"Zuerst sterben die Kneipen, dann die Kantinen", sagt Frank Raddatz, Gastro-Profi seit 48 Jahren. Der Speisesaal im Siegburger Amtsgericht: Vergangenheit.

Mehr News aus Nordrhein-Westfalen finden Sie hier

Die Mittagsverpflegung im Sankt Augustiner Finanzamt: ebenfalls dicht. Der Trend zum Homeoffice vor allem hat etlichen Großküchen in der Region den Garaus gemacht. Raddatz aber will die Stellung halten im Siegburger Finanzamt.

Sicher noch einige Jährchen, wenn es die Gesundheit zulässt. Er punkte vor allem mit niedrigen Preisen: Den gut bürgerlichen Mittagstisch zu 4,50 oder 6,50 Euro "können sich auch Rentner leisten", sagt der 63-Jährige. 5,50 Euro kostet das vegetarische Gericht.

Kein Hinweis in der Siegburger Mühlenstraße und auf der Behörden-Homepage

Raddatz genießt den spektakulären Ausblick aus dem vierten Stock auf die Servatiuskirche, die verschnörkelten Altbau-Giebel in der Mühlenstraße - und die Gesellschaft. Der gelernte Koch und Restaurantfachmann (er errang einst den Titel als Deutschlands bester Kellner) mag den Kontakt mit Menschen, hier mal ein Schwätzchen, dort mal ein Witz.

Die Landesbehörde stütze seinen Betrieb, er müsse weder Pacht noch Strom und Wasser zahlen, so Raddatz, im Saal herrsche dafür kein Verzehrzwang, "die Kantine ist zugleich Aufenthaltsraum für die Bediensteten". Nur ihren Müll müssen die Gäste wieder mitnehmen, mahnt ein Aushang. Die Entsorgung gehe zu seinen Lasten.

Frank Raddatz, der einst die Niederpleiser Mühle betrieb, macht der anhaltende Trend zum Homeoffice zu schaffen.Von den rund 400 Angestellten seien stets nur 150 im Amt anwesend, schätzt er. Dass die Kantine offen sei für alle, dass er von 11.30 bis 13.30 Uhr, freitags bis 13 Uhr alle Gerichte, auch die Snacks und das Frühstück (von 7 bis 10 Uhr) ohne Aufpreis für die Gäste von draußen anbietet, das wüsste kaum jemand.

An der Mühlenstraße und auch auf der Homepage der Finanzverwaltung gibt es keinen Hinweis auf die Kantine, die Kunden müssen sich zudem am Empfang melden, erst dann wird die zweite, automatische Tür geöffnet, eine Info mit Öffnungszeiten und Speiseplan findet sich erst im Aufzug.

Kantinenpächter im Siegburger Kreishaus bringt Erfahrung aus dem Amtsgericht mit

Raddatz arbeitet seit drei Jahren ganz oben ganz allein. Vor Corona seien drei Leute beschäftigt gewesen. "Heute kaum zu kriegen und nicht zu finanzieren", sagt er. Er achte auf Sonderangebote, "ich bin oft der Erste in der Metro". Existieren könne er kaum vom Kantinenbetrieb, der Selbständige betreibt noch ein Catering.

"Vom Essen allein können wir nicht leben", sagt auch Sven Golombek, der vor zwei Jahren die Kantine im Kreishauses übernommen hat. "Das Homneoffice hat vieles kaputt gemacht." Zehn Jahre hatte er für die Verpflegung im Amtsgericht gesorgt, ein Jahr lang führte er beide Kantinen parallel. Sechs Angestellte sind bei Golombek in Lohn und Brot, sein Betrieb zieht auch andere Aufträge an Land, tischt bei Tagungen auf oder bei Schulungen für Rettungskräfte.

Das Untergeschoss des Kreishauses ziehe nicht nur Kunden aus der Behörde an, der Zugang sei einfacher als im Amtsgericht mit seiner Einlasskontrolle. Gäste von außen müssen allerdings einen Euro mehr pro Mahlzeit bezahlen, der Grundpreis für Menüs und Pizza liegt bei 7,50 beziehungsweise 9,50 Euro. Eintopf gibt's für 5,50 Euro. Vegetarisches werde immer mehr nachgefragt, so der 50-Jährige. Er koche frisch, regional und saisonal. Er sieht noch schwierigere Zeiten kommen: Die CO2-Abgabe werde die Lebensmittel weiter verteuern.

Bis Corona 2020 sei die Kantine im Amtsgericht gut gelaufen, teilt Richter Dirk Oberhäuser mit, zuständig für die Pressearbeit. "Durch die Pandemie, die Änderung der Lebensgewohnheiten und die Einführung der elektronischen Akte hier im Haus mit immer größeren Möglichkeiten zum Homeoffice kam es zu einem sprunghaften Rückgang der Inanspruchnahme."

Der neue Betreiber, der am 1. Januar 2024 übernahm, hielt nicht lange durch, so Oberhäuser: "Zuletzt wurden mitunter weniger als 20 Essen pro Tag ausgegeben." Der Saal im fünften Stock, der den wohl schönsten Ausblick auf den Michaelsberg, das S-Carre und den Bahnhof bietet, bleibt erstmal leer stehen. Eine wirtschaftliche Führung sei unter diesen Umständen nicht möglich, "eine Neuausschreibung wird – jedenfalls derzeit – nicht erfolgen".

Im Siegburger Siegwerk gibt es auch für die Spätschicht noch eine warme Mahlzeit

Das Siegwerk, der größte Arbeitgeber in der Region, hat noch eine Kantine, die aber nur den rund 1000 Beschäftigten und den auf dem Werksgelände tätigen Mitarbeitern von Fremdfirmen offensteht, teilt Sprecherin Bettina Horbacher mit. Die Öffnungszeiten seien auf den Schichtbetrieb abgestimmt, frühmorgens gebe es Brötchen und für die Spätschicht noch ein warmes Essen.

Die Preise bewegten sich zwischen 4,40 Euro für ein vegetarisches Gericht und acht Euro, ermöglicht durch einen Zuschuss der Firma. Der Caterer sei seit 2003 im Hause tätig, biete auch einen Konferenz- und Automatenservice an und beliefere Veranstaltungen innerhalb des Unternehmens mit Speisen und Getränken, so Horbacher.

Vielen Dank für Ihr Interesse
Um Zugang zu allen exklusiven Artikeln des Kölner Stadt-Anzeigers zu erhalten, können Sie hier ein Abo abschließen.

Der Trend zum Homeoffice falle kaum ins Gewicht, da das Gros der Belegschaft in der Produktion beschäftigt ist. Seit 2021 sei der Kundenzuspruch in der Kantine auf ähnlichem Niveau. Einige würden mittags zwar auch mal das Angebot in der nahen City nutzen, das koste aber meist mehr Geld - und auf jeden Fall mehr Zeit.   © Kölner Stadt-Anzeiger

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.