Sponti-Kneipen im Nordend: Vieles ist verschwunden, vieles noch lebendig: Ein Spaziergang durch das Frankfurter Nordend mit einem beinahe 40 Jahre alten Reiseführer.

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Die Kinderläden sind noch da. Genauso wie die Secondhandläden und die vielen Cafés. Die Grünen-Wähler sowieso. Und auch die Altachtundsechziger sind noch immer gut vertreten. Wen man dagegen im Frankfurter Stadtteil Nordend heute nicht mehr antrifft, das sind die "Edel-Punks".

1987 waren sie noch auf dem Weg, zur bestimmenden Kraft im Viertel zu werden. Als eine "neue Generation", die "sprachlos mit den Medien anonymer Kommunikation" posiert, mit "Kleidung, Haarschnitt, Uhren, Sonnenbrillen, Feuerzeugen, Zigaretten und Autoschlüssel", beschreibt sie der Autor Willi Hau. Sie tragen keine Flickenjeans mehr, sondern "schwarze Ringe unter den Augen und Edel-Punk-Utensilien in Schwarz". Und sie setzen auch ganz andere Prioritäten. "Weniger der kritische Dialog, der ökopolitische Diskurs sind gefragt als das Design am Körper", schreibt Hau. Dass er von dieser neuen Spezies wenig hält, daraus macht er kein Geheimnis.

Sein Text stammt aus dem Reiseführer "Frankfurt zu Fuß – 20 Rundgänge durch Geschichte und Gegenwart". Vor 37 Jahren, 1987, ist er im linken VSA-Verlag in Hamburg erschienen. Spaziergänge durch Frankfurter Stadtteile wie Bornheim (das "lustige Dorf"), Bockenheim, Westend, die Altstadt, aber auch eine Radtour zu Orten der Frauenbewegung, eine Tour entlang der Nidda oder in den Stadtwald werden darin beschrieben.

Dauer: zweieinhalb Stunden oder "ganze Nächte"

Irmgard Senger, Fernsehjournalistin beim Hessischen Rundfunk und Ehefrau des Holocaustüberlebenden Valentin Senger, Dieter Bartetzko, der später Architekturkritiker im Feuilleton der F.A.Z. wurde, und der Theatermacher Dieter Buroch gehörten damals zu den Autoren. Dass ihnen besonders die Alternativkultur in der Stadt, die sie auch mal verächtlich "Bankfurt" oder "Krankfurt" nannten, am Herzen lag, merkt man schnell.

Willi Hau gab seiner Tour durch das Nordend den Titel "Wo Adornos wahre Erben dem Größenwahn verfallen". Vor allem den Kneipen im Viertel widmete er seine Aufmerksamkeit. Nachvollziehbar, denn das war schließlich seine Passion: Als Restaurant- und Kneipenkritiker unter dem Pseudonym Peter Polaroid war er bekannt und gefürchtet.

Wie viele der Orte, die der Autor in seinem Rundgang beschrieben hat, existieren heute noch? Was ist verschwunden, was ist in Vergessenheit geraten? Und was konnte sich halten? Das soll ein Spaziergang durch den Stadtteil zeigen. Der alte Reiseführer ist ein Fundstück aus dem Internet: Eine Anzeige von Bücher Neubert aus Celle poppte dort vor einigen Monaten zufällig auf. Für 2,13 Euro plus Versandgebühren wurde "Frankfurt zu Fuß" angeboten. Ein Schnäppchen, ein Klick, schon war der beinahe 40 Jahre alte Band auf dem Weg.

Im Zickzackkurs, am Friedberger Platz beginnend, führt Willi Hau den Leser durch das Nordend der Kinderläden, der "Spontis" und der damals noch jungen Partei der Grünen. Zweieinhalb Stunden solle man für seinen Rundgang einplanen – "ohne Abstecher, mit Kneipenaufenthalt: ganze Nächte".

Zunächst geht es die Rotlintstraße entlang. Das "Café Riff", in dem sich die Edel-Punks "am Wochenende gegen Mittag", nach durchfeierten Nächten in Batschkapp oder "Elfer", versammelten, ist nicht mehr zu finden. Weder eine Kneipe noch irgendein anderer Laden ist an der beschriebenen Adresse auszumachen. Wo früher getrunken wurde, wird heute nur noch gewohnt.

Und auch auf der Straßenseite gegenüber ist ein Etablissement verschwunden: das Rotlint-Café. "Hier trifft sich die solide gewordene 68er Generation", schreibt Willi Hau. Ein Besuch dort gehöre "in jeder Wohngemeinschaft, die etwas auf sich hält", zum "Ritual". Doch auch die Althippies, die im Sommer am liebsten an den Tischen auf der Straße sitzen, seien "etwas eitler geworden".

Der Wirt des Rotlint-Cafés jedenfalls hat länger durchgehalten als seine Kollegen im "Café Riff". 1982 übernahm Arief Imanuwarta das Lokal, nach 39 Jahren hat er das Café 2021 geschlossen. Geboren ist er in Indonesien, das Startkapital für sein Café hatte er sich in Frankfurt als Türsteher verdient, die Grünen-Politiker Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit zählten lange zu seinen Stammgästen.

Zwei Gründe waren am Ende für Imanuwarta ausschlaggebend, sein Café zu schließen: die Corona-Pandemie und sein Wunsch, endlich mehr Zeit für seine Enkelkinder zu haben. Ein Treffpunkt aber ist die Rotlintstraße 58 geblieben: Heute ist dort eine schicke Weinbar mit schwarzlackierten Wänden – die vermutlich auch schon den "Edel-Punks" gefallen hätte.

Weiter geht es, mit dem Reiseführer unter dem Arm, zur Spohrstraße. Hier wurde 1987 in "Mollys Pinte" gefeiert. Willi Hau charakterisiert die damals 65 Jahre alte Wirtin in seinem Text als "der Stadt dienstältestes Original". Die ganze Woche stehe sie hinter dem Tresen, "freitags, samstags bis 4 Uhr".

Fasziniert ist der Autor vor allem von ihrer Direktheit: "Wer kennt schon ein dermaßen vulgär loses Maul, aus dem zuweilen die unbequeme und zotige Frankfurter Denkweise herzlich, aber direkt aus dem Bauch des Volkes kommt." Beeindruckt ist Hau aber auch davon, dass sich sogar eine Band nach der Wirtin benannt hat: die Molly Nordend Band. Sie spielten Rhythm and Blues und traten später sogar einmal in der Alten Oper auf.

Was ist wohl aus Molly geworden? Sie wäre heute mehr als 100 Jahre alt. Wo ihre Kneipe war, gibt es nun ein griechisches Restaurant. Im Internet findet sich ein Artikel über den langjährigen Gitarristen der Molly Nordend Band, der später als Instrumentenbauer Karriere machte. Und auch eine Telefonnummer. Doch wer dort anruft, hört den Satz: "Die gewählte Nummer ist nicht vergeben."

Willi Hau kann man auch nicht mehr fragen. Er ist in diesem Februar gestorben. In seinem Beitrag für "Frankfurt zu Fuß" hat der Autor mit viel Liebe, viel Zuneigung über all die Kneipen und Restaurants geschrieben, die man heute vergeblich sucht. An der Glauburgstraße etwa traf man sich beim Pizza-Peter. Erst kam die "Sponti-Generation" in die Pizzeria, um zu tagen und zu zechen, danach kaperte die Redaktion des Satiremagazins "Titanic" den Laden.

Besonders schwärmerisch schreibt Hau über ein Lokal am Bornwiesenweg: den "Schmendrick". An diesem "Kneipen-Highlight der links-alternativen Scene" gefällt ihm, dass es "der Hinwendung zum neongestylten Yuppietrend auch großer Teile der Linksschickeria" trotzt. Im "Schmendrick" bleiben die "abgescheuerten Holztische" stehen, es wird über Politik diskutiert, die Kneipe ist immer gut besucht. Stammgast dort ist der Schauspieler Hermann Treusch, "in den letzten Jahren als Tatort-Bösewicht populär geworden".

Ans Herz legt der Autor seinen Lesern auch die "Naturbar" am Oeder Weg, in der es alles gibt, "was das ökologische Herz erfreut". Probieren solle man unbedingt "eine der gefüllten Brottaschen". Das aber geht schon länger nicht mehr, das vegetarische Restaurant hat bereits vor einigen Jahren geschlossen. Nun bekommt man dort – ausgerechnet – "Fried Chicken" nach koreanischen Rezepten.

Weniger gut als in den Kneipengegenden gefällt es Willi Hau im "begehrten Villenviertel" westlich des Oeder Wegs. Als verschlafen und langweilig stellt er die Gegend dar. "Das Holzhausenviertel ist so fein, daß es in diesem Servitut – einer Art Grunddienstbarkeit – sogar vor dem Durchzug von Leichenzügen (zum angrenzenden Hauptfriedhof) geschützt ist", schreibt er. Dem Autor fehlen dort Schulen, vor allem aber Ladengeschäfte. Und er hat auch eine Vermutung, woran das liegt: "Wahrscheinlich haben die Leute dort ihre Dienstmädchen in aller Frühe zum Markt in die Stadt geschickt."

Einzig der Holzhausen-Park kommt in seiner Beschreibung halbwegs gut weg. Im Buch zeigt eine historische Fotografie die adelige Familie Holzhausen beim Eislaufen auf der zugefrorenen Wasserfläche rund um das Wasserschlösschen im Park. Die Damen tragen weite Röcke, die Herren Zylinder. In Zeiten des Klimawandels wird solch ein Eisvergnügen wohl kaum mehr möglich sein.

Ruhig und verschlafen, wie der Autor sie in den Achtzigerjahren wahrnahm, sind die Straßen oberhalb des Holzhausenparks bis heute geblieben. Kaum jemand ist dort am Vormittag unterwegs, kaum ein Auto fährt, kein Radler ist in Sicht. Doch in der Gegend brodelt es. Seit die Stadtregierung den nahen Oeder Weg verkehrsberuhigt und mit roten Radfahrerstreifen ausgestattet hat, sind viele empört.

An beinahe jedem Haus hängt das Plakat: "Nein zu Straßensperren – Ja zu vernünftiger Verkehrspolitik". Hier ist das Viertel rebellisch wie zu Sponti-Zeiten. Doch die Wut richtet sich diesmal gegen die Aufrührer von damals. Die Bösen, das sind nun, zumindest in diesem Teil des Nordends, die Grünen.

Am schönsten ist der Spaziergang immer dann, wenn man einen Ort entdeckt, der sich halten konnte. An der Ecke von Lenau- und Nordendstraße ist es das "Café Größenwahn". "Einst erstes Schwulenlokal der Szene", schrieb der Reiseführerautor knapp. Der freie Geist, der das liebevoll geführte Lokal prägt, und das gute Bistroessen, für das es bekannt ist, überzeugen noch immer. Auch wenn es dort – man wird ja schließlich nicht jünger – mittlerweile deutlich gesitteter zugeht als 1987.

Beinahe geschehen war es vor Kurzem um die Apfelweinkneipe "Zur Stalburg". Ein neuer, unerfahrener Wirt wollte aus dem Lokal mehr Profit herausholen. Die deftige Küche wurde umgekrempelt, die Preise stiegen, die Gäste blieben fort. Dann machte der Betreiber dicht, wechselte die Schlösser aus, nicht einmal eine Abschlussparty wollte er den Stammgästen gönnen. Nun aber hat sich das Blatt gewendet. Neue Pächter machen weiter wie früher. Mit Handkäs’, Grüner Soße und Ebbelwei zu moderaten Preisen. Ein Stoßseufzer ging durchs Viertel.

Kurz bevor der Rundgang geschafft ist, kommt man am "Strandcafé" vorbei. Noch solch ein Überbleibsel aus der wilden Zeit. Willi Hau beschreibt die Gründung so: "Häuserkämpfer aus dem Westend wechselten Anfang der 70er nach Verlassen des Hauptoperationsfeldes Uni erneut die Kampfzonen und entdeckten die alternative Nischenwirtschaft. Auf deutsch: Man mußte irgendwie überleben, und mit gehobener, origineller Gastronomie ließ sich schon immer in kürzester Zeit erstaunlich viel Geld verdienen." Sympathisch ist ihm am "Strandcafé", dass es von einem Kollektiv geführt wird. Das ist jedoch schon lange nicht mehr so.

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An einem der alten, abgewetzten Holztische ist ein Platz frei, das Sonnenlicht fällt durch die großen Fenster. Ein Cappuccino mit Hafermilch wird gebracht, der Pflaumenstreuselkuchen ist vegan, zu lesen gibt es die "Frankfurter Rundschau". Und aus den Boxen hört man Eric Burdon, der vom "House of the Rising Sun" singt. Mehr Nostalgie geht kaum. Wirklich schön.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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