Sowas hat man lange nicht gesehen: Bei der deutschen Nationalmannschaft gibt es neuerdings Vorsänger, die bei den EM-Spielen für Stimmung sorgen. Einer von ihnen ist Bengt Kunkel.

Ein Porträt
Dieser Text enthält neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Julian Münz sowie ggf. von Expertinnen oder Experten. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Es ist die sechste Minute im Eröffnungsspiel der deutschen Nationalmannschaft, als Philipp Lahm links vor dem costa-ricanischen Strafraum in die Mitte läuft und abzieht. Der Ball landet perfekt und mehr oder weniger unhaltbar im Netz. Deutschland führt im Eröffnungsspiel 1:0, es ist der Start dessen, was später mal als Sommermärchen bekannt sein wird. Und es ist der Start für Bengt Kunkels Fandasein für die deutsche Nationalmannschaft. "Das war das erste Mal, dass ich mit Fußball in Berührung gekommen bin und hat meine Leidenschaft für die Nationalmannschaft entfacht", erzählt er. In den kommenden Jahren, in denen das DFB-Team zur besten Nationalmannschaft der Welt wird, wird Kunkel Fan.

Mehr News zur Fußball-EM

18 Jahre später spielt die deutsche Mannschaft bei der Europameisterschaft wieder ein großes Turnier im eigenen Land. Lahm ist mittlerweile Turnierdirektor und Kunkel ist der Capo, der Vorsänger der deutschen Nationalmannschaft. Zusammen mit seinem Kollegen Pasquale Seliger sorgt er bei den Spielen der DFB-Elf für die Stimmung auf der Tribüne, passend ausgestattet mit einem Megafon. Bei der EM war er bei jedem Spiel der deutschen Mannschaft dabei, zum Achtelfinale gegen Dänemark organisierte er einen Fanmarsch mit, um die 30.000 Leute sollen mit dabei gewesen. "Das war schon absolut krass", sagt Kunkel selbst.

Zum Viertelfinal-Duell gegen Spanien haben er und seine Mitstreiter die Fans dazu aufgerufen, in Weiß zum Spiel zu kommen. Die ganze Cannstatter Kurve des Stuttgarter Stadions soll dann weiß gekleidet sein, so der Plan. Aktionen wie diese hat es rund um das Nationalteam lange nicht gegeben Kunkel und seine Mitstreiter sind die ersten aktiven Fans des DFB-Teams seit langer Zeit.

Kunkel nimmt die Stimmung selbst in die Hand

Um die Geschichte zu erzählen, wie er in diese Rolle gefunden hat, muss Kunkel ein wenig ausholen: Zur WM 2022 in Katar reist er zusammen mit seinem Bruder, um das DFB-Team zu unterstützen. Und erlebt dort das schlimmste Turnier für die deutsche Nationalmannschaft sowohl auf als auch neben dem Rasen. Die Stimmung (und die Leistung) verbessert sich auch bei weiteren Stadionbesuchen nicht. "Beim Turnier und danach haben wir einfach gemerkt: Die Stimmung ist wirklich gar nicht da", erzählt Kunkel. Sie beschließen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. "Wir haben uns dann Trommel und Megafon besorgt und sind damit in die Stadien zu den Länderspielen."

In der Bundesliga sind Fans wie Kunkel selbstverständlich. Bis in die unteren Ligen gibt es Vereine mit starken, aktiven Fanszenen, die die Kurven der Stadien füllen und den Support mittlerweile dominieren. Sie sind unabhängig vom Verein organisiert und ecken mit ihren Aktionen auch oft an, aber sie sorgen in den Stadien auch für die im Ausland viel gelobte Stimmung in den deutschen Ligen.

In der Nationalmannschaft gab es eine solche Entwicklung hingegen nie. Was auch damit zu tun hatte, dass der Deutsche Fußball-Bund (DFB) eine selbst organisierte Fanszene bei der Nationalmannschaft gar nicht haben wollte. Jahrelang kamen Interessierte nur an Tickets für die Spiele, wenn sie Mitglied des "Fan Club Nationalmannschaft" waren, der 2003 gemeinsam vom DFB und dem Sponsorenpartner Coca-Cola gegründet wurde. Die dabei vom Verband geplanten Choreografien sorgten oft eher für Lacher als für Anerkennung, die Stimmung konnten sie nie verbessern. Irgendwann verkauften sich die Tickets für die Länderspiele so schlecht, dass sie in kleineren Stadien des Landes ausgetragen wurden.

"Bierhoff hat seine Spuren hinterlassen"

Nach dem Debakel bei der WM 2022 erneuert sich der DFB damit ändert sich auch sein Umgang mit den Fans. Seit November 2023 ist es auch für privat organisierte Fanklubs wieder möglich, sich Karten für die deutschen Spiele zu sichern. Damit wolle man eine "authentischere Fankultur fördern", sagt der Verband. Es war genau die Zeit, in der etwa Niclas Füllkrug in einem Interview monierte, die Stimmung auf der Tribüne sei noch nicht organisiert genug – und in der Kunkel begann, das Megafon mit zu den Spielen zu nehmen und die Mannschaft anzufeuern. Kunkels Fanklub "Adler im Herzen" gehörte zu den ersten, die sich nach dieser Neuausrichtung des DFB gründeten. Kunkel wurde kurz darauf Teil der vom DFB gegründeten "AG Stimmung", die die Kräfte in der Kurve pünktlich zur EM bündeln sollte. "Da ich sowieso schon am Megafon war, stand nicht zur Diskussion, dass ich das nicht weitermache", sagt Kunkel.

Waren die Bemühungen erfolgreich? "Man merkt natürlich, dass Oliver Bierhoff seine Spuren hinterlassen hat", sagt Kunkel in Anspielung auf den ehemaligen DFB-Manager, dem am Ende vorgeworfen wurde, die Nationalmannschaft von den Fans entfernt zu haben. Jetzt brauche es Zeit, um die Fankultur rund um das DFB-Team wieder zu entwickeln. Doch Kunkel ist optimistisch: "Ich glaube, wir bewegen uns in die richtige Richtung", sagt er. Der Austausch mit dem DFB laufe gut, auch weil sich der Verband nicht zu sehr in das Engagement der Fans einmische.

Trotzdem sieht Kunkel die Arbeit von sich und den anderen noch ganz am Anfang. "Veränderung braucht Zeit", erklärt er, zwischen Herbst 2023 und der EM 2024 gab es davon einfach noch nicht genug. Ein Erfolg ist es für ihn bereits jetzt, dass überhaupt zahlreiche Fans in den Stadien mitziehen, wenn er und sein Kollege die teils neu getexteten Lieder anstimmen. Und dass die Nationalspieler nach dem Spiel gegen Dänemark endlich mal mit der Kurve feierten anstatt direkt zu ihren Verwandten und Bekannten auf der Tribüne zu gehen, freute die Stimmungsmacher beim DFB-Team sehr.

DFB-Vorsänger will sich nicht mit Ultras vergleichen

Es ist alles eine Nummer kleiner als das, was man von den etablierten Fans aus den Bundesliga-Stadien kennt. Und auch wenn er einige Elemente aus deren Stadien übernimmt: Mit den Ultras der Vereine möchte sich der Vorsänger beim DFB-Team nicht vergleichen: "Das wäre vermessen. Wir haben Respekt vor den organisierten Fanszenen bei den Bundesligisten. Da sind Leute seit Jahrzehnten mit dabei, so einen Hintergrund haben wir einfach noch nicht." Und ein Stück weit sei es auch richtig so, dass es bei der deutschen Nationalmannschaft ein bisschen anders läuft als bei den Vereinen. Ein bisschen anders sein ist gut und im Vereinsfußball laufe ja auch nicht alles richtig, gibt Kunkel zu bedenken.

Dass die Sache mit dem Patriotismus in Deutschland immer eine schwierige ist, dessen ist sich der Vorsänger der deutschen Fans ebenfalls bewusst. Rechtsradikale möchte er in seinen Reihen auf jeden Fall nicht anziehen. Doch auch hier bleiben er und seine Mitstreiter pragmatisch: "Wir haben uns am Anfang klar positioniert, wo wir stehen und wen wir auch gerade nicht erreichen wollen. Und damit ist es auch gut", sagt Kunkel, der seinen Support nicht unnötig politisieren möchte.

"Natürlich ist Nationalstolz in Deutschland ein schwieriges Thema", sagt Kunkel weiter. Aber: "Auf der anderen Seite ist er häufig auch einfach unnötig negativ behaftet." Kunkel ist stolz auf sein Land, eben weil es ein vielfältiges und tolerantes Land ist. "Ich habe in Katar miterlebt, wie da mit Andersdenkenden umgegangen wird, weil ich da mit Regenbogenbinde umgelaufen bin", erzählt er. Dass er für solche Dinge in Deutschland nicht bestraft werden kann, sieht er als Privileg und als einen guten Grund dafür, stolz zu sein auf sein Land.

Und natürlich wäre Kunkel auch stolz auf den sportlichen Erfolg der Nationalmannschaft bei der EM 2024. "Ich wäre an der falschen Stelle, wenn ich nicht sagen würde, dass wir am 14. Juli das Ding in die Höhe recken werden", sagt er. Eine mögliche Europameister-Feier ist aber noch nicht geplant. Auch hier gilt: erst einmal ein Schritt nach dem anderen.

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.