Einsam an Weihnachten: Kerstin Sandhofen aus Kassel telefoniert an Weihnachten mit Fremden. Die Gespräche sollen Einsamkeit lindern. Aber reichen dafür 20 Minuten?

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Frau Sandhofen, Weihnachten werden Sie stundenweise am Telefon mit Fremden verbringen. Warum?

Ich bin jetzt schon seit mehr als einem Jahr als Ehrenamtliche bei Silbernetz im Einsatz. Bei uns können ältere Menschen anrufen, die sonst niemanden haben und einfach mal reden wollen. An den Feiertagen ist der Bedarf besonders hoch.

Silbernetz ist unter der Nummer 0800-470 80 90 täglich zwischen 8 und 22 Uhr erreichbar. Von Heiligabend bis Neujahr bieten sich rund um die Uhr Haupt- und Ehrenamtliche für ein Gespräch an. Worüber sprechen Sie mit den Anrufern?

Das sind neben den unerfüllten Erwartungen an Weihnachten eigentlich die gleichen Themen wie sonst auch: Verluste, Armut, chronische Krankheiten, Behinderungen. Isolation und Einsamkeit schwingen mit, werden aber meist nicht als Erstes angesprochen.

Für ein Telefonat sind nur zwanzig Minuten vorgesehen, damit möglichst viele Anrufer zum Zuge kommen. Kann man in dieser Zeit Vertrauen aufbauen?

Es gelingt am besten, wenn man Gemeinsamkeiten findet. Ich bin gerade 70 Jahre alt geworden, bin auch körperlich eingeschränkt und nicht mehr so mobil. Die Schwierigkeiten damit kennen auch andere Ältere. Und wir können uns dann darüber austauschen, wie herausfordernd es sein kann, so ein Schicksal anzunehmen. Das kann andere, die davon nicht betroffen sind, abschrecken. Die Anrufer berichten mir dann von ihrer Isolation.

Und doch sind zwanzig Minuten sehr kurz dafür, oder?

Zwanzig Minuten der ungeteilten Aufmerksamkeit können ein Geschenk sein. Wenn beide Seiten offen füreinander sind und man den anderen so nimmt, wie er ist. Wir sind keine Therapeuten und keine Berater, wir bieten ein Gespräch im Hier und Jetzt an. Manchmal kommt es dabei sogar zu einem sehr persönlichen Austausch, der auch für mich sehr bereichernd ist. Dann bedanke ich mich bei den Anrufern.

Spüren Menschen ihre Einsamkeit an Weihnachten besonders?

Manche Alleinstehende haben den Kontakt zu ihrer Familie, zu ihren Enkeln, zu ihren erwachsenen Kindern verloren oder diese sind verstorben. Wenn dann überall dieses Heile-Welt-Gedudel gespielt wird, und nur noch harmonische Familien beim leckeren Feiertagsessen gezeigt werden, ist das schwer auszuhalten. Selbst wenn man weiß, dass das Leben nicht so ist. Mein Eindruck ist, dass sich die Sorgen und Nöte seit der Corona-Zeit verschlimmert haben, dass wir in einer Krisenzeit leben. Manche können damit schwer umgehen.

Woran merken Sie das?

Manche Anrufer sind sehr enttäuscht und verärgert. Sie hadern mit Gott und der Welt, weil das Leben anders gelaufen ist, als sie es erwartet hatten. Die müssen dann mal ihr Herz ausschütten, ihre Gedanken loswerden. Ich denke manchmal, die brauchten eigentlich mütterliches Verständnis, denn das sind ja Bedürfnisse, die im Alter wieder auftauchen.

Wer ruft denn bei Ihnen an?

In der Mehrheit sind es Frauen, eher jünger als älter. Dabei freue ich mich immer, wenn sich auch jemand jenseits der 70 oder 80 meldet. Da entstehen häufig die besten Gespräche, der intensivste Austausch. Aber ihnen fällt es offenbar am schwersten, eine anonyme Nummer anzurufen. Dabei höre ich öfters, dass sie schon seit Tagen mit niemandem mehr gesprochen haben. Keiner sollte ein schlechtes Gewissen haben, wenn er bei uns anruft.

Was bedeutet Ihnen die Arbeit bei Silbernetz?

Es tut gut, für andere da zu sein und nicht nur um sich selbst zu kreisen. Ich bin durch die Arbeit viel toleranter und geduldiger geworden. Man sollte im Alter nicht nur Kreuzworträtsel machen und Fernsehen schauen, sondern irgendwie aktiv und tätig bleiben, zum Beispiel in einem Ehrenamt. Ich denke manchmal, Menschen könnten die ganze Kraft, die sie in ihren Ärger und in ihren Missmut stecken, so viel besser für anderes verwenden.

Aufgrund Ihrer Erfahrungen: Welche Tipps würden Sie anderen Älteren – und auch Jüngeren – ans Herz legen?

Verausgaben Sie sich nicht im Geben, verbunden mit der Hoffnung, dass Sie später auch etwas dafür zurückbekommen. Diese Garantie gibt es nicht, auch nicht in der Familie. Pflegen Sie Freundschaften – nicht erst dann, wenn Sie dringend jemanden brauchen. Und legen Sie sich, wenn Sie tierlieb sind, ein Haustier zu, das Sie versorgen können.

Und was wäre Ihre Empfehlung für Weihnachten?

Machen Sie es sich gemütlich – und unperfekt.

Die Fragen an Kerstin Sandhofen, die in Wirklichkeit anders heißt, aber für ihre Arbeit anonym bleiben muss, stellte Monika Ganster.

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Wege aus der Isolation

Ein Netzwerk gegen Einsamkeit will der Verein "Silbernetz" sein, der vor zehn Jahren von Elke Schilling in Berlin gegründet wurde. Er möchte Menschen im Rentenalter Wege aus der Isolation aufzeigen: durch anonyme Telefonate, den Wiederaufbau persönlicher Bindungen und durch passende Hilfsangebote in der nahen Umgebung. Die Arbeit des Vereins besteht aus drei Bausteinen: ein tägliches Gesprächsangebot für Senioren unter der kostenlosen Rufnummer 0800-470 80 90 zwischen 8 und 22 Uhr (Silbertelefon). Unter dem Stichwort Silbernetz-Freunde werden Senioren mit Ehrenamtlichen vernetzt, die sich dann regelmäßig einmal in der Woche telefonisch melden. Der dritte Pfeiler der Arbeit ist die Weitergabe von Informationen zu Angeboten der Altenhilfe in Ländern und Kommunen. Ehrenamtliche Helfer werden bei ihrer Arbeit durch professionelle Supervision begleitet. Silbernetz wird von den Ländern Berlin und Nordrhein-Westfalen sowie fünf Berliner Jobcentern gefördert und durch Stiftungen, Unternehmen und Spendern unterstützt.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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