Im Frauenfußball sind Spielerinnen mit Migrationsgeschichte unterrepräsentiert. Die frühere Bundesliga-Spielerin Tugba Tekkal, die das Empowerment-Projekt Scoring Girls* betreibt, erklärt, woran das liegt und was getan werden muss, um dies zu ändern.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Christian Stüwe sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Mitte Oktober postete der Account des FC Arsenal ein Mannschaftsfoto, das für Verwunderung sorgte. Das Foto zeigte Trainer Jonas Eidevall und 27 Spielerinnen, alle mit heller Haut. Eine schwarze Spielerin oder eine Spielerin aus einer anderen ethnischen Minderheit suchte man vergeblich.

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Die fehlende Diversität in der Mannschaft rief einige Fans der Gunners auf den Plan. Eine Mannschaft mit ausschließlich weißen Spielerinnen repräsentiere weder die Gesellschaft Londons noch stehe sie im Verhältnis zur deutlich diverseren Männermannschaft Arsenals, stand in den Kommentaren zu lesen. "Können nur weiße Frauen Fußball spielen?", fragte eine Followerin

Arsenal reagierte auf die Kommentare mit einem Statement. "Wir sind uns bewusst, dass unser derzeitiger Kader der ersten Frauenmannschaft nicht die Vielfalt widerspiegelt, die im Verein und in den Communities, die wir vertreten, existiert", teilte der Klub mit. "Den Anteil von jungen Frauen und Mädchen mit diversem Hintergrund zu erhöhen, ist für uns im Jugendbereich eine der wichtigsten Prioritäten."

Allerdings ist die fehlende Diversität im Frauenfußball kein Problem, das nur den FC Arsenal oder England betrifft. Im deutschen WM-Kader des DFB-Teams standen in diesem Sommer mit Sara Doorsoun und Nicole Anyomi nur zwei Spielerinnen, deren Familien einen Migrationshintergrund haben. Während spätestens seit der WM 2006 Spieler mit Migrationsgeschichte bei den DFB-Männern kaum noch wegzudenken sind, ist der Anteil bei den Frauen gering. Aber woran liegt das?

Viele Mädchen mit Zuwanderungsgeschichte fühlen sich nicht zugehörig

"Ich kenne es aus meiner eigenen Erfahrung und aus der der Scoring Girls* – viele Mädchen mit Zuwanderungsgeschichte fühlen sich nicht angesprochen, nicht zugehörig", erklärt Tugba Tekkal im Gespräch mit unserer Redaktion. "Das gilt für den Sportplatz, aber auch für Schule, für den Alltag in Deutschland. Ich habe, bis ich 16 war, nicht verstanden, dass Vereinssport mich mitmeint. Dass ich auch dazugehören kann. Und das hat sicherlich auch damit zu tun, dass es nur wenige Spielerinnen im Profifußball gibt, die Zuwanderungsgeschichte haben."

Tekkal selbst war eine dieser Spielerinnen, für den Hamburger SV und den 1. FC Köln lief die 38-Jährige in der Bundesliga auf. Dabei musste sie als Tochter von kurdisch-jesidischen Eltern, die in den 1970er Jahren aus der Türkei nach Deutschland ausgewandert waren, zunächst heimlich mit ihren Geschwistern auf dem Bolzplatz spielen, erst im Alter von 16 Jahren begann sie beim TSV Havelse mit dem Vereinsfußball. Ihre Geschichte steht exemplarisch für die Probleme, aber auch die Chancen junger Fußballerinnen mit Migrationshintergrund.

"In vielen ihrer Herkunftsländer ist Fußballspielen für Mädchen und Frauen verboten. Wir müssen diese Eltern abholen."

Tugba Tekkal

"Ich selbst musste meine Eltern jahrelang davon überzeugen, dass ich Fußball spielen darf", erzählt Tekkal. "Genau wie die Mädchen mit Zuwanderungsgeschichte werden auch ihre Eltern nicht abgeholt. Wir können nicht davon ausgehen, dass alle den gleichen Weg in Sportvereine finden. Manche müssen wir zu Hause abholen, aufklären, erklären. Viele Eltern, die mit ihren Kindern nach Deutschland fliehen mussten, haben sie mit ihrem Leben beschützt. Vor Krieg, Verfolgung und Unterdrückung. In vielen ihrer Herkunftsländer ist Fußballspielen für Mädchen und Frauen verboten. Wir müssen diese Eltern abholen."

Niedrigschwelliger Zugang zum Sport ist für Tugba Tekkal ein entscheidender Faktor

Nach dem Ende ihrer aktiven Karriere wurde Tekkal Aktivistin, Trainerin und Sozialunternehmerin. Sie gründete mit drei ihrer Schwestern den Verein Háwar.help e.V., um auf Menschenrechtsverletzungen und Vernichtungskampagnen gegen ethnisch-religiöse Minderheiten wie die Jesiden durch den Islamischen Staat aufmerksam zu machen. Seit 2016 sind die Scoring Girls* ein Projekt des Vereins; das Ziel es ist, Mädchen unabhängig von ihrer Nationalität, Herkunft oder Glaubensrichtung das Fußballspielen zu ermöglichen.

Gelingen soll dies durch Niedrigschwelligkeit, wie Tekkal berichtet: "Wir sind ein Empowerment-Projekt, das über den Fußball die Brücke in die Gesellschaft schlägt. Alle unsere Angebote sind kostenlos und stehen allen Mädchen offen – egal ob sie nach Deutschland geflohen sind oder ob sie hier geboren sind und sich Vereinssport nicht leisten können. Wir schenken den Mädchen einen Raum, wo sie sich sicher fühlen können. Und den sie selbst mitbestimmen können – es geht um Partizipation und Teilhabe." Das Projekt hat mittlerweile mehrere Standorte in Berlin und Köln, auch im Irak sind die Scoring Girls* aktiv.

"Ja, wir spielen gemeinsam Fußball", sagt Tekkal: "Aber vor allem schaffen wir sozialpädagogische Unterstützung, Hausaufgabenbetreuung, Ansprechpartner bei schulischen Problemen, Einzelfallbetreuung, Vermittlung von psychosozialer Hilfe. Wir lassen diese Mädchen nicht allein mit ihren Sorgen, aber glauben auch vor allem an ihre Träume und Wünsche."

Es gibt ein großes Potenzial an Spielerinnen mit Migrationsgeschichte

Der Frauenfußball hat in den letzten Jahren eine rasante Entwicklung genommen. Trotzdem spielen in der Bundesliga bisher nur zwölf Vereine. Mittelfristig soll die Liga erweitert werden, dafür werden viele Spielerinnen auf Top-Niveau gebraucht. Im Amateursport, wo viele Vereine Probleme haben, Mannschaften zusammenzubekommen, ist man ohnehin über jede aktive Spielerin froh. Mädchen mit Migrationsgeschichte besser in die Vereine und Mannschaften zu integrieren, könnte zur Lösung dieser Probleme beitragen.

Der DFB hat dieses Potenzial natürlich auch längst erkannt und betreibt mit den "Kicking Girls" ebenfalls ein Projekt, das Mädchen mit Migrationsgeschichte in die Vereine bringen soll. Mittlerweile gibt es 220 Standorte in ganz Deutschland.

"Sie müssen auf ihre Bedürfnisse eingehen. Ein kultursensibles, niedrigschwelliges Angebot schaffen. Alle mitdenken. Nicht nur die Mädchen, deren Eltern genug Geld für Beiträge und Ausrüstung haben, die zu jedem Training und jedem Spiel gefahren werden können", erklärt Tekkal, worauf es für den DFB und die Vereine ankommt: "Wir brauchen Infomaterial nicht nur auf Deutsch, wir brauchen ein Einbeziehen von den Mädchen und Familien, die sich vielleicht noch nicht in Deutschland und der Vereinsstruktur auskennen. Wir müssen sie an der Haustür abholen und erklären. Wir müssen diesen Mädchen vermitteln: Deutschland braucht euch und ihr gehört dazu."

Der Hype um den Frauenfußball dürfte mehr Mädchen in die Vereine bringen

Der Hype, der in den letzten eineinhalb Jahren in Deutschland um den Frauenfußball entstanden ist, trägt natürlich auch dazu bei, mehr Mädchen in die Vereine zu bringen. Die Spiele der Bundesliga werden auf mehreren Fernsehsendern übertragen, die Einschaltquoten sind gut, in den Stadien sind deutlich mehr Fans. Und auch wenn es bislang nur wenige Profi-Spielerinnen mit Migrationsgeschichte gibt, dienen diese natürlich als Vorbilder.

"Auf jeden Fall", sagt Tugba Tekkal: "Wenn wir mit den Scoring Girls* Spiele der Frauen gucken, egal ob im Stadion oder im Fernsehen, leuchten ihre Augen. Sie sagen dann: 'Ich kann es auch schaffen'. Sie spüren, ob der Frauenfußball ernst genommen wird oder nicht. Ob er als wichtig genug erachtet wird. Ich kann es nicht oft genug sagen: Wir brauchen Repräsentanz und Vorbilder auf dem Platz. Daraus entstehen Träume und Hoffnung."

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