Benedict Wells: "Die Geschichten in uns": Eine Hommage an das Schreiben: Benedict Wells stellt gemeinsam mit Musiker Jacob Brass sein neues Buch "Die Geschichten in uns" im Schauspiel Frankfurt vor.

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"Bevor wir hier zu irgendetwas kommen, müssen wir leider durch meine Kindheit. Ich würde es euch gerne ersparen. Sorry!", sagt Benedict Wells zu Beginn seiner Lesung im Schauspiel Frankfurt. Das Interesse an den persönlichen Schilderungen des Autors ist groß, der Saal ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Vom Buch, das unbedingt geschrieben werden muss, hat man schon viele Schriftsteller sprechen hören. Dass ein Buch entsteht, obwohl der Autor entschieden hat, gar keines schreiben zu wollen, weniger. "Die Geschichten in uns" ist ein solches Buch. Wells, der mit Romanen wie "Fast genial", "Vom Ende der Einsamkeit" und "Hard Land" zu einem der meistgelesenen Schriftsteller seiner Generation geworden ist, entschied, eine Schreibpause einzulegen. Eigentlich wollte der 40 Jahre alte Schriftsteller überhaupt nicht mehr schreiben, sondern sich mehr der Wirklichkeit zuwenden. Auch im Nichtschreiben kann man scheitern. Entstanden ist kein Roman, sondern ein sehr persönliches Sachbuch über Wells’ Leben und sein Schreiben. Er gewährt darin nicht nur Einblicke in seine Schreibwerkstatt, etwa indem er ganz praktisch erklärt, wie er sich seinen eigenen Figuren nähert, oder was es braucht, um echtes Interesse an einer Geschichte zu erzeugen, sondern führt auch an Orte seiner Kindheit und Jugend bis hin zu den ersten Veröffentlichungen.

Offenheit und Humor statt Schwermut

Ein Genrewechsel, der insofern überrascht, da Wells es in der Vergangenheit eher vermieden hat, sein persönliches Leben dem Licht der Öffentlichkeit preiszugeben. Wieder steht er gemeinsam mit dem Musiker Jacob Brass auf der Bühne. Ohne Musik sei sein Schreiben nicht denkbar, sagt Wells, sie sei für ihn die Brücke, um sich in seine Figuren einzufühlen. Zwischen Lesestellen spielt Brass sowohl eigene Lieder als auch Coversongs, die Wells begleitet haben, etwa "Last Night" von den Strokes oder "Kaputt" von "Wir sind Helden". Kaputt ist auch vieles in der Welt des fünf Jahre alten Wells, der mit einer bipolaren Mutter aufwächst und einem Vater, der in die Insolvenz abrutscht. Inmitten familiärer Dysfunktionalität sucht er Fehler bei sich, glaubt, funktionieren zu müssen, um nicht alles noch schlimmer zu machen. "Ein Kind, das im Grunde nicht stattfindet", heißt es in einer Passage, die Wells vorliest. An anderer Stelle begleitet man den sieben Jahre alten Wells im Grundschulheim in Bayern, nachts auf der Toilette lesend, während alle anderen Kinder schlafen. Astrid Lindgren liebt er, ihre dunkleren Bücher wie "Mio, mein Mio" oder "Die Brüder Löwenherz". Lange, so Wells, habe er die Maske seiner Figuren getragen. Für seine eigene Geschichte konnte er keine Sprache finden.

All das erzählt Wells ohne Schwermut, mit großzügiger Offenheit und Humor. "Wie erklärst du dir dein Selbstvertrauen, dass du trotz all der Absagen drangeblieben bist?", fragt eine junge Frau im Publikum. Wells antwortet, er könne es sich nicht recht erklären, er habe eben gewusst, dass er schreiben müsse. Talent habe er jedenfalls nicht besessen. Stattdessen waren da Schmerz und Wut, die ihn antrieben, Worte zu finden, die er nicht hatte. Diese Not brachte ihn zum Schreiben, sie war der Urgrund seines Wunsches, Schriftsteller zu werden. Doch die Einsamkeit, Wells großes Lebensthema, könne man mit dem Schreiben nicht überwinden. "Es gibt kein Ende der Einsamkeit", sagt Wells. Nur den Umgang mit ihr könne man ändern. Gemeinsam mit Brass leuchtet Wells wunderbar die eigene Lebensdialektik aus, in seiner Biographie liegt das Dunkle nah am Schönen, ähnlich wie die Zeile der "Wir sind Helden"-Sängerin Judith Holofernes: "So viel kaputt. Aber zwischen der Glut, zwischen Asche und Trümmern war irgendwas gut." Näher als an diesem Abend kann man dem Schriftsteller Wells wohl kaum kommen. Das Publikum feiert ihn mit Ovationen.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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