Makerspace Gießen: In der offenen Werkstatt Makerspace in Gießen können Besucher ihre Ideen gratis verwirklichen. Zu Künstlicher Intelligenz bieten die Betreiber auch etwas. Mit einem Hintergedanken.
Der Mittfünfziger kennt 3D-Drucker nur aus Erzählungen. Er hält sich für technisch unbegabt und traut sich an ein solches Gerät nicht heran. Schon gar nicht käme er auf die Idee, eines zu kaufen. Nils Seipel hört das öfter. Immer wieder kommen solche Menschen zu ihm und seinen Kollegen in den Makerspace am Rand der Gießener Innenstadt. Seipel und Johannes Schmid führen die Geschäfte der seit fünf Jahren bestehenden offenen Werkstatt. In den Räumen einer ehemaligen Druckerei liegen Lötkolben bereit, VR-Brillen und allerlei Werkzeuge. Es finden sich auf den 400 Quadratmetern zudem 3D-Scanner und ein Lasercutter. Dazu können sich Tüftler etwa an Nähmaschinen und freie Werkbänke setzen. Oder auch einen 3D-Drucker benutzen.
Zum Beispiel zu dieser Technik bieten Seipel, Schmid und ihre Mitarbeiter regelmäßig offene Kurse an, dazu schulen sie auf Wunsch ganze Klassen. Innerhalb von anderthalb Stunden bringen sie Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen jeden Alters und ohne Vorwissen alles Nötige bei, um eigene Ideen in die Tat umzusetzen, wie der Geschäftsführer sagt. "Das haben wir mit 5000 Leuten gemacht." Im Zweifelsfall reichten auch ein paar Minuten aus. "Dafür lege ich meine Hand ins Feuer", sagt Seipel. Der Mittfünfziger fragt sich, ob er das wagen soll. Beide nicken einander kurz zu und gehen in den Raum mit den 3D-Druckern.
Bevor das Gerät etwas drucken kann, braucht es eine Vorlage. Sie entsteht am Computerbildschirm. Seipel öffnet das Programm und sagt: "Die Leute machen hier immer eine kleine Münze" – einen Chip für einen Einkaufswagen. Als Ausgangsform dient ein Zylinder, den die Software vorgibt. Mit wenigen Mausklicks gibt der Gast dem Zylinder die richtige Breite, das sind 23,3 Millimeter, wie Seipel sagt. Dann wird die Form auf einen Millimeter Höhe gestaucht. Nach ein paar weiteren Klicks ziert ein Name die 3D-Vorlage. Damit die Münze dadurch nicht höher wird, als sie sein soll, wird der Name mit dem Cursor in die Form gedrückt. Dann speichert der Gast die Datei ab, lädt sie auf einen Stick und steckt ihn in den USB-Anschluss am Drucker der Wahl. Das Gerät findet selbst die richtige Datei. Auf einen Knopfdruck hin fängt es an zu drucken. Schicht für Schicht trägt es den Chip auf eine Metallplatte auf. Der Gast hebt ihn kurz darauf von der Metallplatte ab.
Vom ersten Mausklick bis zum fertigen Produkt sind keine zehn Minuten vergangen. Operation gelungen. Seipel lächelt. Technik sei mittlerweile so einfach zu nutzen. Doch viele Menschen haben Angst davor, wie er aus Erfahrung weiß. "Wir wollen den Leuten die Angst nehmen", hebt er hervor. "Hier erleben sie Selbstwirksamkeit" – sie meistern also mehr oder weniger große Herausforderungen aus eigener Kraft und fühlen sich der Technik nicht weiter ausgeliefert. Ein schöner Kontrast zu einem Alltag, in dem vieles fremdbestimmt ist. In ganz Hessen kopieren zwölf Bibliotheken seit einem Corona-Projekt einen Teil des Konzepts der offenen Werkstatt und bieten 3D-Drucker an, so etwa die Frankfurter Stadtbibliothek und Büchereien in Baunatal, Eltville und Wiesbaden.
Als Umweltmanager ist Seipel selbst keineswegs der geborene Computerspezialist, Experte für Lasercutter oder für die Frage, wie sich eine Jeans mit der Nähmaschine flicken lässt. Das gilt für den Psychologen Schmid nicht minder. Aber sie haben die nötige Portion Neugierde in sich. "Wir wissen, wie es ist, sich in neue Technologien einzuarbeiten. Wie die ganze Technik funktioniert, die hier steht, haben wir uns selbst angeeignet", berichtet Autodidakt Seipel. So bessert er längst eine Jeans selbst aus, wenn sie vom Radfahren durchgescheuert ist.
Entstanden ist der Makerspace vor fünf Jahren aus einer ehrenamtlichen Arbeit der beiden Geschäftsführer einer gemeinnützigen GmbH. Im Stadtraum haben sie und andere sich Gedanken gemacht, wie gutes Leben in Gießen künftig aussehen soll. In Workshops entwickelte Ideen haben sie zeichnen lassen. Unter anderem ging es um einen Werkraum und Räume, in denen sich Menschen zwanglos treffen können. Schmid und Seipel haben beide Ideen vereint, zumal die Geschäftsführerin des Gießener Innovations- und Technologiezentrums fragte, ob sie nicht etwas in die Tat umsetzen wollten. Sie gewannen die Justus-Liebig-Universität und die Technische Hochschule Mittelhessen als Partner und riefen im nächsten Schritt für drei Monate ein Pilotprojekt ins Leben. Der Raum war ständig voll von Neugierigen, von Kindern bis zu Rentnern. Danach stand fest: "Wir wollen weitermachen." Und zwar mit 3D-Druck als Attraktion, denn seinerzeit war diese Technik noch nicht so verbreitet wie heutzutage.
Als Hürde erwies sich zunächst die Standortsuche. Doch "durch großes Glück", wie Seipel sagt, fanden sie die ehemalige Druckerei an der Walltorstraße in Sichtweite der Justizbehörden. An der Fassade des unauffälligen Gebäudes deutet nicht viel auf den Makerspace hin, im Treppenhaus weist das Kabel einer kleinen, auf dem Boden stehenden Lampe den Weg in die kleine Welt der Technik. Wer sie betritt, riecht zuerst den Duft von Holz, in den sich der typische Werkstattgeruch mischt. Kinder und Studenten kommen und gehen, setzen sich an mitgebrachte Laptops oder wechseln sich an einem fest installierten Pult für Computerspiele vergangener Zeiten ab.
Wer sich umsieht, entdeckt eine Station, mit der das "Internet of Things" erläutert wird. Schmid und Seipel haben Sensorik verbaut, mit der sie außer der Temperatur im Makerspace auch das Feinstaubaufkommen in der Luft messen und in Echtzeit sehen können. Wenn eine größere Gruppe die Räume betritt und sich die Menschen in ihnen verteilen, schießen die Messwerte in die Höhe.
An diesem Nachmittag herrscht reges Kommen und Gehen. Eine junge Frau zapft sich ein Getränk und setzt sich dann hinter ihre Staffelei. Ob sie Kunst studiert? "Nein, ich studiere Data Science." Sie male zum Ausgleich. Wie Seipel sagt, kommt sie regelmäßig in den Makerspace – weil dort das Licht so vorteilhaft für sie sei. Zwei junge Leute beugen sich derweil an einer Werkbank über einen defekten Joystick für eine Spielekonsole. Wie sich herausstellt, hat sich ein kleines Kabel von der Platine gelöst. Angeleitet von einer Mitarbeiterin, wollen sie es wieder anlöten. So müssen sie den Joystick nicht wegwerfen.
Das ist ganz im Sinne der Geschäftsführer. Ihnen geht es auch um Nachhaltigkeit. Sie halten Technik nicht für Selbstzweck, wie Seipel hervorhebt. Es gehe immer auch um den gesellschaftlichen Zusammenhang.
Der Makerspace widmet sich auch Künstlicher Intelligenz. Gleich hinter dem Eingang gibt es dazu eine kleine Ausstellung. Vorträge und Workshops zum Umgang mit KI kommen dazu. Künstliche Intelligenz sei ein Reizthema, meint der Geschäftsführer. Wenn nicht viele Menschen kundig mitreden könnten, spalte diese Technik die Gesellschaft. Und das sei schlecht für die Demokratie. Seipel meint: "Es muss niedrigschwellige Angebote geben."
Dass Gäste nichts zahlen müssen, wenn sie einen 3D-Drucker, einen Lötkolben oder den Lasercutter nutzen, passt dazu: möglichst keine Hürden aufbauen. Wer will, darf gern etwas spenden. Mehrere Spendenboxen laden dazu ein. Braucht die von der Stadt und dem Landkreis Gießen mit jeweils 25.000 Euro im Jahr unterstützte Werkstatt doch eigene Einnahmen, zumal kommunale Haushalte unter Druck stehen. Schmid und Seipel wollen zu diesem Zweck ein Patenschaftsprogramm für Förderer auflegen, um das eigene Budget planbarer zu machen und auf eine breitere Grundlage zu stellen. Bisher haben sie 250.000 Euro zur Verfügung.
Die teuerste Anschaffung ist der Lasercutter für 20.000 Euro. Von dem Gerät lässt ein junger Mann aus Haiger stapelweise Christbaumschmuck aus Sperrholz ausschneiden. Die Vorlagen habe er zu Hause am Rechner mit seinem CAD-Programm selbst entworfen, berichtet der angehende Architekt. "Die sind für meine Freundin, sie nimmt die Anhänger für Adventskalender, die sie verschenkt." Den Makerspace hat er als Student an der Technischen Hochschule kennengelernt und möchte ihn nicht mehr missen. "Wenn ich mehr als 100 Punkte vergeben könnte, würde ich das tun. Vor allem, wenn man sieht, wie Kinder hier mitmachen." © Frankfurter Allgemeine Zeitung
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