Julian Brandt ist einer der Gründe, weshalb der BVB aktuell auf Platz zwei der Tabelle steht und noch Chancen auf die Deutsche Meisterschaft hat. Rekordnationalspieler Lothar Matthäus brachte den 26-Jährigen unlängst als legitimen Nachfolger von Kapitän Marco Reus beim BVB in die Diskussion, doch davon will Brandt im Exklusiv-Interview mit unserer Redaktion nichts wissen. Er wolle lieber seine eigenen Fußstapfen hinterlassen, erklärt Brandt.
Das 3:3 beim VfB Stuttgart ist ein paar Tage her. Wie weit ist das Team mit der Aufarbeitung, wie waren die letzten Tage?
Was macht so ein Spiel mit Ihnen persönlich und wie kommt es an, wenn der eigene Trainer nach so einem Spiel sagt: "Wir sind die, über die heute ganz Deutschland lacht." Haben Sie da abends ins Kopfkissen gebissen oder wie sieht Ihre persönliche Verarbeitungsstrategie aus?
Ich gehe selbst introvertierter als manch anderer damit um. Ich glaube, dass man es mir nicht besonders ansieht, ich fange nicht an, Flaschen rumzuwerfen. Ich mache das eher mit mir selbst aus. Manchmal dauert es einen halben Tag, manchmal länger. Ich habe eher selten eine unmittelbare Reaktion auf etwas, was der Trainer in so einem Moment sagt. Und trotzdem war es natürlich gerechtfertigte Kritik. Es ist ja nicht so, dass wir ein gutes Spiel gemacht und am Ende nur unglücklich zwei Punkte verloren haben und trotzdem Lack vom Coach bekommen haben. Natürlich bin auch ich mit einem absolut desaströsen Gefühl aus dem Stadion raus. Die Kunst jetzt ist, nicht nur nach dem Wochenende, sondern allgemein, mal wieder die Kurve zu kriegen. Die Fans können sich darüber zurecht eine Woche lang aufregen, aber unser Job ist es, das Wochenende darauf eine Kehrtwende einzuleiten.
Julian Brandt: Haben kein "Mentalitätsthema"
Kehrtwende ist ein gutes Stichwort. Der vergebene Sieg in der Nachspielzeit gibt der eigentlich schon zu Grabe getragenen Mentalitätsdebatte beim BVB neuen Aufschwung. Wie geht das Team mit dem Thema Mentalität um, arbeitet die Mannschaft mit Mentaltrainern? Wie sehen Sie diese Debatte?
Jeder muss das für sich selbst entscheiden. Da gibt es nicht die eine richtige Lösung. Es gibt Jungs, die sehr verkopft sind und eher einen Mentalcoach oder einen Psychologen brauchen. Es muss auch nicht immer gleich ein Psychologe sein, es kann auch einfach eine vertraute Person sein, mit der man darüber redet. Es gibt Leute, und zu denen fühle ich mich eher zugehörig, die ein bisschen introvertierter sind. Die sind damit zufrieden, wenn sie allein irgendwo sind, ein, zwei Tage keinen um sich rumhaben und danach sagen können: "So, jetzt hab' ich es abgeschlossen und jetzt geht’s weiter." Damit fahre ich gut. Das heißt nicht, dass ich nicht mit Menschen rede. Aber klar, wir haben im Verein auch einen Psychologen, der unterstützt, der einem die Möglichkeit gibt, über Themen zu sprechen, die die anderen Spieler oder der Trainer nicht hören sollen. Da sind wir gut aufgestellt. Ich glaube aber auch nach wie vor nicht, dass wir hier diese Saison irgendein Mentalitätsthema haben. Überhaupt nicht. Das sind andere Themen, um die es bei uns geht.
Welche?
Es geht um taktische Disziplin, die wir in manchen Situationen vermissen lassen. Nicht im Spiel an sich. Wir gehen nicht in ein Spiel und sagen, wir machen, was wir wollen. Sondern wir haben Phasen. Das ist unser Problem. Die erste Halbzeit ist zum Beispiel gut, aber in den ersten zehn Minuten der zweiten Halbzeit wird es oft auf einmal sehr wild. Das ist für mich oft fehlende taktische Disziplin; es ist aber auch, Dinge nicht ordentlich zu Ende zu bringen. Das hat nichts mit Mentalität zu tun. "Ja wollt ihr überhaupt?" Ja, hundertprozentig würde ich meiner Mannschaft bescheinigen, dass wir alle wollen. Jeden Tag. Jedes Spiel. Es hat auch nichts damit zu tun, wie man in Zweikämpfe geht, weil wir auch ein Team sind, das gallig und eklig ist. Nur haben wir oft das Problem, wenn wir uns in Sicherheit wiegen, dass wir anfangen, uns nicht mehr an den Plan zu halten. Und das sind individuelle oder auch mannschaftliche Disziplinlosigkeiten. Da müssen wir uns weiterentwickeln. Wir sind andererseits eine junge Mannschaft, und es müssen noch viele dazulernen.
Sie haben aktuell Ihren Vertrag bis 2026 verlängert. Was hat den Ausschlag für den BVB gegeben? Man hört, es hätte auch Interesse aus dem Ausland gegeben.
Es ist immer schwierig, so etwas zu erklären, weil ich viel aus dem Gefühl heraus entscheide. Ich habe kein Flipchart zuhause, auf dem ich Pro und Contra abwäge. Es sind für mich diese Fragen: Sehe ich mich weiter in diesem Verein, fühle ich mich wohl, wie ist es mit der Mannschaft, wie ist es mit dem Trainer, wie ist es mit dem Verein, wie war der Umgang in den letzten Jahren? Ich habe schon jede Art von Phase hier durchlebt, deshalb weiß ich auch, wie es in der Phase war, als es richtig schlecht lief. Wurde draufgehauen oder wurde unterstützt? Ich habe bei Borussia Dortmund immer einen sehr großen Rückhalt empfunden. So kommen gewisse Bauchentscheidungen zustande und passieren manchmal auch schneller als erwartet. Ich hatte auch das Gefühl, dass ich hier noch nicht fertig bin. Ich bin hierhergekommen mit gewissen Erwartungen. Auch Erwartungen an mich selbst, nicht nur an den Verein. Denen bin ich zum Teil gerecht geworden, aber noch nicht vollkommen. Da nehme ich mir die nächsten Jahre noch Zeit, das zu erfüllen. Wer weiß, wo das alles mal hinführt. Der Vertrag läuft bis 2026, aber danach muss es ja nicht vorbei sein.
Brandt: "Möchte meine eigenen Fußstapfen hinterlassen"
Sie wurden von Rekordnationalspieler
Ich glaube schon, dass ich jemand sein möchte, der in eine Führungsrolle tritt. Aber das muss nicht zwangsläufig etwas mit der Kapitänsbinde zu tun haben. Wir haben viele Jungs, die voran gehen und davon möchte ich auch einer sein. Die Fußstapfen eines Marco Reus sind groß, er ist ein einzigartiger Mensch, er hat seinen Part über viele Jahre hervorragend gemacht, und ich würde mir wünschen, dass es auch noch so bleibt. Ich möchte meine eigenen Fußstapfen hinterlassen. Ich bin jetzt 26, ich möchte mich persönlich weiterentwickeln und für junge Spieler da sein. Das erwarte ich von mir selbst.
Auch bei Reus wird über eine Vertragsverlängerung spekuliert. Er wurde nach dem Spiel in Stuttgart in den sozialen Medien allerdings hart kritisiert, Matthäus rät dem BVB von einer Vertragsverlängerung mit ihm ab. Wie wichtig ist Reus beim BVB und auch für Sie persönlich?
Bevor ich hierhergekommen bin, war Marco immer jemand, zu dem ich aufgeschaut habe. Und dieses Gefühl habe ich weiterhin, nicht nur auf mich bezogen, sondern auf viele Spieler. Es wird gezielt geschaut, was macht Marco auf dem Platz, was macht Marco neben dem Platz. Er ist jemand, der auf seine eigene Art und Weise vorangeht. Er ist vielleicht – und ich glaube, deshalb wird er in Deutschland oft auch kritisch beäugt – nicht der typische Leader-Kapitän, wie ihn sich viele in ihrem Kopf ausmalen. Er ist eine andere Art von Leader. Er ist niemand, der Leute umtritt, sich auch mal eine rote Karte abholt. Er ist anders. Es gibt Menschen, die kommen damit klar, und es gibt andere, die mögen das nicht so. Dementsprechend ist er auch immer mal wieder ein Thema. Aber nichtsdestotrotz ist für mich wichtig, wie er von den anderen Spielern gesehen wird, ob jung oder alt. Und da glaube ich, dass viele auch dieses Jahr immer wieder zu ihm hochschauen, was er macht. Und das ist für mich ein Leader. Nach wie vor. Marco hat an seinem Standing, am Auftreten, an der Energie, die er ausstrahlt, nichts verloren in den letzten Jahren.
Also würden Sie sich über eine Vertragsverlängerung für ihn freuen?
Ich würde mich freuen, ja. Ich entscheide das natürlich nicht, aber wenn mich jemand fragen würde, wäre die Antwort klar: Ich freue mich, wenn er hierbleibt.
Brandt zu Social Media: "Ich beäuge das sehr kritisch"
Wir haben gerade schon kurz angesprochen, dass die Kritik an Reus in den sozialen Medien heftig war. Immer wieder gehen Fußballer mit den Hassnachrichten, die sie erreichen, auch an die Öffentlichkeit, zuletzt Benjamin Henrichs. Wie geht es Ihnen damit? Ohne Social Media ist so ein Profifußballerleben fast nicht mehr denkbar.
Es geht schon ohne, Nicky Süle macht es vor. Aber es ist ein schwieriges Thema. Ich beäuge Social Media zu einem großen Teil sehr kritisch. Ich glaube, dass es viele Chancen gibt, z.B. die Vernetzungsmöglichkeiten; miteinander in Kontakt zu treten, Sachen zu teilen. Aber natürlich gibt es einem auch eine gewisse Anonymität, ein Schutzschild. Jeder kann sich ein Profil anlegen, irgendein Profilfoto reinladen und sich Gamer12 nennen und dann ein paar Attacken fahren. Natürlich ist das gefährlich. Ich glaube, mit einer größeren Zahl von Leuten, die dir folgen, kommen auch immer mehr Leute, die Hass, Missgunst oder Kritik verbreiten. Es gibt zu viele Leute, die dabei Grenzen überschreiten. Aber ich sehe nicht, wie man das aufhalten kann. Man könnte es regulieren, aber das müssten die Plattformen selbst machen. Das sehe ich momentan nicht kommen. Dementsprechend muss jeder für sich selbst einen Weg finden, das Ganze nicht so an sich ranzulassen.
Was ist Ihr Weg?
Ich lese kaum noch Nachrichten. Egal ob nach guten oder schlechten Spielen. Das ist aber ein zweischneidiges Schwert. Es gibt zum Beispiel Leute, die mit netten Anliegen kommen. Vielleicht habe ich jemanden im Stadion übersehen, und der- oder diejenige hätte sich über ein Trikot gefreut. Mit Social Media kann man sich vernetzen, ich kann ein Trikot nachschicken. Aber wenn du ein Opfer von Hass wirst, ist es für mich das Sinnvollste, die ganzen Nachrichten nicht mehr durchzulesen. Mit der Konsequenz, dass alle anderen auch nicht mehr gehört werden. Ich habe nicht die perfekte Lösung, leider. Und wahrscheinlich würden mir jetzt einige erwidern: Wegschauen ist auch keine Lösung.
"Die 28 schon gespielten Spieltage vergessen wir"
Lassen Sie uns noch kurz in die Zukunft schauen. Am Samstag geht es gegen Eintracht Frankfurt – gehen Sie mit Wut im Bauch in dieses Spiel? Was ist die Marschroute für die nächsten Spiele?
Wir sind jetzt sechs Spieltage vor dem Ende, und wir müssen es hinkriegen zu sagen: Die 28 schon gespielten Spieltage, die vergessen wir. Wir haben folgende Situation: Zwei Punkte Rückstand auf die Bayern und nur noch sechs Spiele. Wir sind abhängig von den Münchnern, das muss uns klar sein. Wir können es nicht mehr aus eigener Kraft schaffen. Aber was wir schaffen können, ist, sechs Spiele so gut wie möglich zu bestreiten. Das fängt mit Frankfurt an, und ich wünsche mir und bin überzeugt davon, dass wir eine Reaktion zeigen können wie nach dem Leipzig-Spiel gegen Union Berlin. Man kann hier in Dortmund – und das ist sehr speziell – eine Energie entfachen, das ist unglaublich. Das haben wir als Mannschaft in der Hand. Man kann eine Euphorie erzeugen, die einen tragen kann. Das müssen wir nutzen. Wir haben definitiv Punkte verspielt, aber das müssen wir ausblenden. Jetzt geht es nur darum, wie wir die letzten sechs Spiele angehen. Und alles andere wird sich dann zeigen.
Brandt: "Kann mir keiner erzählen, dass man die Bayern ignoriert"
Und wie sehr schielt man dabei auch auf den FC Bayern?
Klar müssen wir jetzt erst mal unsere eigenen Aufgaben lösen, aber es kann mir keiner erzählen, dass man die Bayern ignoriert, bis man nicht selbst gespielt hat. Du wirst es immer mitkriegen. Das Wichtige ist, wie du damit umgehst. Das wird jetzt interessant, die finale Phase geht los, langsam entscheiden sich Dinge. Und das macht mir Spaß.
Vielen Dank für das Gespräch!
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