Seit April 2023 ist es in Nordrhein-Westfalen deutlich leichter, der NS-Vergangenheit der eigenen Familie nachzuspüren.
Damals stellte das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen einen Großteil der Entnazifizierungsakten online. Musste man früher noch Archive kontaktieren und besuchen, reicht es nun, den Namen des Vorfahren in eine Datenbank zu tippen und sich durch die Dokumente zu klicken. Ein Gesamtbild liefern diese Akten trotzdem noch nicht.
Ist die Online-Datenbank der Entnazifizierungsakten vollständig?
Nicht ganz. Beim Landesarchiv Nordrhein-Westfalen liegen über eine Million Einzelfallakten zur Entnazifizierung. Da die Instandhaltung und Digitalisierung dieser Akten noch andauert, sind bisher nur 65 Prozent des Bestands online. Zu den Akten kommen Sie hier.
Aus Datenschutzgründen wurden zudem nur die Akten von Personen veröffentlicht, deren Geburtsdatum 100 Jahre zurückliegt. Da das Online-Archiv nur alle paar Jahre aktualisiert wird, bedeutet das: Das Geburtsdatum muss vor 1923 liegen. Wer später geboren wurde, war jedoch selten Ziel der Entnazifizierung, sagt Raymond Bartsch vom Landesarchiv Düsseldorf. "Diese Menschen waren zwar womöglich an Verbrechen beteiligt, aber durch die Entnazifizierung sollte vor allem verhindert werden, dass Nazis der ersten Stunde wieder in einflussreiche Positionen kommen."
Meine Vorfahren stammen aus anderen Bundesländern oder flohen aus den damaligen Ostgebieten – wie komme ich an ihre Akte?
NRW ist bisher das einzige Bundesland, das die Akten digital anbietet. Sucht man nach Verwandten, die zum Zeitpunkt der Entnazifizierung in anderen Bundesländern lebten, muss man die jeweiligen Landesarchive kontaktieren. Bei Vertriebenen aus den Ostgebieten wurde die Entnazifizierung in den jeweiligen Bundesländern durchgeführt, in die sie flohen.
Was befindet sich in einer Einzelfallakte?
Alle Beschuldigten mussten ein Formular ausfüllen, in dem persönliche Daten, die berufliche Laufbahn, Militärdienst und Mitgliedschaften in nationalsozialistischen Organisationen abgefragt wurden. Die meisten Akten enthalten zudem einen Einreihungsbescheid oder ein Entlastungszeugnis, auch Persil-Schein genannt. Details über das Verfahren, Vernehmungen und wörtliche Protokolle sind eher selten.
Als die Entnazifizierung immer stärker in deutscher Hand war, "wurden gegen Ende der 40er Jahre ganz viele Leute wieder heruntergestuft", sagt Thomas Roth, wissenschaftlicher Mitarbeiter im NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln. So landeten deutlich über 90 Prozent in der Kategorie 4 (Mitläufer) oder 5 (entlastet).
Wie groß ist die Aussagekraft der Entnazifizierungsdokumente?
"Die Entnazifizierungsakten sind eine problematische Quelle, denn sie zeigen nur einen sehr speziellen Ausschnitt der ganzen Wahrheit", sagt Roth. Zwar seien die Dokumente ein guter Anstoß, um Gespräche über die NS-Vergangenheit über Generationen hinweg zu fördern. Doch die Aussagen der Beschuldigten zielten meist darauf ab, ihre berufliche Zukunft in der Nachkriegsgesellschaft zu sichern. "Insofern beinhalten die Akten viele Verfälschungen und Bagatellisierungen. Die Beteiligung am NS-Regime wird teils stark beschönigt und Verantwortlichkeiten weggelassen", so Roth. "Angehörige, die diese Akten benutzen, müssen immer eine Gegenprüfung mit weiteren Quellen machen."
Etwa zehn Prozent der Bewohner Nordrhein-Westfalens mussten sich der Entnazifizierung unterziehen. Wer während der NS-Zeit im öffentlichen Dienst tätig war oder ein wichtiges Amt in den Medien, der Justiz oder der Wirtschaft innehatte, durchlief diesen Prozess automatisch. Andere Parteimitglieder konnten der Entnazifizierung oft entgehen.
Wie kann man in der Recherche weiter vorgehen?
Eine der wichtigsten Anlaufstellen ist das Bundesarchiv in Berlin: Dort werden die NSDAP-Mitgliederkarteien aufbewahrt, von denen noch circa 80 Prozent erhalten sind. In der Akte sind etwa Parteikorrespondenzen, Mitgliedschaften in nationalsozialistischen Organisationen und Personalunterlagen von SS- und SA-Angehörigen enthalten. Angehörige können beim Bundesarchiv nachfragen, ob eine solche Akte über ihren Verwandten vorliegt. Sie können auch den militärischen Lebenslauf beantragen, er gibt Aufschluss über die Truppenzugehörigkeiten, Auszeichnungen und Verwundungen.
Eine weitere Quelle ist das Militärarchiv in Freiburg: Hier werden Personalakten der Berufsoffiziere und Beamten der Wehrmacht aufbewahrt.
Das Interesse an der NS-Vergangenheit in der eigenen Familie scheint zuzunehmen. Wieso?
Die Auseinandersetzung wird mit dem Versterben der Generation der Täter leichter, vermutet Thomas Roth. Die Sorge, Angehörige mit den Nachforschungen zu verletzen, nimmt ab. "Oftmals ist es die zweite oder dritte Generation, die eine Art familiäre Bilanz ziehen will und sich mit der Familiengeschichte beschäftigt." Trotzdem werde in vielen Familien bis heute dieser Teil der Geschichte verdrängt. "Das Bedürfnis, eine heile Familienerzählung zu erhalten, ist weiterhin groß."
Bei welchen Fragen kann man sich bei der Recherche an das NS-Dokumentationszentrum wenden?
"Ein Hauptteil unserer Arbeit besteht darin, dass wir uns mit geschichtsinteressierten Bürgerinnen und Bürgern auseinandersetzen", sagt Thomas Roth. Deshalb könnten sich Angehörige bei der Recherche mit jeglichen Fragen an die Mitarbeiter wenden – sei es bezüglich einer Einschätzung zu einem Foto aus dem Familienerbe oder auf der Suche nach Hintergrundinformationen. "Dadurch bekommen wir Materialien zu Gesicht, die auch für unsere Forschung interessant sein könnte." © Kölner Stadt-Anzeiger
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