Zwar schütteln wir den Kopf, wenn ein Vater oder eine Mutter mit einer Flasche Bier in der Hand den Kinderwagen im öffentlichen Raum schieben, jedoch zucken wir noch nicht einmal mehr, wenn diese mit dem Smartphone vor Augen das Gleiche tun und damit dem Kind nicht die wichtige Zuneigung in Form eines Blickkontaktes schenken. Es sind diese Kinder des verminderten echten sozialen Kontaktes, die sich in Zukunft für den gesellschaftlichen Zusammenhalt einsetzen sollen!

Es braucht jetzt die Haltung, Einschränkungen und Verbote einzufordern, wie das aktuell der hessische Kultusminister Armin Schwarz tut oder wie andere Länder, etwa Schweden, es vormachen, sowie die Kraft, diese auch durchzusetzen. Vor allem aber müssen diese Beschränkungen erklärt werden. Dies, weil es darum geht, die Freiheit des Menschen zu retten.

Eine Freiheit, die nicht manipuliert ist und die auf lange Sicht dem Menschen die Hoheit über sein Selbst zurückgibt, ihn selbstwirksam werden lässt und ihn wieder als sozial zugewandtes Wesen erlebbar macht. Es geht darum, dem Menschen seine durch die Digitalisierung und die sozialen Medien abhandengekommene Lebenszeit wieder zurückzugeben.

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Es gibt im echten Leben viel zu tun. Hier kann der Mensch ernsthaft wirken. Mit dieser Zielsetzung muss er angesprochen und dann eingebunden werden. Dieser Deal könnte ihn letztendlich vielleicht doch überzeugen, sein Verhalten zu ändern.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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