• Giorgio Chiellini hat spätestens mit der Europameisterschaft 2021 einen gewissen Kult-Status erlangt.
  • Über einen Spieler alter Prägung, der immer wieder zu überraschen weiß und nun vor seinem größten Triumph steht.

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Wer Giorgio Chiellini den "eisenhärtesten Verteidiger" des Weltfußballs nennt, der schaut wohl eher selten in einer der südamerikanischen Ligen vorbei. Dort, wo die Grätschen noch auf Kniehöhe angesetzt und die Ellbogen bisweilen eingesetzt werden wie beim Ultimate Fighting, treiben die wirklich bösen Jungs ihr Unwesen.

Aber im übertragenen Sinne und auf den europäischen Fußball bezogen, ist da schon etwas dran: Giorgio Chiellini kann ordentlich hinlangen und er kann - mindestens genauso wichtig - auch sehr gut einstecken.

Auf dem Fußballplatz hat Chiellini bisweilen etwas Grobes, er metzgert sich durch gegnerische Angriffslinien, wenn es sein muss. Und zeigt dabei die Unerschrockenheit eines Berufskämpfers im Alten Rom.

Eine "Grätsche auf zwei Beinen" nennen sie ihn in Italien. Aber auch das greift zu kurz bei einem Spieler, der zwar hart und unerbittlich ist, aber auch die schlaue Kunst des Verteidigens beherrscht: kontrolliert, vorausschauend, ökonomisch und effizient.

Uni-Abschluss, Buchautor und jetzt schon ein Held

Giorgio Chiellini ist ein Spieler vom alten Schlag und das hat nicht nur mit seinen bald 37 Lebensjahren und den zwei Jahrzehnten Erfahrung im Profifußball zu tun. Chiellini hat im Vorzeigeland der Verteidiger gelernt, wie man das eigene Tor um jeden Preis beschützt. Während seiner Lehrjahre beim AS Livorno in der drittklassigen Serie C waren Disziplinen wie Spielaufbau oder Andribbeln lediglich Begriffe aus einer fernen Galaxie.

In Livorno hat er bei Osvaldo Jaconi gelernt, Jahrgang 1947, und so wie Chiellini heute wie ein Spieler vom alten Schlag gilt, war Jaconi damals ein Trainer traditioneller Prägung. Früher selbst Spieler in kleineren Klubs, danach 21 Trainerstationen quer durch Italien. Der Mann hat alles gesehen und Chiellinis Aufstieg entscheidend geprägt.

Noch heute seien sie Freunde, treffen sich ab und zu. Chiellini, so heißt es, vergisst weder seine Wurzeln noch seine Herkunft. Und auch nicht jene, die ihm bei der Verwirklichung seines Traums geholfen haben.

Denn eigentlich war für Giorgio eine andere Karriere angedacht. Chiellini wuchs in einer wohl situierten Familie in der Toskana auf. Der Vater war Orthopäde in Pisa, die Mutter Geschäftsführerin. Neben dem Fußball war den Eheleuten Chiellini immer wichtig, dass der Junge sich auf den ersten Bildungsweg konzentriert und sein Hobby so lange wie möglich Hobby bleibt.

Wohl auch deshalb hat sich Chiellini, als er längst Profi bei Juventus war, an der Universität in Turin eingeschrieben und dort einen Bachelor-Abschluss in Betriebswirtschaftslehre gemacht. Summa cum laude, wie es sich für einen echten Streber gehört.

Chiellini hat mithilfe zweier Journalisten zwei Bücher geschrieben: Eine Autobiographie mit dem sinnigen Titel "Io, Giorgio" und ein Buch über eines seiner großen Vorbilder. "C‘è un angelo bianconero" heißt es, der weiß-schwarze Engel, und handelt von Gaetano Scirea, Verteidiger bei Juventus Turin und der Weltmeistermannschaft von 1982, später Kapitän der italienischen Nationalmannschaft.

Eine Legende in Italien - die Chiellini gar nicht mehr bewusst hat spielen sehen. Und doch wurde Scirea, der 1989 bei einem Scoutingauftrag für Juventus in der Nähe von Kattowitz ums Leben kam, zur Heldenfigur für das Verteidigertalent.

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Offiziell ist Chiellini derzeit vereinslos

Giorgio Chiellini ist mehr als drei Jahrzehnte später längst selbst dabei, seine eigene Heldengeschichte zu schreiben. Mit Juventus hat er in Italien alles gewonnen: fünf Pokalsiege, neun Meisterschaften in der Serie A und eine in der Serie B. Natürlich hat er Juventus nicht verlassen, als der Klub wegen des Manipulationsskandals nicht nur einige Titel aberkannt bekam, sondern in die zweite Liga absteigen musste. Eine Frage der Ehre war das und für den Gentleman Chiellini selbstverständlich.

Seit 17 Jahren hält er die Knochen für die "Alte Dame" hin oder poliert jene seiner Gegner. 535 Profispiele für Juventus stehen in den Büchern, eine Juventus-Abwehr ohne den Haudegen mag man sich kaum noch vorstellen.

Offiziell ist Chiellini aber seit wenigen Tagen vereinslos, sein vertrag in Turin ist Ende Juni ausgelaufen. Aber natürlich werden sich der Spieler und sein Klub nach der Europameisterschaft ganz schnell auf einen neuen Kontrakt einigen.

Konzentration und Lockerheit

Davor muss er aber einen blinden Fleck in seiner Vita noch sichtbar machen. Mit Italien hat Chiellini noch nie etwas gewonnen. 2012 wurde er Vize-Europameister, sechs Jahre zuvor zog Marcello Lippi dem damals noch jungen Chiellini Routinier Alessandro Nesta und den erfahrenen Andrea Barzagli vor. Italien wurde Weltmeister, aber Chiellini war nicht dabei.

Ein Titel mit der "Squadra" fehlt ihm noch, ebenso wie ein Triumph in der Champions League. Auch deshalb gilt die ansonsten überragende Karriere bisher als unvollendet.

Auf seine alten Tage hat sich Chiellini deshalb ganz bewusst für eine alternative Herangehensweise entschieden. Schon lange beschäftigt sich der zweifache Familienvater mit dem weiten Themenfeld der Psychologie und wohl kein anderer Spieler der Europameisterschaft bringt Konzentration und Fokussierung auf das Wesentliche so gut mit der nötigen Lockerheit in Einklang wie Chiellini.

Schon vor dem Eröffnungsspiel gegen die Türkei lächelte der Kapitän in die Kameras, so als wäre er total entrückt vom Diktat der Ergebnisse und der Erwartungshaltung der Fans. Längst legendär ist sein Auftritt vor dem Elfmeterschießen gegen die Spanier im Halbfinale, als er beim Münzwurf vermeintlich schon entschied, was da gleich kommen sollte.

Der Umgang mit Spaniens Kapitän Jordi Alba jedenfalls gereicht schon für mythische Verklärungen. Wie wichtig er sportlich immer noch ist, zeigten die beiden K.o-Runden davor: In Italiens bislang schwächstem Turnierspiel gegen Österreich fehlte er wegen einer Muskelverletzung, seine Mannschaft ließ nach 1168 Minuten wieder ein Gegentor zu.

Im Viertelfinale gegen Belgien stellte Trainer Roberto Mancini Chiellini sofort wieder auf, obwohl auf der Gegenseite in Romelu Lukaku der vermutlich kraftvollste Stürmer der Welt wartete. Chiellini stellte die Wuchtbrumme völlig kalt, war für Lukaku und den Rest der Weltklasse-Offensive der "Roten Teufel" unüberwindbar.

Chiellinis letzte große Chance

In einer Mannschaft mit vielen frischen, unverbrauchten Gesichtern, die den unitalienischsten Fußball seit Jahrzehnten spielt, wirkt Chiellini ein wenig wie ein Relikt aus einer anderen Zeit.

Und doch war er nie so wertvoll wie heute. Als Anführer, kluger Kopf, Ruhepol oder einfach nur als einer der besten Innenverteidiger der Welt. Nun fehlt nur noch die Krönung - am Sonntagabend in Wembley gegen England (21:00 Uhr, LIVE bei uns im Ticker). Noch eine Chance wird Giorgio Chiellini nicht mehr bekommen.

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