Für Bayer Leverkusen war es ein bitterer Abend in der Europa League. Der Frust richtete sich nach dem Aus gegen die AS Rom gegen Gegner und Schiedsrichter. Leverkusen muss aber auch selbstkritisch sein, denn gegen die Italiener war mehr drin.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Andreas Reiners sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Es war schon nach Mitternacht, als José Mourinho die Bühne nutzte. Die Leverkusener waren nach dem bitteren 0:0 und dem Aus im Halbfinale der Europa League schon zum Großteil in die Nacht geflüchtet, als der Trainer der AS Rom auf der Pressekonferenz nach jeder Frage ausführlich referierte.

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Über ein "nahezu episches Spiel", einen "tollen Schiedsrichter", einen "bedeutsamen Sieg". Und dass er ein guter Trainer sei, "aber die Jungs haben uns ins Finale gebracht. Ich denke nur an die Roma. Ich bin emotional mit den Fans verbunden. Meine Emotionen drehen sich eher darum, was ich für sie erreichen kann. Es geht nicht um mich." Und doch drehte sich natürlich alles um ihn. Denn dieser Finaleinzug trug seine Handschrift.

Und Mourinho genoss den Moment sichtlich, die zahlreichen Sieger-Interviews zuvor, den Jubel und die Zuneigung der Fans, die Umarmungen. "The Special One" hatte mal wieder allen gezeigt, warum man ihn so nennt. Er steht nach dem torlosen Remis im Finale – und kann nach dem Gewinn der Conference League 2022 in diesem Jahr direkt den nächsten Titel mit der Roma holen. Dank eines Auftritts, den man im Fußball-Lexikon unter "abgezockt" finden würde. Oder unter "ungehörig", würden Kritiker wohl einwerfen. Und von denen gab es an diesem Abend viele.

Perfekt zelebriertes Zeitspiel

Doch auf das "Wie" kommt es gar nicht an. Das war bei dem Portugiesen schon immer zweitrangig. Der Erfolg heiligt die Mittel und der Erfolg gibt Mourinho recht. Im Halbfinal-Rückspiel bei Bayer Leverkusen war das Mittel der Anti-Fußball, seine Zerstörungstaktik, das eingerichtete Defensiv-Bollwerk.

Das Perfideste war jedoch das bis zur Perfektion zelebrierte Zeitspiel. Von Anfang an und immer wieder ließen sich die Italiener aufreizend Zeit, ließen sich fallen, lange behandeln. Lamentierten, diskutierten, nahmen Zeit von der Uhr und nutzten dafür auch die billigsten Taschenspieler-Tricks. Mittendrin Mourinho, der wild protestierte und gestikulierte, sich immer wieder echauffierte. Und seinen Unmut auch oft verbalisierte. Es waren die üblichen Psychospielchen des Portugiesen, um dem Spiel von der Seitenlinie aus eine besondere Würze und eine eigene Note beizusteuern.

All das ist vom Regelwerk abgesegnet, am Rande der Legalität, im Graubereich. Aber eben auch weit am guten Geschmack vorbei, an der Liebe zum Spiel. Was ein Schlag ins Gesicht aller Fußball-Romantiker war, dient als Lehrbeispiel für nüchterne Ergebnis-Enthusiasten. Dass der Erfolg Mourinho tatsächlich recht gibt - so simpel und brutal ist der Fußball am Ende.

"Das ist kein Fußball, das ist eine Frechheit"

Deshalb saßen Enttäuschung, Frust, Wut bei Bayer tief. Das wird ohne Frage noch ein paar Tage oder sogar Wochen so sein. Denn Bayer war nah dran am Finale. Doch der Traum vom ersten Titel seit 30 Jahren ist brutal geplatzt. Und das auf den Tag genau 35 Jahre nach dem historischen Uefa-Cup-Triumph 1988. Viel reden wollten die Leverkusener deshalb nicht. Sie absolvierten ein paar Pflicht-Interviews im Fernsehen, in denen sie zu verstehen gaben, was sie von der Art und Weise, wie die Roma das 0:0 ermauert hatte, hielten.

Nadiem Amiri wetterte bei RTL, "das ist kein Fußball, das ist eine Frechheit. Dass so eine Mannschaft im Finale steht, ist bitter." Kerem Demirbay nannte die Römer "sehr erfahren. Dass so eine Spielweise belohnt wird, ist bitter. Man muss dennoch Glück wünschen, sie haben es eklig, aber gut gemacht."

Bayers Trainer Xabi Alonso wollte derweil niemanden kritisieren. "Das ist Fußball, wir haben alles probiert. Ich habe es schon gesehen, aber ich möchte das nicht kommentieren", sagte der Spanier, der von 2010 bis 2013 bei Real Madrid unter Mourinho spielte. Auch für Alonso war es eine Art Lehrstück, wie man eine Mannschaft zu einem Titel führt.

Auch wenn es "keine schöne Art" ist, "in ein Finale einzuziehen", wie RTL-Experte Karl-Heinz Riedle kritisierte. "Es ist schon bitter, wenn man so rausfliegt. Die AS Rom hat so gut wie gar nichts gemacht. Sie haben permanent das Spiel verzögert. Für den Fußball ist das eine Schande."

"Schiedsrichter lässt sich verarschen"

Lothar Matthäus ("Das ist kein schöner Fußball, aber das Ergebnis spricht für Rom und Mourinho") war sich sicher, dass bei der WM in Katar angesichts des Zeitspiels 20 Minuten nachgespielt worden wären. In Leverkusen waren es ganze acht, die Schiedsrichter Slavko Vincic aus Slowenien draufpackte.

"Wenn wir die WM sehen, wo schon normale Spiele zehn Minuten Nachspielzeit hatten, dann müssen wir heute 20 oder mehr Minuten nachspielen. Ansonsten lässt der Schiedsrichter sich verarschen, wenn er das mit sich machen lässt", schimpfte Bayer-Sportchef Simon Rolfes. Er ärgerte sich, "dass nach jedem Torschuss ein Römer fast mit der Trage runtergetragen werden musste, so schwer waren die ja verletzt". Die Italiener hätten "permanent versucht, den Rhythmus des Spiels und die Stimmung im Stadion zu brechen. Wenn wir gute Situationen hatten, lag ja ganz sicher einer auf dem Boden."

Doch hier muss Bayer bei allem verständlichen Frust auch ein Stück weit vor der eigenen Türe kehren. Denn Chancen waren da, Bayer dominierte die erste Halbzeit, hatte Räume, Momente, Möglichkeiten, ließ das alles jedoch ungenutzt. Als es die Gäste nach dem Seitenwechsel auf die Spitze trieben, zeigte das Treiben irgendwann tatsächlich Wirkung, der Rhythmus litt, die Zielstrebigkeit, die Konzentration. Das Leverkusener Spiel lief durch die kleinen Nebenkriegsschauplätze längst nicht mehr so flüssig. Unter dem Strich bleibt die Erkenntnis, dass die Qualität da ist, um die Europa League zu gewinnen, zur internationalen Klasse aber auch das Toreschießen gehört.

In der kommenden Saison nicht europäisch?

Das Bittere für Bayer: Es ist nicht auszuschließen, dass diese hoch veranlagte Mannschaft in der kommenden Saison nicht europäisch spielt. Die aktuell siebtplatzierte Werkself müsste in der Bundesliga noch Rang sechs erreichen. Oder Siebter werden und RB Leipzig den DFB-Pokal holen.

Von den Szenarien wollte Trainer Alonso noch nichts wissen. "Darüber reden wir morgen", sagte er. "Wir waren in beiden Spielen nicht schlechter. Vielleicht mal zehn Minuten zwischendurch. Wir hätten das Ticket für das Finale verdient gehabt. Aber ich will nicht weinen." Auch wenn die Art und Weise des Ausscheidens schmerzt.

Mourinho hatte mit seiner Taktik und der harschen Kritik daran übrigens kein Problem. "Ich denke, es ist die alte Geschichte: Das Team, das verliert, sieht es immer als Entschuldigung. Aber umgekehrt würden sie immer das Gleiche machen", sagte der Portugiese. So wie er zelebriert es allerdings kaum ein Zweiter.

Verwendete Quellen:

  • Pressekonferenz nach dem Spiel
  • TV-Übertragung RTL
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