Tuğçe Albayrak: Tuğçe Albayrak ist vor zehn Jahren nach einem Streit so hart geschlagen worden, dass sie an den Folgen des Angriffs starb.

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Ihr Bruder Doğuş leitet seitdem einen Verein, der sich für Zivilcourage und Gewaltprävention einsetzt.

Es ist mitten in der Nacht, als am 15. November 2014 das Handy von Doğuş Albayrak klingelt. "Deine Schwester wurde geschlagen. Du musst mit mir nach Offenbach kommen. Ich bin gleich bei dir", sagt die Stimme am anderen Ende. Es ist der Freund einer Freundin seiner Schwester Tuğçe, der hastig spricht. "Ich dachte, der will mich verarschen, und habe aufgelegt", erinnert sich Albayrak, der damals in Gelnhausen wohnte.

Kurz darauf klingelt das Handy erneut. Der Freund wiederholt sich und betont, dass es ernst sei. Albayrak glaubt ihm immer noch nicht. Wie konnte seiner Schwester so etwas passieren? Ist das eine Falle? Trotzdem zieht er sich an, sagt seinen schlafenden Eltern nichts und geht nach draußen, wo der Freund auf ihn wartet. "Im Auto hat ihn dann seine Freundin angerufen, sie weinte und sprach von Blut bei Tuğçe. Dann bekam ich ein komisches Gefühl und begann innerlich zu zittern", berichtet Albayrak. Im Auto fragt er sich: Warum fahren wir zur Unfallstelle? Meine Schwester müsste doch längst im Krankenhaus sein.

Als sie auf dem Parkplatz des Schnellrestaurants am Offenbacher Kaiserlei ankommen, stehen dort bereits zwei Krankenwagen. Albayrak sieht seine Schwester in einem davon liegen und fragt einen Sanitäter, was los sei. "Er sagte mir, dass alles gut und nicht so schlimm sei", berichtet er. Er steigt in den Krankenwagen. Bei der Ankunft im Sana-Klinikum in Offenbach sagt er seiner schwer atmenden Schwester noch, dass alles gut werde. Da bemerkt er getrocknetes Blut an ihrem Ohr. "Ich kannte das aus Filmen. Wenn Blut aus dem Ohr kommt, stimmt etwas nicht."

Im Krankenhaus kommen bald Ärzte, die ihm erklären, was nun geschehen müsse. Albayrak, damals 25 Jahre alt, ruft seine Cousine an. Sie soll seine Eltern wecken und vorsichtig darauf vorbereiten, dass es etwas Schlimmeres sein könnte. "Dann haben die Horrorwochen angefangen."

Die lebenserhaltenden Maschinen wurden an ihrem 23. Geburtstag abgeschaltet

Doğuş Albayrak erzählt all dies mit ruhiger, klarer Stimme. Der 35 Jahre alte, große Mann – er hat viele Jahre in der Hessenliga als Torwart gespielt – trägt ein schwarzes Sakko über dem aufgeknöpften dunkelblauen Hemd und weißen T-Shirt. Der schwarze Vollbart und die schwarzen Haare sind leicht angegraut. Er sitzt im Frankfurter Stadtteil Nordend im Büro des Tuğçe Albayrak e.V., des Vereins, den er unter anderen mit dem Rechtsanwalt und heutigen SPD-Bundestagsabgeordneten Macit Karaahmetoğlu, der die Familie im Prozess vertreten hat, zu Ehren seiner verstorbenen Schwester gegründet hat.

Die Geschichte dieser unseligen Nacht hat er schon Hunderte Male erzählt. Die Geschichte vom Tag des Angriffs des damals 18 Jahre alten serbischen Staatsbürgers Sanel M. auf seine 22 Jahre alte Schwester. Mit dem Handballen hatte er sie so hart ins Gesicht geschlagen, dass sie mit dem Kopf auf den Boden stürzte. Albayrak erzählt von den später festgestellten schweren Gehirnverletzungen, wegen derer Tuğçe ins Koma fiel. Von der schweren Entscheidung der Familie, am 28. November, am Tag ihres 23. Geburtstags, die lebenserhaltenden Maschinen abzuschalten.

Er berichtet von dem Entschluss, die Organe von Tuğçe zu spenden, um anderen Menschen das Leben retten zu können. Von der Beerdigung, die öffentlich war, obwohl die Familie sich einen privaten Rahmen gewünscht hatte, wo Menschen auf Bäume geklettert sind, um zu gaffen. Von der Gerichtsverhandlung, in der die Mutter des später verurteilten Schlägers ein aufgestelltes Bild seiner Schwester angespuckt hat. Von der halbherzigen Entschuldigung von Sanel M., dem Täter, der zu drei Jahren Jugendstrafe verurteilt und 2017 in sein Heimatland Serbien abgeschoben wurde.

Im Verfahren kamen mehr als 60 Zeugen zu Wort

Vor allem aber erzählt er von der Zivilcourage seiner Schwester. "Der Fall hat eine Dimension und Wirkung erreicht, die bis heute nachwirkt", sagt Albayrak. Was sich genau abgespielt hat, konnte der zweimonatige Prozess vor dem Landgericht Darmstadt nicht im Detail klären. In dem Verfahren waren mehr als 60 Zeugen vernommen worden. Der Vorsitzende Richter Jens Aßling rechnete in seiner späteren Urteilsbegründung auch mit den Medien ab, die die Wahrheitsfindung erschwert hätten.

Sicher ist nur, dass Tuğçe in der Toilette des Schnellrestaurants auf zwei 13 Jahre alte Mädchen getroffen ist, die von mehreren jungen Männern, unter anderen Sanel M., umringt waren. Der Richter sprach davon, dass es von einem wohl normalen Gespräch in die Belästigung abgeglitten sei. "Verpisst euch, ihr habt hier nichts zu suchen", soll Tuğçe laut Zeugen gesagt haben. Später trafen die Studentin und ihre Freundinnen, mit denen sie vorher feiern war, erneut auf die Gruppe der jungen Männer und haben sich offenbar gegenseitig heftig beleidigt.

Daraufhin stieg Sanel M., der bereits im Auto saß, wieder aus und schlug Tuğçe mit der Faust ins Gesicht. Eine "Ohrfeige", wie Sanel M. behauptet hatte, konnte durch die Videoüberwachung schnell widerlegt werden. Ihren Tod habe er aber nicht gewollt, befand Richter Aßling. Oberstaatsanwalt Alexander Homm hatte in seinem Plädoyer gesagt, dass Sanel M. weder ein aggressiver "Koma-Schläger" noch Albayrak eine "nationale Heldin" für Zivilcourage sei.

Eine Welle der Anteilnahme

Diese wertende Aussage hat Doğuş Albayrak geärgert. "Ob jemand als Heldin betrachtet wird, ist keine Frage der juristischen Definition, sondern eine Anerkennung, die aus dem kollektiven Empfinden und der Dankbarkeit einer Gesellschaft entsteht", findet er. Der Fall hatte das ganze Land bewegt. Tausende Menschen kamen am 28. November auf den Parkplatz des Sana-Klinikums, hielten Kerzen in den Händen, der Straßenmusiker Davide Martello spielte auf seinem Piano. Als die Menschen den Parkplatz verlassen hatten, wurden die lebenserhaltenden Maschinen abgeschaltet.

Kurz nach ihrem Tod hob Haris Seferović, damals Stürmer bei Eintracht Frankfurt, nachdem er ein Tor geschossen hatte, sein Trikot hoch und zeigte ein T-Shirt, auf dem der Schriftzug "Tuğçe = Zivilcourage, Engel, Mut, Respekt" zu lesen war. Der FC Bayern München und Bayer Leverkusen hielten eine Schweigeminute für die Verstorbene ab. Der Rapper Eko Fresh gedachte ihrer bei einem Konzert. Politiker, Künstler, Sportler nahmen Anteil und forderten mehr Gewaltprävention.

Das ist nun die Mission von Doğuş Albayrak geworden. Erst kürzlich war er in einer Schule, um im Rahmen eines theaterpädagogischen Workshops unter dem Motto "Alltagshelden – Workshop für Zivilcourage" über Tuğçe zu sprechen. Da hätten Schüler zu ihm gesagt: "Das ist nicht nur deine Schwester. Das ist auch unsere Schwester." Diese Worte berührten ihn sehr, sagt Albayrak. Es seien Begegnungen wie diese, die ihm die Kraft geben würden, sich weiter im Namen seiner Schwester zu engagieren. Etwas zu bewegen, zu verändern in den Köpfen der Jüngsten. Mutig zu sein, Schwächeren zu helfen, sich zu engagieren, das Richtige zu tun.

Workshop "Alltagshelden" hat mehr als 1600 Schüler erreicht

2015 wurde der Verein gegründet, im Jahr darauf wurde eine Benefizgala organisiert, zu der viele Menschen kamen. Doch Tuğçes Bruder reichte das nicht. Eine Mahnwache, ein Leseabend pro Jahr: Das war Doğuş Albayrak zu wenig. Für ihn sei klar gewesen, dass er das Thema Zivilcourage weiter in die Gesellschaft tragen wolle. Für den Rest des Teams aber sei es damals zu viel gewesen, als Albayrak im Jahr 2018 vorschlug, mit dem Verein größere Projekte umsetzen. "So haben sich die Wege im Guten getrennt." Dann habe er Bernd Barutta kennengelernt, der für den Deutschen Fußball-Bund arbeitete, wo Albayrak ein Jahrespraktikum in der Futsal-Abteilung absolvierte. Heute ist Albayrak selbständig und betreibt eine Werbeagentur.

Zusammen haben sie überlegt, welcher Sport die meisten Menschen verbindet. Schnell sind sie auf das Laufen gekommen. Seit 2018 gibt es den Benefizlauf "Spessarthelden", der nun jedes Jahr in Bad Soden-Salmünster, dem Geburtsort von Tuğçe, stattfindet. "Er ist so gut angekommen, dass wir daraus ein Familienfestival gemacht haben", sagt Albayrak. Im Vordergrund stehen das Zusammensein und die Vielfalt, Schirmherr ist der frühere Bundespräsident Christian Wulff, der auch Ehrenmitglied des Vereins ist. Andere Kommunen hätten bereits Interesse gezeigt, den Lauf ebenfalls zu organisieren. Wenn es nach Albayrak geht, gern in jedem Bundesland. Der Lauf ist die Haupteinnahmequelle des Vereins, durch ihn werden die Projekte finanziert. Spenden erhält er kaum.

Bundesweit ist Albayrak seit zwei Jahren mit dem "Alltagshelden"-Workshop unterwegs, mehr als 1600 Schüler hat er damit bislang erreicht. Zusammen mit dem Schultheater-Studio Frankfurt und Theaterpädagogen haben sie anhand des Falls von Tuğçe erarbeitet, welche Fertigkeiten und "Skills" Kindern mitgegeben werden sollten, damit unangenehme Situationen nicht so enden wie bei seiner Schwester. "Es geht um präventive Elemente wie Deeskalation, Empathie und gewaltfreie Kommunikation", sagt Albayrak. Der Workshop sensibilisiere die Teilnehmer für nonverbale Signale und sicheres Auftreten, ohne dabei die eigene Sicherheit zu gefährden.

Der Verein will sich in Zukunft professioneller aufstellen

Begleitet werden die Workshops immer von zwei Theaterpädagogen und Albayrak selbst. So entstehe eine intime Atmosphäre. Und so wird das Thema für die Schüler sofort greifbar, wenn der betroffene Bruder spricht. "Wir sind mit dem Projekt ausgebucht bis Februar", sagt Albayrak. Der Verein ist jedoch an einem Punkt angelangt, an dem es "ehrenamtlich nicht mehr zu stemmen" ist. Mittlerweile sind acht, neun Pädagogen im Team. Die Schulen würden den Verein als Anlaufstelle sehen und fragen, ob es auch Projekte gegen Rassismus, Islamismus oder Antisemitismus gibt. "Wenn du Zivilcourage hast, wenn du Empathie hast, wenn du tolerierst, dann hast du auch die Fähigkeit, in andere Rollen zu schlüpfen und andere zu verstehen", sagt Albayrak.

Ein weiterer Baustein des Vereins ist das Projekt "Empowerher", also Frauen zu stärken. Jedes Jahr wird eine Podiumsdiskussion zum Thema Gewalt gegen Frauen organisiert. Mit den Erkenntnissen daraus sollen in den kommenden Jahren weitere Schulprojekte entstehen. Das Vereinsbüro, das im Dezember bezogen wurde, soll ein Zentrum für Zivilcourage werden. Nachhaltig werden, sich professionell aufstellen, das sind die Ziele für die kommenden Jahre.

Am zehnten Jahrestag des Angriffs und des Tods von Tuğçe steht jedoch die Erinnerung im Vordergrund. Es werden aufwühlende Tage für die Familie werden. Am schlimmsten wohl für Albayraks Mutter. "Wenn ich in ihre Augen schaue, sehe ich ein Loch, da fehlt etwas", sagt ihr Sohn. Sein Vater helfe zwar bei Veranstaltungen wie dem Benefizlauf mit, aber schweige lieber zu alldem. Auch sein älterer Bruder isoliere sich.

Für Doğuş Albayrak war und ist die Arbeit mit dem Verein eine Art der Trauerbewältigung. Sie hat ihn persönlich verändert. Mit den Themen Zivilcourage oder Feminismus hatte er bis zum Tod seiner Schwester keine Berührungspunkte. Die Bindung zu seiner Schwester sei immer etwas Selbstverständliches und Wertvolles für ihn gewesen, "obwohl ich meistens mit meinem eigenen Kram beschäftigt war". Nach dem Ende einer langjährigen Beziehung sei er 2014 zurück ins Elternhaus gezogen und dann fast einen Monat lang täglich mit Tuğçe an die Justus-Liebig-Universität nach Gießen gefahren, wo er Wirtschaftswissenschaften und sie Lehramt studiert hat.

Noch viele Details aus den "Horrorwochen" sind nicht erzählt

Bei diesen vielen gemeinsamen Stunden im Auto habe er sie noch einmal auf eine andere Art und Weise kennengelernt und so intensiv wie noch nie mit ihr Zeit verbracht. Er hatte eine junge Frau an seiner Seite, mit der er sich auch tiefgründiger unterhalten konnte. Zu diesem Zeitpunkt haben sie eine neue Ebene in ihrer geschwisterlichen Beziehung erreicht, die sie aber "nicht mehr auskosten" konnten.

"Deswegen hängt mir das auch sehr nach", sagt Albayrak. "Ich glaube, unterbewusst mache ich das alles auch, um das zu kompensieren." Er will Tuğçes Andenken bewahren und sich mit den gesellschaftlichen Problemen auseinandersetzen, die ihr Fall aufgezeigt hat. Am 28. November wird es im Frankfurter Vereinsbüro eine Gedenkveranstaltung mit Fotoausstellung und musikalischer Begleitung geben.

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Es gibt noch viele Dinge, die Doğuş Albayrak über die Nacht, die "Horrorwochen" im Krankenhaus und all das, was über ihn und die Familie damals und danach hereingebrochen ist, erzählen könnte. Von Journalisten, die sich als Putzkräfte verkleidet haben, um einen Blick auf die Familie werfen zu können. Von einem Freund des Täters, der sich ins Krankenhaus geschlichen hat, Anteilnahme versichert und geweint hat, aber in den sozialen Netzwerken über Tuğçe hergezogen hat. Vom Lachen der Freunde des Täters im Gerichtssaal, als das Video gezeigt wurde, wie Sanel M. seine Schwester schlägt.

Doğuş Albayrak, der Bruder der mit nur 22 Jahren gestorbenen Tuğçe, hat noch viel zu verarbeiten.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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