Ex-Nationalspieler Jens Nowotny spricht im Interview über die Titelambitionen seines früheren Klubs Bayer Leverkusen, die Zukunftsoptionen von Trainer Xabi Alonso und den Kader von Bundestrainer Julian Nagelsmann.
Er war als Nationalspieler mit für das "Sommermärchen" 2006 verantwortlich, lief 48-mal mit dem Adler auf der Brust und 334-mal für den Karlsruher SC sowie Bayer Leverkusen in der Bundesliga auf. Jens Nowotny hat den deutschen Fußball maßgeblich geprägt und gibt seine Expertise heute als Co-Trainer der U17-Auswahl des DFB weiter.
Unsere Redaktion hat den früheren Abwehrspieler zum Interview gebeten, um mit ihm über die Titel-Ambitionen seines Ex-Klubs Leverkusen und dessen Trainer
Herr Nowotny, die meisten Spiele in Ihrer Karriere haben Sie für Bayer Leverkusen absolviert. Macht Ihnen Ihr früherer Klub aktuell manchmal Angst? Die Werkself gewinnt mittlerweile nämlich auch jene Partien, in denen sie nicht überragend spielt…
Jens Nowotny: Es stimmt schon. Man hat aktuell das Gefühl, dass wirklich alles in die richtige Richtung läuft. Die Mannschaft hat auch dieses Quäntchen Glück, das man braucht, wenn man Titel gewinnen will. Dazu zähle ich auch gewisse Schiedsrichterentscheidungen, die Leverkusen zuletzt in die Karten gespielt haben – etwa der Platzverweis gegen einen Spieler von Qarabag Agdam im Europa-League-Rückspiel (3:2; d. Red.). Zur Wahrheit gehört aber auch, dass man erst einmal die Qualität haben muss, um Spiele zu gewinnen, in denen es nicht so gut läuft. Die Leverkusener haben diese Qualität momentan.
Leverkusen trifft in der Europa League auf Freiburg-Bezwinger West Ham
Im Viertelfinale der Europa League wird Bayer auf West Ham United treffen. Warum wird dem Premier-League-Klub gegen den Tabellenführer der Bundesliga kein Kantersieg wie zuvor im Achtelfinale gegen Freiburg (5:0) gelingen?
Also, ich gehe zumindest nicht davon aus, dass das passieren wird. Allerdings kann es schon vorkommen, dass der eine oder andere auf diesem Niveau trotz des Laufs mal unter die Räder kommt. Die Qualität von West Ham ist, wenn das Team einmal ins Rollen gekommen ist, extrem hoch. Die Leverkusener müssen sich – auch mit Blick auf die kommende Saison in der Champions League – darauf einstellen, dass sie in Zukunft auf mehr Gegner treffen werden, die nach einem 1:0 oder 2:0 nicht aufhören.
Das Team von Xabi Alonso blickt auf 38 ungeschlagene Pflichtspiele in Folge zurück. Geht das so weiter, stehen am Ende zwei oder drei Titel. Glauben Sie, dass diese Serie noch in der aktuellen Saison reißen wird?
Die Gefahr besteht in den gestiegenen Ansprüchen, die vor allem von Außen an das Team herangetragen werden. Die Fußballgemeinde erwartet doch längst mindestens zwei, wenn nicht sogar drei Titel von Bayer Leverkusen. Ich möchte nicht zu weit vorausgreifen, sage aber auch: Warum soll es einen Einbruch geben? Es läuft. Die schwachen Spiele haben sie, wie erwähnt, bereits gehabt – und unbeschadet überstanden. Ich gehe eher davon aus, dass sie bald sogar wieder richtig gut spielen und weiter gewinnen werden.
Bereits in den vergangenen Jahren hatte die Werkself immer gute Spieler in ihren Reihen, ließ es häufig aber an der nötigen Konstanz vermissen. Warum ist das in dieser Saison offenbar anders?
Einen Vergleich maße ich mir nicht an. Die Verantwortlichen versuchen schließlich in jeder Saison, die bestmögliche Mannschaft auf den Platz zu stellen. Aber natürlich ist es wichtig, dass das eine in das andere greift – von der Mannschaft über das Trainerteam bis hin zu den Fans. Auch wenn man immer von einer hundertprozentigen Mannschaftsleistung ausgeht, macht dieses Zusammenspiel ein paar Prozentpunkte aus. Die Summe des Ganzen ist nicht so groß wie die Summe der Einzelnen. Bei Leverkusen ist es derzeit eben so, dass die Einzelnen zusammengezählt funktionieren.
Würden ein, zwei oder sogar drei Titel eine neue Ära im Klub einläuten, der sich lange Zeit mit dem "Vizekusen"-Image herumschlagen musste?
Ich würde auch hier empfehlen, im Hier und Jetzt zu leben und nicht darüber nachzudenken, wie viele Titel in ein paar Jahren auf dem Briefkopf von Bayer 04 Leverkusen stehen könnten. Es geht darum, fokussiert zu bleiben. Alles andere hat der Verein nur bedingt in der Hand.
Spielen Sie darauf an, dass die großen Klubs bei einigen Bayer-Stars bereits Schlange stehen?
Genau. Irgendwann ist die Schmerzgrenze erreicht, sollte ein großer Klub bereit sein, zum Beispiel für
Leverkusen ist mit zehn Punkten Vorsprung auf den FC Bayern in die Länderspielpause gegangen – bei noch acht ausstehenden Spielen. Ist die Meisterschaft entschieden?
Die Bayern darf man nie abschreiben, das ist klar. Dennoch kann ich mir nicht vorstellen, dass Bayer noch Gefahr läuft, so viele Punkte abzugeben, dass es am Ende nicht reichen würde.
Es ist also davon auszugehen, dass Xabi Alonso im Mai die Meisterschale in die Höhe recken darf. Haben Sie Ihre Beziehungen zu Ihrem Ex-Klub nutzen können, um herauszuhören, wie es mit dem Erfolgstrainer (Vertrag bis 2026) nach dieser Saison weitergehen könnte?
Nein, überhaupt nicht. Die Spekulationen gehen in alle Richtungen. Xabi ist noch nicht so lange als Trainer tätig. Sollte er einen Schritt-für-Schritt-Plan verfolgen, wäre es gut möglich, dass er bleibt, um in der nächsten Saison mit Leverkusen in der Champions League zu spielen. Das ist die eine Möglichkeit. Die andere ist, dass er vielleicht eine Stufe überspringt und zu einem namentlich größeren Verein geht.
Welche Tendenz haben Sie: Verbleib in Leverkusen, Tuchel-Nachfolger in München oder Klopp-Nachfolger in Liverpool?
Ich kenne seine Karriereplanung nicht. Bei einem Verbleib in Leverkusen hätte er jedenfalls die Chance, noch etwas zu formen. Und er würde weitere Erfahrungen sammeln, auf die er bei seinem nächsten Karriereschritt zurückgreifen könnte. Würde er sofort zu einem absoluten Spitzenklub wechseln, wäre der Erfolgsdruck vom ersten Tag an da. Das trifft auf Bayern genauso wie auf Liverpool zu, wo darüber hinaus die Fußstapfen riesig sind. Barcelona wird er nicht machen, als Real-Madrid-Legende.
Nowotny spricht über den Nagelsmann-Kader
Auch ein anderer Coach sorgt aktuell für Schlagzeilen: nämlich Julian Nagelsmann mit seinem Kader für die Test-Länderspiele am Samstag in Frankreich und am Dienstag gegen die Niederlande. Wie bewerten Sie die Entscheidungen des Bundestrainers?
Erst einmal ist es doch schön, dass alle Fußballexperten nun darüber diskutieren können, ob der Kader gut oder schlecht zusammengestellt ist. Und ob es überhaupt Sinn macht, kurz vor der EM neue Spieler hinzuzuholen. Es wird spannend sein zu beobachten, wie es
In seiner Pressekonferenz zur Kader-Nominierung hat Nagelsmann auffallend häufig das Wort "Momentum" in den Mund genommen. So hat er versucht zu begründen, warum unter anderem viele Stuttgarter und Leverkusen, aber nur ein Dortmunder (Niclas Füllkrug) berufen worden sind. Bewertet er den Flow der Spieler auf Klubebene vielleicht über?
Es gibt immer ein Für und Wider. Ein Vorwurf, den man immer wieder hört, lautet: Du brauchst heutzutage nur fünf gute Spiele absolvieren und schon bist du ein Teil der Nationalmannschaft. Wenn es dem jeweiligen Spieler aber gelingt, das Momentum und die gute Stimmung aus dem Verein in die Mannschaft hineinzutragen, kann er andere damit anstecken. Während der Bundestrainer bei den Profis, die aktuell weniger im Flow sind, nur darauf hoffen kann, dass sie endlich wieder das abrufen, was sie eigentlich können. Grundsätzlich gefällt mir der Gedanke, dass man versucht, Selbstvertrauen über die Spieler hineinzutragen, die aktuell gut drauf sind. Zudem spürt der eine oder andere gestandene Nationalspieler auf diese Weise, dass es kein Selbstläufer ist.
Wen vermissen Sie in dem Kader, mit dem die Testspiele angegangen werden sollen?
Ich finde die Zusammenstellung des Kaders schon gut so, wie sie ist – gerade im Hinblick auf die vergangenen Spiele, die nicht überzeugend waren. Zwar wurde schon in den letzten Länderspielwochen einiges ausprobiert, aber eben nicht mit diesem klaren Blick auf das von Julian angesprochene Momentum. Mir fällt auf Anhieb kein nicht nominierter Spieler ein, bei dem ich sagen würde, dass er unbedingt dabei sein müsste. Leistung wird belohnt.
Sie sind Co-Trainer der deutschen U17-Auswahl. Hat Nagelsmann bereits den Kontakt zu dem Trainerteam gesucht, dem Sie angehören? Immerhin könnten Sie ihm mit Blick auf den WM-Triumph der U17-Auswahl 2023 Tipps geben, wie man ein Turnier erfolgreich gestaltet.
Wir als Trainerteam hatten bisher noch überhaupt keinen Kontakt mit Julian. Da gibt es derzeit keine Überschneidungen. Dieser junge Zyklus, dem wir uns widmen, ist vom Herrenfußball ganz weit weg. Anders verhält es sich mit Hannes Wolf (U20-Trainer; d. Red.) und Antonio Di Salvo (U21-Trainer): Hier findet natürlich schon ein Austausch mit dem Trainer der A-Mannschaft statt. Insofern würde es vielleicht ein bisschen am Ziel vorbeischießen, wenn wir uns als U17-Staff zu wichtig nehmen und uns fragen würden, warum Julian nicht mit uns gesprochen hat.
Zumal der Fokus des DFB aktuell natürlich auf der Heim-EM liegen dürfte…
So ist es. Der Fokus liegt auf der Heim-EM. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um sich über eine Konzeption für die Zukunft auszutauschen. Das kann nach dem Turnier angegangen werden.
U17-WM wird ab 2025 jedes Jahr ausgetragen
Wie blicken Sie mit dem gewissen Abstand auf die U17-WM vor wenigen Monaten in Indonesien? Was ist hängen geblieben?
Es war ein geiles Turnier und für mich persönlich eine intensive Zeit, weil ich ja erst vier Wochen vor der WM dazugekommen bin. Ich kannte die Jungs zuvor größtenteils noch gar nicht. Mir hat das Lust auf mehr gemacht. Durch die Entscheidung der Fifa, die U17-WM ab 2025 jedes Jahr auszutragen, ist diese Möglichkeit nun gegeben. Wir kennen zwar den neuen Modus noch nicht, aber dadurch, dass mehr Mannschaften teilnehmen sollen, ist es in Zukunft vielleicht einfacher, sich regelmäßig für das Turnier zu qualifizieren.
Wie denken Sie über den Austragungsort der U17-WM ab 2025? Es ist Katar.
Man kann argumentieren, dass in Katar eine Infrastruktur vorhanden ist, die – wenn man sie nicht nutzt – in gewisser Weise verfallen könnte. Dieser Sichtweise kann ich durchaus etwas abgewinnen. Auf der anderen Seite wissen wir natürlich alle, wie die Auswahlmechanismen bei Fifa-Turnieren sind. Wir dürfen meines Erachtens aber nicht vergessen, dass eine Wertehaltung immer mit einem Prozess verbunden ist. Bei der WM 2022 sollte auf gewisse Dinge aufmerksam gemacht werden. Und jetzt hätte man auf U17-Ebene immerhin fünf Jahre lang immer wieder aufs Neue die Chance, sich bei den Werten anzunähern – nach dem Motto "Steter Tropfen höhlt den Stein". Auch das ist ein Ansatz, den man verfolgen kann.
Wie sehen Ihre Trainerpläne für die Zukunft aus?
Intern habe ich dem DFB bereits signalisiert, dass ich mich gerne dafür bereit erkläre, den Co-Trainer-Posten im Verband längerfristig auszuüben. Ich sehe mich schon in der Co-Trainer-Rolle auf der richtigen Position. Ich habe hier die Möglichkeit, immer dazuzulernen und meine eigenen Erfahrungen einzubringen. Dieser Prozess ist nicht durch den einen Titel, den wir mit der U17 errungen haben, abgehakt. Ich bin optimistisch, dass wir diese Zusammenarbeit langfristig fortsetzen können und werden.
Die Jugendausbildung im deutschen Fußball steht in der Kritik. Konnte Ihr U17-Titel etwas bewirken? Welche Erkenntnisse konnte der DFB daraus ziehen?
Ich denke schon, dass uns dieser Titel eines deutlich gezeigt hat – und damit schließt sich auch ein wenig der Kreis zu dem, was ich eingangs über Bayer Leverkusen gesagt habe: Wenn es in allen Bereichen funktioniert, dann ist die Qualität der Einzelspieler zwar immer noch wichtig, aber nicht unbedingt ausschlaggebend für Siege. Du kannst der individuellen Qualität des Gegners alles entgegensetzen, wenn du als Mannschaft auftrittst. Mit unseren Tugenden oder Leitlinien brauchen wir uns vor niemandem zu verstecken – auch wenn es punktuell immer mal wieder Spiele geben kann, in denen es nicht funktioniert. Wir neigen dazu, uns oft schlechter zu machen als wir eigentlich sind.
Inwieweit lässt man Sie als früheren Nationalspieler (48 Länderspiele) diese Tugenden in Reihen des DFB vorleben?
Aktuell finden bei uns U15-Nationalmannschaftslehrgänge statt. Auch dieses Thema, das Sie ansprechen, ist auf den Tisch gekommen. Es geht nicht darum, dass wir "Alten" mit unserer Erfahrung eine Blaupause machen und dem Nachwuchs vermitteln: "So, Jungs, ihr müsst genauso agieren wie wir damals." Wir müssen das Wissen, das wir uns früher als Spieler erworben haben, und das Wissen, dass uns die jungen Trainer heute vermitteln, so gut wie möglich bündeln – und als Paket weitergeben. Das sollte das Ziel sein.
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