Die englische Nationalmannschaft ist dank Jude Bellingham mit einem 1:0 gegen Serbien in die EM gestartet. Doch der Sieg zeigt auch, dass auf den Titelfavoriten noch eine Menge Arbeit wartet. Jude Bellingham alleine dürfte den "Three Lions" zum großen Wurf nicht reichen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Andreas Reiners sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Wahrscheinlich hatte Jude Bellingham die Frage bereits erwartet. Deshalb bügelte der Superstar von Real Madrid sie auch relativ schnell und deutlich ab. Sie war ihm zu negativ, zumindest der zweite Teil. Denn der drehte sich um die Passivität der englischen Nationalmannschaft in der zweiten Halbzeit beim 1:0-Sieg zum EM-Auftakt gegen Serbien. Bellingham war bemüht, das Positive zu betonen.

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"Ich denke, die erste Halbzeit hat gezeigt, warum wir gegen jede Mannschaft Tore schießen können, und die zweite Halbzeit hat gezeigt, warum wir gegen jede Mannschaft eine weiße Weste behalten können", sagte Bellingham: "Es gibt rund um alle unsere Spiele in der Regel ein negatives Thema - manchmal zu Recht -, aber in diesem Fall kann man das Positive aus der Tatsache ziehen, dass wir vielleicht ein bisschen leiden mussten, aber wir haben eine weiße Weste behalten." Und wenn man dann ein Tor schieße, reiche das, um zu gewinnen, sagte der Schütze des goldenen Tores und "Man of the Match".

Simple Rechnung geht gegen Serbien auf

Die Rechnung ist simpel, und sie ging gegen Serbien vor allem dank Bellingham auf. "Hey Jude", schallte es lautstark durch die Gelsenkirchener Arena. Und die Frage nach dem Beatles-Oldie gefiel Bellingham nach dem spielerisch zittrigen und passiven Auftakt der "Three Lions" schon deutlich besser.

"Ich mag die Beatles, ich höre sie sehr oft. Mein Musikstil ist ein bisschen altmodisch, also ist das genau mein Ding", sagte er. "Hey Jude! Er nahm diesen traurigen Song und machte ihn besser", schrieb The Telegraph nach dem insgesamt wenig überzeugenden Auftaktsieg der Engländer. Auch die "Sun" attestierte ihm eine "Meisterleistung".

Bellingham bewies, wie wichtig er für diese Mannschaft ist. Als Leader, als Kopf, als Strippenzieher, von Nationaltrainer Gareth Southgate mit allen Freiheiten auf der Zehn ausgestattet, damit das Team von der Technik und vom Spielverständnis des 20-Jährigen bestmöglich profitieren kann. Von seiner Dominanz, mit der er den Unterschied machen kann.

Er setzte dann auch früh die Akzente, zog die Fäden, verkörperte Präsenz, Intensität und Mentalität. Und wuchtete, davon angetrieben, den Ball zum Siegtreffer (13.) ins Tor. Er ist das Pfund des Titelfavoriten im Kampf um den EM-Pokal.

Bellingham schreibt sein eigenes Drehbuch

Seine Teamkollegen wissen das. "Sein Charakter, die Reife, die Art und Weise, wie er spielt: Der Erfolg, den er in dieser Saison bei Real Madrid hatte, bringt viel, und ich hoffe, dass er das für uns fortsetzen kann", sagte Kieran Trippier. "Er ist ein unglaublicher Spieler. Es ist Wahnsinn, was derzeit alles mit ihm passiert. Er spielt mit großem Selbstvertrauen", ergänzte Bayerns Stürmerstar Harry Kane.

Selbst der Gegner war voll des Lobes. "Er ist ein großartiger Spieler und eine großartige Persönlichkeit. Ich denke, er hat alles, um den nächsten Ballon d'Or zu gewinnen. Alles, was er heute gemacht hat, war großartig, er hat Persönlichkeit gezeigt, er hat England auf das nächste Level gebracht", sagte Dusan Tadic. Und laut Southgate schreibe Bellingham "sein eigenes Drehbuch".

Zu wenige Protagonisten

Dieses Drehbuch hatte gegen Serbien allerdings erschreckend wenige weitere Protagonisten, die offensiv auf Bellinghams Niveau agierten. Was das Dilemma aufzeigt: England ist zu einem Großteil abhängig von seinem Anführer. Und wenn man, wie gegen Serbien, neben dem 20-Jährigen nicht viel mehr im Repertoire hat, wird es problematisch.

Bieder, fast ängstlich präsentierte sich in Halbzeit zwei eine Mannschaft, deren grundsätzliche Qualität nicht nur durch einen Marktwert in Höhe von 1,52 Milliarden Euro (Platz eins unter 24 Teams) abgebildet wird. Defensiv konnte England überzeugen, im Spiel nach vorne jedoch blieb Phil Foden blass, Bukayo Saka war zu unbeständig und Kane im Grunde gar nicht anwesend.

"Ich gucke mir seit sechs Jahren jedes Mal England an und weiß nicht, was die machen wollen", sagte ZDF-Experte Christoph Kramer: "Die lassen sich so tief hinten reinfallen. Mit diesem Weltkader könnte man es sich einfacher machen. Das kann doch nicht der Anspruch sein - bei aller Liebe. Das kann doch nicht wahr sein."

Tatsächlich ging nicht mehr viel, als sich Bellingham in der zweiten Halbzeit seine Pausen gönnte, denn sein eigenes Niveau konnte er nicht über 90 Minuten halten. Da übernahm allerdings sonst niemand die Verantwortung, stattdessen gingen Ordnung und Struktur verloren. Gegen Serbien reichte das am Ende, vermutlich wird es auch gegen Dänemark und Slowenien und damit auch für das Achtelfinale reichen.

Doch für knifflige Aufgaben, für anspruchsvolle Gegner, für die großen Ziele ist das nicht genug. Am Ende kommt es darauf an, dass das Kollektiv funktioniert und gemeinsam liefert.

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Southgate: "Es liegt noch viel harte Arbeit vor uns"

"Natürlich gibt es Negatives, das wir ausmerzen wollen", gab Bellingham zu, "aber insgesamt bin ich mit dieser Leistung zufrieden." Und er betonte: "Die Mannschaft ist noch sehr jung und wächst mit jedem Spiel zusammen." Ähnlich argumentierte auch sein Trainer. "Diese Mannschaft ist noch dabei, sich zu finden", sagte Southgate.

"Jeder erwartet, dass wir durchmarschieren, aber es liegt noch viel harte Arbeit vor uns. Uns fehlen bestimmte Dinge", sagte er, und erklärte, dass man nach den bestmöglichen Lösungen suche: "Wir hatten einen sehr komplizierten Vorlauf, aber der Geist der Gruppe war für alle sichtbar, und daran werden wir definitiv wachsen", so Southgate.

Das muss in einem Turnier allerdings schnell passieren. Sonst kommen Rückschläge ganz automatisch. Und damit auch die negativen Fragen.

Verwendete Quelle:

  • Stadionbesuch
  • TV-Übertragung ZDF
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