"Es war die schwerste Entscheidung unseres Lebens", sagt Sarah Lenz. Eine Entscheidung, die sie letztlich mit ihrem Mann Julian aus Liebe zu ihrem Kind getroffen habe.
Das Kind heißt Esther. Das Leben von Esther musste im vierten Schwangerschaftsmonat beendet werden. Sie litt unter dem Ullrich-Turner-Syndrom: ein seltener Gendefekt, bei dem ein weibliches Geschlechtschromosom fehlt. Esther hatte zudem nur eine Herzklappe. Esther ist ein sogenanntes Sternenkind.
Dieser Text gehört zu den beliebtesten Inhalten des Jahres 2024 und wurde erstmals am 25. Februar 2024 veröffentlicht.
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes wurden 2022 bundesweit mehr als 3240 Kinder tot geboren. Begrifflich unterschieden wird zwischen Tot- und Fehlgeburt. "Eine Fehlgeburt ist die vorzeitige Beendigung der Schwangerschaft vor der 24. Schwangerschaftswoche, wobei das Geburtsgewicht des Kindes unter 500 Gramm liegt. Bei einer Totgeburt wiegt das Kind mindestens 500 Gramm und ist im Mutterleib oder während der Geburt verstorben", erklärt Miriam Rossa, Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Beiden Geburten gemein sei der unendliche Schmerz der Eltern.
Sternenkinder: Eltern bleibt oft nur die schmerzhafte Erinnerung
Den Eltern bleibt oft nur die Erinnerung. So wie bei Sarah und Julian Lenz. "In unseren Herzen lebt Esther weiter", sagt Sarah Lenz, die von ihrer Tochter nicht mehr als ein paar Handyfotos hat. Die stille Geburt, inklusive Wehen, fand im Dezember 2020, wenige Tage vor Weihnachten, unter strengsten Corona-Bedingungen statt.
"Julian hat auf dem Parkplatz gewartet. Wir waren alleine im Kreißsaal, während nebenan Mütter ihre Kinder lebend zur Welt brachten. Das war eine Ausnahmesituation und prägend für uns", so die Lommersumerin, die mittlerweile in Rösrath lebt.
Sternenkind-Mutter würde heute professionelle Fotos machen lassen
Heute – gut drei Jahre später – wünscht sich Sarah Lenz immer wieder, dass sie mehr als nur ein Handyfoto von ihrer Tochter hätte. Damit es anderen Eltern, die ein Sternenkind zur Welt bringen, nicht genauso geht, engagiert sich die 38-Jährige in der Stiftung "Dein Sternenkind".
Die Stiftung habe es sich zur Aufgabe gemacht, Eltern von Sternenkindern Bilder dieser Kinder zu schenken, erklärt Lenz: "Es sind oftmals die einzigen greifbaren Erinnerungen, die die Eltern von ihren Kindern haben. Sie dienen der Trauerbewältigung, dem Nachweis, tatsächlich Eltern zu sein, als Existenznachweis und Halt."
Dazu habe die Stiftung eine Infrastruktur geschaffen, die ähnlich einer Rettungsleitstelle arbeite. Über einen zentralen Ruf (Internetformular oder Anrufbeantworter) wird von den Kliniken oder den Eltern eine Einsatzanforderung abgesetzt. "Innerhalb weniger Minuten ruft ein Mitglied des Koordinationsteams zurück, um den Einsatz zu verifizieren und alle weiteren Schritte in die Wege zu leiten", erklärt die Sternenkind-Mutter: "Meist innerhalb einer halben Stunde steht ein Fotograf zur Verfügung, der das Sternenkind fotografiert."
Esther sei täglicher Bestandteil des Familienlebens, berichtet Sarah Lenz: "Ein schönes Foto von Esther würde den Prozess der Verarbeitung der stillen Geburt einfacher machen." Auch, weil Sarah und Julian Lenz noch einmal vom Schicksal herausgefordert wurden. Zu den 3240 tot geborenen Kindern im Jahr 2022 gehört nämlich auch Helen Lenz – die Schwester von Esther. Eineinhalb Jahre nach der ersten Totgeburt brachte die 36-Jährige erneut ein Kind nicht lebend zur Welt.
Helens Zwillingsschwester Jana aber schaffte es. Sie ist heute 18 Monate alt. "Der Kinderwunsch war trotz des Schicksalsschlages ungebrochen", erzählt Sarah Lenz. Mit ihrem Mann entschied sich die gebürtige Lommersumerin nach dem Tod ihres ersten Kindes zu einer künstlichen Befruchtung. Der erste Versuch war erfolglos, der zweite klappte. Sarah und Julian Lenz erwarteten eineiige Zwillinge. "Die Freude war groß, aber ich hatte das Gefühl, dass die Schwangerschaft schwierig werden wird", erinnert sich die 38-Jährige.
Und so kam es auch. Das Schicksal hielt noch mehr Herausforderungen bereit. War es Mutterinstinkt? War es gebotener Pessimismus, nach der ersten Totgeburt eine Risikoschwangerschaft einzugehen? Warum schaut man sich einen Zwillingskinderwagen an, fährt ihn sogar Probe, aber bestellt ihn nicht? Eine Antwort darauf hat auch Sarah Lenz nicht. Vielleicht eine Bauchentscheidung nach der Herzensentscheidung, noch einmal schwanger werden zu wollen.
Dann kam die 19. Schwangerschaftswoche. Wieder schlug das Schicksal zu. Die Ärzte diagnostizierten das Zwillingstransfusionssyndrom, auch Fetofetales Transfusionssyndrom (FFTS) genannt. Es ist ein seltenes Krankheitsbild, das bei ungefähr einer von 1500 Schwangerschaften auftritt. Sarah und Julian Lenz entschieden sich für eine Operation, um die Überlebenschancen ihrer Kinder zu erhöhen.
"Der Arzt sagte uns, dass es in 80 Prozent der Fälle beide Kinder schaffen", so Sarah Lenz. Es kam anders. Bei der Routineuntersuchung einen Tag nach dem Eingriff offenbarte der Ultraschall, dass nur ein Herz schlägt.
Was folgte, waren Wochen, die an die Substanz der Eltern gingen. "Ich stand an der Kasse und fragte mich, ob die Leute mich komisch anschauen, weil sie sehen, dass ich nur ein lebendes Kind in mir trage", erinnert sich die Mutter, die dank der professionellen Hilfe einer Psychologin die Herausforderung meisterte.
Geburt von Zwillingen läuft nicht ohne Komplikationen ab
Doch auch die Geburt in der Uni-Klinik Köln nach 28 Schwangerschaftswochen lief nicht ohne Komplikationen ab. Die Rösratherin brauchte nach eigenen Angaben 15 Blutkonserven, musste kurzzeitig ins Koma versetzt werden.
Während seine Frau im künstlichen Koma lag, pumpte Julian Lenz Muttermilch ab, um Jana zu versorgen. Die wog zu diesem Zeitpunkt gut 1100 Gramm, verteilt auf 39 Zentimeter – relativ viel für ein Frühchen. "Drei Tage nach der Geburt war ich dann endlich so richtig Mama – ohne Drama, ohne Komplikationen und weitere Schicksalsschläge", erzählt Sarah Lenz.
Und Jana? "Die ist durch die Zeit durchmarschiert. Zwei Monate war sie noch in der Klinik", so die Mutter. Diesmal meinte es das Schicksal gut mit der jungen Familie. Bleibende Schäden habe ihre Tochter nicht davon getragen. Natürlich merke man an der einen oder anderen Stelle, dass sie ein Frühchen ist.
"Aber sie ist auch eine Maschine und meistert die Herausforderung Leben hervorragend", sagt die stolze Mutter, die die ehrenamtliche Arbeit bei der Stiftung auch ein wenig als Bewältigungstherapie nutzt. Vor allem aber wolle sie anderen Eltern helfen. Helfen bei der Verarbeitung des Verlusts. Und das funktioniere auch mithilfe von Fotos.
Ein weiteres Kind wollen und können weder sie noch ihr Mann Julian kategorisch ausschließen. Sie habe noch Liebe für 1000 Kinder in sich, sagt die 38-Jährige. Den Verlust eines weiteren könne sie aber wohl nicht verkraften. Deshalb fließe im Moment die tausendfache Liebe in Jana – und in die Stiftung.
Fotos von der Stiftung
Die Stiftung "Dein Sternenkind", bei der die Lommersumerin Sarah Lenz ehrenamtliche Koordinatorin ist, sucht ambitionierte Fotografen für die Sternenkinder-Fotografie. Die Stiftung bietet eine Plattform, auf der sich Fotografen kostenlos listen lassen können, um den Eltern unentgeltliche Fotografien von ihrem Sternenkind anzubieten.
"Die Erinnerungsbilder sind für Eltern unendlich wertvoll und können eine wichtige Unterstützung bei der Trauerbewältigung sein", sagt Lenz, die selbst eine zweifache Sternenkind-Mutter ist. Bundesweit seien mehr als 600 Fotografen im Einsatz. "Jeder unserer Fotografen arbeitet auf freiwilliger und unbezahlter Basis", erklärt Lenz. Im März findet in Bonn ein Workshop für interessierte Fotografen statt, die bisher noch nicht registriert sind. Wer Interesse hat, soll sich laut Lenz auf der Stiftungsseite im Internet registieren. (tom) © Kölner Stadt-Anzeiger
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