Genau ein Jahr ist Jürgen Klopp jetzt als Trainer beim FC Liverpool im Amt. Kaum ein anderer wird so gefeiert wie der Deutsche, dabei hatten die ersten 365 Tage an der Mersey neben spektakulären Höhen auch einige Tiefen zu bieten.
Das letzte Mal, als den Deutschen so viel Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde, war die Stimmung einigermaßen feindselig. "Watch out, Fritz!", bellte die "Sun" am Tag des EM-Halbfinales 1996 zwischen England und Deutschland auf ihrer Titelseite. Zu sehen war dazu Englands Verteidiger Stuart Pearce mit einem Stahlhelm auf dem Kopf, als Unterzeile prangte das ehemalige Kriegs-Credo "No surrender", "keine Kapitulation".
Es waren andere Zeiten, die Erinnerungen besonders der Boulevardpresse an den zweiten Weltkrieg und die Rolle Deutschlands und Englands ein gern genommenes Stilmittel, wenn es beim Fußball mal wieder gegeneinander ging. Es gehörte einfach zur Folklore.
Als
Ein stetes Auf und Ab
Es ist jetzt genau ein Jahr her, als Klopp Einzug hielt in den Premier-League-Zirkus. Klar waren
Sein Charisma, seine Aura und seine Rhetorik sind auf der Insel ein Mythos bis zum Tag seiner Vorstellung bei den Reds. Da erobert er die Herzen der Fans und großer Teile der Medien im Sturm mit Sätzen wie "Wir müssen von Zweiflern zu Glaubenden werden!", bis heute legendär bleibt sein Bonmot vom "Normal One". Alles andere als normal ist der Hype, der binnen weniger Tage um ihn entsteht.
Die sozialen Netzwerke überschlagen sich fast mit Bildchen und Videos, fast im gesamten Land bricht eine kleine Kloppo-Mania aus, in Liverpool werden Pubs nach ihm benannt. Der ansonsten viel zu straffe Spielplan will es so, dass bis zu seiner Premiere neun lange Tage vergehen. Das unspektakuläre 0:0 gegen die Tottenham Hotspur lässt die Fans wenigstens nicht vollends überschnappen.
Klopp bekommt seiner Mannschaft schnell einige grundlegende Dinge vermittelt, die Reds spielen phasenweise echten Klopp-Überfall-Fußball, schlagen Chelsea klar und wischen mit Manchester City beim 4:1-Sieg förmlich den Boden auf, im League Cup überrennt Liverpool den FC Southampton in dessen eigenen Stadion und hätte beim 6:1 auch zweistellig gewinnen können.
Fragen nach der möglichen Meisterschaft begegnet Klopp auf die ihm eigene Weise. "Wie bitte? Sind Sie verrückt geoworden? Ich hoffe, ich habe die Frage nicht richtig verstanden ..." Es sind die Höhepunkte, die aber noch viel zu oft unterbrochen werden von rätselhaften Auftritten.
Liverpool zeigt zwei Gesichter
Gegen Newcastle (0:2), Watford (0:3) oder West Ham (0:2) nur kurze Zeit später spielt die Mannschaft dann wieder so, als hätten sich die Spieler zufällig am Sonntagmorgen im Park getroffen, um anderthalb Stunden zu bolzen. Die Reds oszillieren zwischen Weltklasse und Kreisklasse.
Das ändert sich auch nach dem Jahreswechsel nicht. Es geht auf und ab, Liverpool kommt in der Liga nicht an die Top-Teams ran, mischt aber in den Cup-Wettbewerben munter mit. Die Ergebnisse des Januars: 0:2, 1:0, 2:2, 3:3, 0:1, 3:0, 5:4, 6:5, 0:0. Der FC Liverpool bleibt eine Wundertüte.
Der ganz normale Wahnsinn
Dann kommt, was kommen musste: Die Reds bekommen Borussia Dortmund als Gegner im Europapokal zugelost. Die Schnappatmung ist hüben wie drüben am Limit, Klopp selbst ist das alles sichtlich unangenehm und wirkt in dieser Phase nicht erfreut oder beschwingt, sondern nur noch gereizt. "Am liebsten würde ich erst wieder nach den Spielen über Dortmund sprechen."
Das muss er dann auch tun. Das 4:3 im Rückspiel nach einem 1:3-Rückstand ist ein magischer Abend, den selbst die Anfield Road mit ihren tausenden geführten Schlachten so oft noch nicht erlebt hat. Das Klopp-Wunder elektrisiert und mobilisiert die Massen. Aber die Krönungen bleiben aus.
Liverpool verliert bereits im Februar das Finale im League Cup gegen City und später, im letzten Saisonspiel überhaupt, in der Europa League gegen den FC Sevilla. Vielleicht war das auch ganz gut so, dass nicht nach wenigen Monaten schon die erste Silberware in den Trophäenschrank der Reds wanderte.
Die Mannschaft war in der vergangenen Saison einfach noch nicht so weit, sie war zu inkonstant, von Klopp noch nicht entsprechend modelliert. Und die Enttäuschungen von damals geben Kraft für das Heute.
Die Zukunft scheint rosig
Im Sommer hat Klopp erstmals an der Kaderplanung werkeln können. Er hat sein Spielsystem umgestellt, lässt jetzt im 4-3-3 angreifen und im einem 4-1-4-1 verteidigen. Er hat Stilmittel wie das Freiziehen von Räumen um den gegnerischen Sechzehner eins zu eins aus Dortmund übernommen und implementiert.
Neulich war er in der Sendung "Monday Night Football" zu Gast, zusammen mit Jamie Carragher sezierte Klopp da am Taktiktisch fast eine Stunde lang Liverpools Spiel mit all seinen Stärken und Schwächen, besonders bei Defensiv-Standards. Die Stärken kommen mittlerweile aber immer besser zum Vorschein.
Liverpool ist mittendrin in der Spitzengruppe der Liga, keine Mannschaft hat mehr Tore erzielt als Klopps Team. Und dass die Reds heuer nicht europäisch vertreten sind, dürfte sich auf Sicht als Glücksfall erweisen. So bleibt, anders als bei allen anderen Kontrahenten, viel mehr Zeit, um sich inhaltlichen Dingen zu widmen.
Die wilden Ausritte auf den Pressekonferenzen hat er eingedämmt. Sprüche wie "mit meiner Zweitbrille sehe ich immer ein bisschen wie ein Serienkiller aus" gibt es nur noch selten zu belächeln. Das erste Jahr im großen Zirkus ist vorbei und Jürgen Klopp will es als das sehen, was es ist: Vergangenheit.
"Es ist ein Jahr. Ich bin ein Jahr älter und der ganze Mist", sagt er auf sein Jubiläum angesprochen. "Ich bin aber nicht hier, um ein Jahr zu bleiben. Sondern hoffentlich für eine lange Zeit!" Klopp und sein Trainerteam haben ihre Verträge bis 2022 verlängert. Die Chancen, dass der FC Liverpool in dieser Zeit endlich wieder englischer Meister wird, stehen so gut wie lange nicht.
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