• Joachim Löw hat einst den deutschen Fußball revolutioniert, war eine Stilikone, hat den WM-Titel geholt.
  • Jetzt tritt er ab und die Fans sind darüber froh.
  • Wie konnte es so weit kommen?
Eine Analyse

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Als alles begann, brauchte der deutsche Fußball nicht weniger als eine Revolution. Die prominenten Klubmannschaften hatten in den europäischen Wettbewerben nichts zu bestellen, die Nationalmannschaft war bei der Europameisterschaft zum zweiten Mal in Serie bereits in der Gruppenphase gescheitert. Es gab genau zwei große Talente, auf die man sich freuen durfte: Lukas Podolski und Bastian Schweinsteiger. Sie waren umgeben von Mittelmaß und einer Spielidee, die keine war. Das war der Zustand des deutschen Fußballs im Sommer vor 17 Jahren.

In den Nachwuchsleistungszentren des Landes lief die wenige Jahre zuvor erst angestoßene Reform erst schleppend an, es mussten also die Spieler richten, die es bei der EM 2004 gegen die Niederlande, Tschechien und Lettland verbockt hatten. Ausgerechnet der erzkonservative Gerhard Mayer-Vorfelder hatte die Idee mit Jürgen Klinsmann und der hatte die Idee mit Urs Siegenthaler und Joachim Löw. Oliver Bierhoff durfte am Ende auch noch mitmachen.

WM 2006: Mit Klinsmann und Löw kam der Umsturz

Klinsmann und Löw, sie waren die Initialzündung einer neuen Epoche. Sie planten und vollzogen den Umsturz innerhalb des DFB und als Klinsmann dann nach dem für ihn erledigten Projekt zwei Jahre später schon wieder abtrat, führte Löw einfach ihr gemeinsames Vermächtnis weiter. Fast 15 Jahre lang, genau 5.431 Tage. So lange wie noch kein Bundestrainer vor ihm. Im Londoner Wembley-Stadion endete nun die Reise und unter den vielen Bildern, die diesen Abend prägten, gab es auch eins mit Jürgen Klinsmann.

Der war als Experte bei der britischen BBC eingeladen, zusammen mit dem England-Ikonen Alan Shearer, Rio Ferdinand und natürlich Gary Lineker sollte Klinsmann den Klassiker zwischen England und Deutschland analysieren. Als die Partie vorbei war, hüpften die englischen Kollegen wie kleine Kinder auf ihrem Podest, Ferdinand brüllte in sein Mikrofon, Lineker jubelte an der kleinen Balustrade, Shearer verschwand für ein paar Momente komplett aus dem Bild. Klinsmann stand regungslos da, konsterniert und vielleicht, man weiß es nicht, hat er in diesem Moment seinen alten Kumpel Löw beobachtet.

Löws Bilanz als Bundestrainer ist hervorragend

Klinsmann wird als einer der wenigen wissen, was da wirklich im (Arbeits-)Leben von Joachim Löw zu Ende geht. In reinen Zahlen sind das neun große Turniere, 198 Spiele. Die Bilanz ist mit 125 Siegen, 39 Remis und 34 Niederlagen so gut wie von keinem anderen Bundestrainer. Löw hat den WM-Titel eingefahren und den Confed Cup gewonnen. Zwischen 2008 und 2016 standen seine Mannschaften immer mindestens im Halbfinale des jeweiligen Turniers, auch das gab es vorher noch nie.

Löw war immer schlau genug, sich nicht nur auf seine eigenen Ideen zu verlassen, sondern immer die besten Segmente anderer Trainer oder Mannschaften in seine Pläne einfließen zu lassen. Spätestens nach der Niederlage im EM-Finale 2008 rannte er dem fußballerischen Ideal des spanischen Ballbesitzfußballs hinterher. 2010 verzückte Deutschland mit einer blutjungen und bunten Mannschaft die Welt mit einem Überfallfußball aus dem Lehrbuch. Löw nahm sich im weiteren Verlauf die Versatzstücke prägender Trainerkollegen und baute die nach und nach in seine Konzeption. Zusammen mit den ersten starken Jahrgängen aus den Leistungszentren der Klubs konnte da langsam die Weltmeistermannschaft reifen.

Löw vereinte 2014 das Beste aus verschiedenen Welten in einer Mannschaft

Die Fans waren schockverliebt in ihre Mannschaft, die Popularität spätestens mit dem WM-Triumph in Brasilien auf dem Höhepunkt. Löw hatte es geschafft, das Beste aus verschiedenen Welten in einer Mannschaft zu vereinen und fand den richtigen Mittelweg aus Idealismus und Pragmatismus. Vergessen waren die Rückschläge, die es auch immer wieder gab. Die Niederlagen in wichtigen Spielen, das vercoachte Halbfinale gegen Italien 2012, das sagenhafte 4:4 gegen Schweden nach einem 4:0-Vorsprung. Löw war in Rio de Janeiro auf dem Gipfel angelangt, das 7:1 gegen Brasilien wird wie der Titel selbst alle Zeiten überdauern.

Aber wie das eben oft so ist, werden im Moment des größten Erfolges auch die größten Fehler begangen. Der DFB reizte die Popularität seines Bundestrainers und seiner wichtigsten Mannschaft schon vorher gnadenlos aus und Löw vergaß überdies die fußballerische Weiterentwicklung seiner Mannschaft. Auf die Rücktritte nach dem WM-Triumph wurde nur halbherzig reagierte, obwohl schon damals - vor sieben Jahren - klar war, dass es Deutschland an hochklassigen Außenverteidigern und an Mittelstürmern fehlt.

Löw muss auch Fehler des DFB ausbaden

Der DFB hat diese negative Entwicklung in seiner Nachwuchsförderung verkannt und Löw musste die Konsequenzen am Ende ausbaden. Aber auch der Bundestrainer selbst steht seit einigen Jahren allenfalls noch für Stillstand. In den Turnieren bis zum WM-Titel 2014 hatte Löw eine sagenhafte Bilanz von 18 Siegen, zwei Remis und fünf Niederlagen bei großen Turnieren. Seit dem gewonnenen Finale von Rio steht die Bilanz bei fünf Siegen, drei Remis und fünf Niederlagen.

Die Kernschmelze bei der WM in Russland legte den sportlichen Grund für einen Rücktritt nahe, aber Löw klebte an seinem Amt und der vermeintlichen Gewissheit, alles wieder reparieren zu können. In den Monaten danach gab es den geläuterten Löw, der mit einem radikalen Kurswechsel hin zu den simplen Ideen des Fußballs alles wieder verändern wollte. Aber bereits da war klar, dass er das Gefühl für die richtige Wahl der Mittel verloren hatte. Löw verabschiedete sich vom Ballbesitzfußball und vom Positionsspiel, wollte zielgerichteter spielen lassen, schneller nach vorne, dafür besser abgesichert in der Defensive. Abgeschaut hatte er sich das vom Weltmeister Frankreich - so wie er sich vorher von den Spaniern hatte inspirieren lassen.

Kaum ein anderer Verband hätte Löw weitermachen lassen

Löw kam dabei das Chaos und die Führungslosigkeit seines eigenen Verbandes zu Gute. Nicht seine Vorgesetzten, sondern er selbst hat über seine Zukunft entschieden, der DFB hat das abgenickt und zugelassen. Unter anderen Umständen hätte ein Bundestrainer nicht so lapidar über ein Ausscheiden bei einer Weltmeisterschaft in der Gruppenphase hinwegsehen können. Also blieb er einfach - und hinterlässt nun eine Mannschaft, die sein Nachfolger Hansi Flick wieder aufbauen muss. Weil Löw sie drei Jahre lang inhaltlich nicht wirklich nach vorne bringen konnte.

Deutschland ist nur noch Mittelfeld

U-21-Nationaltrainer Stefan Kuntz sprach spät in der Nacht am Dienstag noch einen entlarvenden Satz. "Vielleicht müssen wir uns auch damit befassen, dass Deutschland nur noch gehobenes Mittelfeld ist. Und kein Spitzenteam mehr", sagte der ARD-Experte. Denn genau das ist mittlerweile der Fall: Deutschland hat sich sukzessive nach oben gearbeitet, bis zum Gipfel. Seitdem geht es aber nur noch bergab. Erst schleichend, dann mit vollem Karacho.

Für beides, den Aufstieg und den Abstieg, zeichnet Joachim Löw verantwortlich. Er hat den Zeitpunkt für einen sauberen Abgang mehrmals verpasst, nun wird er durch die Hintertür gehen müssen. An seinen großen Verdiensten ändert das nichts, die bleiben für immer. Aber Löw hat sich und sein Vermächtnis am Ende einfach zu oft auch selbst beschädigt.

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