Leverkusen ist es gelungen, die Dominanz des FC Bayern in der Bundesliga zu durchbrechen. Das Interesse daran scheint aber kleiner zu sein als erwartet. Dazu äußert sich Fanforscher Harald Lange. Er erklärt auch, was Geschäftsführer Fernando Carro falsch macht und was in Leverkusen trotzdem besser läuft als beim FC Bayern.
Herr Professor Lange, Bayer Leverkusen hat eine außergewöhnlich gute Saison hingelegt: Deutscher Meister und DFB-Pokalsieger und dabei als erste Mannschaft in der Bundesliga überhaupt ohne Niederlage. Trotzdem kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Leistung nicht so viel öffentliches Interesse erfährt, wie man vielleicht erwartet hätte oder wie es mutmaßlich bei einem anderen Team der Fall gewesen wäre. Sehen Sie das auch so? Und wenn ja, was könnte ein möglicher Grund dafür sein?
Prof. Harald Lange: Es gibt da viele Aspekte, die wir beleuchten müssen. Einer wäre schon der Blick auf die Vorsaison, als Borussia Dortmund im letzten Spiel noch sehr überraschend vom FC Bayern abgefangen wurde. Da war dieser Mythos der Münchner Unbezwingbarkeit eigentlich schon gebrochen und da hat dann Dortmund viel Mitleid in der Fankultur geerntet. Das war schon der Moment, wo man gesehen hat, dass aufgrund der organisatorischen und personaltechnischen Schieflage bei Bayern München die Dominanz gebrochen ist. Das wurde in dieser Saison konsequent fortgesetzt, dann durch Bayer Leverkusen. Darüber freuen sich alle Nicht-Bayern-Fans.
Die Euphorie hielt sich aber auch nach meinem Dafürhalten in Grenzen. Die wäre bei einem Traditionsverein wie beispielsweise Dortmund, Schalke, Kaiserslautern oder Hamburg weitaus größer gewesen. Nichtsdestotrotz kann man auch bei Leverkusen feststellen, dass der Klub allein hinsichtlich seiner Mitgliederzahlen in dieser Saison große Zuwächse hat. Da sind allein vom vergangenen Dezember bis zum Saisonende rund 10.000 Mitglieder mehr dazugekommen. Die kommen einerseits in die Vereine, um besser an Karten ranzukommen. Andererseits ist das aber auch immer ein Indikator, wie sich die Fankultur eines Vereins breiter aufstellt. Für die Meisterfeier hat Leverkusen die heimische BayArena aufgemacht und da waren auch rund 40.000 Zuschauer dabei.
Dieser Titel tut auch dieser sogenannten Werkself gut, die immer ein bisschen in Verdacht steht, eine Art Plastik-Klub zu sein, weil sie gewisse Vorteile hat. Sie gehört Bayer. Bayer gleicht Verluste aus. Bayer schöpft Gewinne ab. Es ist ein Unternehmen, das streng genommen immer im Verdacht steht, die 50 +1-Regel zu unterwandern beziehungsweise da eine Ausnahmeregelung braucht. Und das wirkt sich auf die Breite der Fankultur dahingehend aus, dass man die auch immer ein bisschen mit Argwohn betrachtet.
Deshalb sorgen die jetzt nicht für so viel Euphorie wie andere klassische Traditionsmannschaften. Leverkusen ist keine Vereinsmannschaft im klassischen Sinne. Aber auf der anderen Seite kann man sehen, dass sich auch dieser Klub, dadurch dass er die Bayern nach elf Jahren ablöst, viele Sympathien verschafft hat. Es tut dem deutschen Fußball in doppelter Hinsicht gut: Einmal, dass so Werksmannschaften jetzt Anerkennung bekommen in ganz anderen Feldern. Das Zweite ist, dass die Dominanz der Bayern jetzt auch wirklich durchbrochen ist, wobei man das gefühlt auch im letzten Jahr schon gesehen hat.
Sie haben schon den Punkt der Sympathie angesprochen. Einmal pro Saison wird ein Überblick darüber veröffentlicht, welche Bundesligamannschaft am sympathischsten ist. Die letzte Erhebung wurde im Dezember veröffentlicht und da war Leverkusen, obwohl die Saison da schon sehr gut lief, noch auf Platz zwölf. Würden Sie sagen, das liegt hauptsächlich an diesem Plastik-Image oder könnte es noch einen anderen Grund geben? Und wie könnte sich das in Zukunft ändern?
Das wird schwierig. Sie haben jetzt durch die beiden Titel und durch den Vizetitel in der Europa League einen starken Rückenwind. Sie verkaufen ihr Image aber nach wie vor als Geschäft. Der Geschäftsführer Fernando Carro, der gar nicht aus dem Fußball kommt, sondern von Bertelsmann dorthin gewechselt ist, tut nicht wirklich viel dafür, eine bodenständige Fußball-Romantik zu verbreiten. Er macht das klassisch als Manager und ist ein ganz wichtiges Gesicht dieses Vereins. Das macht es in fankultureller Hinsicht schwer, als Verein zu wirken wie jeder andere.
Das wäre in Ländern wie Spanien oder England gar kein Problem. Aber mit Blick auf die Traditionen in der deutschen Fußball-Fankultur fällt es schwer, außerhalb von Leverkusen eine breite Fanbasis aufzubauen, so wie es der BVB, Borussia Mönchengladbach oder Bayern München und andere Traditionsvereine geschafft haben. Mönchengladbach ist ein gutes Beispiel. Das ist eigentlich auch ein ganz kleiner Verein, der aber durch seine Erfolge in den 1970er- und 1980er-Jahren damals eine breite Fanbasis in ganz Deutschland aufgebaut hat. Das könnte Leverkusen auch machen. Da bin ich aber jetzt noch skeptisch, weil da insgesamt immer noch das Image des Werksvereins herrscht. Das bremst.
Eigentlich müssten die Fans Leverkusen scharenweise hinterherlaufen
Im Zuge der Leverkusener Feierlichkeiten zum Ende der Saison erweckten Videos von Feiern den Eindruck, dass da sehr viel weniger los ist, als man erwarten würde, dass da weniger Menschen sind. Dafür, dass Leverkusen jetzt schon längerfristig ein Top-5-Klub in der Bundesliga ist, hat der Verein relativ wenig Fans und Mitglieder. Kann man das so sagen?
Genau, gemessen an dem ist es erstaunlich wenig. Man muss sich diese außergewöhnlich gute Saison mit nur einer Niederlage in über 50 Spielen einmal vergegenwärtigen. Wie die gespielt haben, wie erfolgreich, wie dominant die waren und auch wie konsequent. Sie haben auch viele Spiele in der Nachspielzeit ausgeglichen. Das zeigt, in der Mannschaft steckt all das drin, was sich Fans wünschen: Leidenschaft, Bereitschaft, die Erzwingung, das Glück, all diese romantisch verklärten Sportdinge – die haben wir in dieser Saison gesehen.
Gemessen an dem müssten die Fans dem Verein scharenweise hinterherlaufen. Da scheint eine Bremse drin zu sein, aber es sind doch einige, die sich haben motivieren lassen. Und jetzt muss man schauen, wer ist das, der da jetzt Mitglied wird? Sind das Erfolgsfans, die jetzt auf der Erfolgswelle mitreiten wollen und sich deswegen eine Dauerkarte kaufen? Oder sind das Fans, die eine wirkliche Bindung zu dem Klub haben? Das ist immer die Gefahr, wenn Mitgliederzahlen rasant ansteigen. Dann kann es passieren, dass man da viele Eventfans einfängt, die dann am ersten Tag nach der zweiten Niederlage alle wieder weg sind.
Ist da für Leverkusen auch die Region ein Problem, weil da die Konkurrenz sehr groß ist? Nordrhein-Westfalen ist bekannt für seine hohe Dichte an großen und traditionsreichen Fußballklubs.
Könnte man meinen, das sehe ich aber nicht so. Köln zum Beispiel hat ein großes Fan-Potenzial. Natürlich ist das Konkurrenz, aber Konkurrenz belebt das Geschäft. Die ganze Region mit Mönchengladbach, Köln, Leverkusen, dann weiter hoch ins Ruhrgebiet, da gibt es Klub an Klub, auch in der zweiten, dritten und vierten Liga mit großer Fanbasis. Da ist immer genug Potenzial für jeden Klub da, um eine eigene Fanbasis zu schaffen. Vor allem für einen Klub, der wie Leverkusen so viele Jahre so erfolgreich spielt, wäre es eigentlich ein Leichtes, so eine Fanbasis aufzubauen.
Darum sollte sich Leverkusen für die 50+1-Regel einsetzen
Was müsste Leverkusen anders oder besser machen, um dieses Fan-Potenzial für sich auszuschöpfen?
Das ist schwer. Normalerweise könnte man sagen, man muss über das Thema Verein und Vereinsrecht ins Gespräch kommen. Man müsste sich vom Schutzschirm von Bayer lösen, sodass man auf eine Ebene käme mit allen anderen 50+1-Klubs, aber das ist illusorisch. Leverkusen hat den Vorteil, dass es dieses Konstrukt für sich hat. Den wird es aus wirtschaftlicher Sicht niemals aufgeben. Selbst wenn sie es in Leverkusen aufgeben würden, würde das immer nachwirken. Es würde also wahrscheinlich auch gar nichts bringen.
Sie haben dieses Image und deshalb wäre meine Empfehlung, mit diesem Image offensiv weiterzuarbeiten und auch deutlich zu machen, weshalb so eine Werksmannschaft zur Bundesliga dazugehört. Sie sollten sich auch, das macht Carro eben nicht, stark für 50+1 einsetzen, weil das insgesamt für den deutschen Fußball ein großer internationaler Wettbewerbs- und Imagevorteil ist. Wenn sie sich aber dagegen wenden, wirken sie wie ein Stachel in der schönen, romantischen Fußballwelt. Leverkusen sollte sich bereit erklären, den Vorteil, den es hat, ausrechnen zu lassen und auszugleichen, sodass das Ganze sportlich auch fair ablaufen kann. Und dann das Bekenntnis zu 50+1. Das ist eine schwierige Rhetorik, die man da hinbekommen muss.
Und zweitens: Es gibt jetzt einige Aspekte in dieser Mannschaft, im Trainerstab und in der Vereinsführung, die prädestiniert dafür sind, Zuspruch, Bindung und Zuwachs in der Fanbasis zu bekommen. Da ist in erster Linie der Trainer Xabi Alonso zu nennen, der jetzt schon mehr oder weniger Kultstatus hat. Nicht nur, weil er so gut ist und nicht nur, weil er ganz offensichtlich eine Mannschaft führen kann auf allerhöchstem Niveau, sondern vor allem, weil er dem Bayern-Angebot widerstanden hat. Das war ein glasklares Bekenntnis zu seinem Verein. Das wiederum wirkt positiv auf die Vereinsführung.
Wenn man die Vereinsführung von Bayer Leverkusen mit der von Bayern München vergleicht, dann sind das Welten, die die auseinanderliegen. In Bayern herrscht Freiflug. Da weiß man jetzt schon, dass das mit dem neuen Trainer auch wieder nichts wird. Man ist froh, dass man überhaupt einen gekriegt hat. Bei Leverkusen hat man das Gefühl, die sind klar und professionell und die Spieler und Trainer fühlen sich wohl. Auch dass man einen Spieler wie Florian Wirtz dort halten kann, ist sehr wichtig. Das ist ein Punkt, der mittel- und langfristig wirken kann. Wenn sie das noch ein Jahr schaffen, dann wird die Fanbasis wachsen können. Wenn Leverkusen erfolgreich bleibt und vor allem auch so klar bleibt, dann sehe ich da gute Chancen, dass es einmal das Image dieser Werksklubs aufpolieren kann. Dann bekäme Leverkusen auch den Stellenwert in der Fankultur, den es sportlich verdient.
Weil Sie den neuen Bayerntrainer
Dafür gibt es keine rationalen Gründe. Das ist so eine gefühlige Gemengelage bei Bayern. Da hat man das Gefühl, egal was sie machen, das steht alles unter Vorbehalt. Die hatten zwei Top-Trainer zuletzt mit Julian Nagelsmann und Thomas Tuchel. Die Ironie an dieser ganzen Geschichte ist, dass sie beide gefeuert haben und sie zu einem späteren Zeitpunkt dann wieder wollten. Und dann haben sie keinen anderen Trainer gekriegt und haben jetzt einen Trainer aus der zweiten, dritten Reihe.
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Kompany ist sicherlich ein hoffnungsvolles Talent. Aber es weiß mittlerweile jeder, dass es einem Bayerntrainer nicht mehr zugestanden wird, wenn auch mal ein Spiel oder mehrere verloren gehen. Dabei gehört das zum Fußball dazu. Beim FC Bayern ist das ur-unsportlich. Das ist verloren gegangen. Und das haben jetzt die Fans auch verstanden. Deshalb sind die immer skeptisch und warten eigentlich nur, wann er die ersten zwei Spiele hintereinander verliert. Wann scheidet er irgendwo aus dem Pokal aus?
Und da hat man wenig Vertrauen. Dieses Vertrauen in München aufzubauen, ist enorm schwierig. Bei Leverkusen hingegen läuft es in der Hinsicht brillant. Die handelnden Personen sind bedacht und kompetent. Und sie halten alles zusammen und lassen sich nicht von der Mannschaft kaputt kaufen, die in den letzten Jahren alle anderen kaputt gekauft hat. Das ist genau das Modell, was eigentlich Fußballfans anspricht und da muss man einfach so weitermachen.
Lange: Daran muss Bayer Leverkusen noch arbeiten
Bleiben wir bei Leverkusen: Im Zuge des DFB-Pokalfinals, das Leverkusen gegen Kaiserslautern gewann, wurde viel über die Choreografien im Berliner Olympiastadion gesprochen. Da gab es auf der einen Seite die sehr beeindruckende Choreo der Roten Teufel und auf der anderen Seite die eher etwas spärlichere Choreografie von Leverkusens Seite. Ist das einfach auch eine Frage der Tradition? Oder gibt es vielleicht noch einen anderen Grund dafür, dass das thematisch dann so im Fokus stand?
Bei diesem Finale spielten vor allem zwei Dinge eine wichtige Rolle. Einmal sind neutrale Fans grundsätzlich geneigt, den Underdog zu unterstützen. Und mit Blick auf die Fankultur ist es so, dass Kaiserslautern, das auch in der 2. Liga eine Top-Kulisse auf dem Betzenberg hat, dieses Potenzial in der direkten Auseinandersetzung mit so einem Werksklub oder Plastik-Verein sieht und es dann wichtig ist, eine Choreografie zu haben, die Maßstäbe setzt. Und das hat sie zweifelsohne gemacht.
Das hat sich auch auf positiv ausgewirkt. Im Sinne von, da haben die gerade mal 1:0 gewonnen. Dann kam noch diese rote Karte dazu, das hätte tatsächlich anders laufen können. Diese Underdog-These, dass der Kleine dann plötzlich den Lucky Punch setzt, das hätte passieren können. Das zeigt die Kraft, die Bedeutung und die Macht der Fankultur auch in psychologischer Hinsicht.
Daran muss so ein Klub wie Bayer Leverkusen noch arbeiten. Das sehe ich allerdings noch in weiter Ferne, weil Kaiserslautern auch Jahrzehnte lang Zeit hatte, so was zu entwickeln. Man muss sehen, was Deutschland für eine Fußball- und Fankultur hat. Das ist ein weiteres Argument, was auch die Leverkusener hautnah gesehen und erlebt haben, was für den Erhalt von 50+1 spricht. Da müssen sich selbst diese Klubs, die nur mit der Sonderregelung dann in der Bundesliga spielen können, für 50+1 stark machen.
Das heißt, für so eine Fanszene ist man auf den Faktor Zeit angewiesen? Man kann sowas nicht in irgendeiner Form künstlich erzeugen oder in irgendeiner Form anstupsen?
Es braucht Zeit und es braucht Entwicklung und Struktur. Es entwickelt sich auch nicht von selbst, gerade bei Klubs, die Start- und Akzeptanzschwierigkeiten haben, weil sie von ihrer Struktur her anders aufgestellt sind. Das ist beim VfL Wolfsburg und bei Leverkusen als Werksmannschaften noch machbar aus meiner Sicht, dass die sich ein eigenes Sonderimage geben können. Bei Hoffenheim und vor allem bei RB Leipzig ist es ausgeschlossen, dass sich das jemals entwickeln kann. Die in Hoffenheim, wo jetzt die A-Jugend Pokalsieger und Meister geworden ist, machen offensichtlich gute Nachwuchsarbeit. Aber das bringt letztlich auch dem Image nichts, bringt nichts in Richtung Zuschauerbindung. Die haben das Stadion mit der geringsten Auslastung in der Liga - und das, obwohl es eines der kleinsten Stadien ist. Da merkt man, dass da etwas Kulturelles mitschwingt.
In Leipzig haben sie noch irgendwelche Tricks, die Zuschauerzahlen künstlich hochzuhalten. Angeblich sind da Spiele immer über 90 Prozent ausverkauft, aber man sieht immer noch viele freie Flächen. Das ist etwas, da können Leverkusen und Wolfsburg versuchen, rauszukommen. Bei Wolfsburg fällt auf, dass die viel Basisarbeit in ihrer Region machen. Die haben ein sehr fortschrittliches Jugend-, Trainer-, Weiter- und Ausbildungskonzept, wo sie neben dem Verband Trainerweiterbildung machen, Talentsichtung in die Regionen reinmachen und die Regionalvereine dort rings um Wolfsburg auch unterstützen. Das ist auch ein vielversprechender Weg, um Akzeptanz in der Region und damit dann auch eine Fanbasis zu kriegen.
Zur Person
- Prof. Dr. Harald Lange ist seit 2009 an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, wo er Professor für Sportwissenschaft wurde und seither das sportwissenschaftliche Institut leitet. Er hat dort außerdem die Leitung der Fan- und Fußballforschung inne.
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