Dortmunds Routinier hat sich zuletzt noch einmal stark für einen Platz im deutschen EM-Kader beworben – allerdings ohne Erfolg. Bundestrainer Julian Nagelsmann vertraut anderen Innenverteidigern und die Frage steht im Raum: Ist das nachvollziehbar oder ungerecht?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Stefan Rommel sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Das muss man dem Deutschen Fußball-Bund ja lassen: Mit der Salami-Taktik seiner Kadernominierungen ist dem schwer gebeutelten Verband ein echtes Ausrufezeichen gelungen. Halb Deutschland diskutiert den ungewöhnlichen PR-Stunt und durfte sich in den vergangenen Tagen fast schon gespannt auf die nächste Berufung freuen. Da ist es fast schon schade, dass die Aktion mit der Bekanntgabe der letzten verbliebenen Plätze am Donnerstagnachmittag nun auch schon wieder vorbei ist.

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Auch Mats Hummels hatte es in die Schlagzeilen geschafft, allerdings nur im Nebenprogramm: Der Routinier wurde unfreiwillig zu einer Art tragischer Held. Seine angebliche Kadernominierung im Rahmen von "TV total" am Mittwochabend entpuppte sich schnell als Maskerade.

Mats Hummels wird kein Teil der deutschen Nationalmannschaft bei der Heim-EM in wenigen Wochen sein. Das steht nun zumindest vorläufig fest. Erst am 7. Juni, am Tag des letzten Testspiels der deutschen Auswahl gegen Griechenland, muss Julian Nagelsmann das finale Aufgebot an die Uefa schicken.

Bis dahin wäre – theoretisch – noch Zeit, kann auf mögliche verletzungsbedingte Ausfälle reagiert werden. Und Hummels doch noch ein Hintertürchen offen bleiben. Besonders groß erscheinen Hummels‘ Chancen dafür allerdings nicht.

Nachvollziehbar oder ungerecht?

Aktuell ist davon auszugehen, dass Hummels‘ letzter Tanz mit der Nationalmannschaft ausbleibt. Dass der eine große Traum der Europameisterschaft im eigenen Land geplatzt ist für den mittlerweile 35-Jährigen. Der Bundestrainer hat sich anders entschieden, Julian Nagelsmann schenkt den Innenverteidigern Tony Rüdiger, Jonathan Tah, Robin Koch, Nico Schlotterbeck und Waldemar Anton das Vertrauen.

Für Hummels war nun trotz der bei der Uefa durchgedrückten Erweiterung der Kadergröße von 23 auf immerhin 26 Spieler kein Platz – und erneut diskutiert die halbe Nation, ob das nun nachvollziehbar ist oder eine große Ungerechtigkeit, die Hummels da widerfährt.

Die letzten Wochen und Monate hatte der Weltmeister von 2014 jedenfalls genutzt, um noch einmal und mit heftigem Nachdruck Werbung in eigener Sache zu machen. Hummels hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er dieses Turnier als eine Art Abschluss seiner DFB-Laufbahn sehen würde, als Erfüllung eines lange gehegten Traums. Und er hat dafür auch alles getan, um sich ins Rampenlicht zu stellen.

Immer noch überragend – in bestimmten Situationen

Mit teilweise herausragenden Leistungen verhalfen er und sein Partner Schlotterbeck in der Dortmunder Abwehrmitte dem BVB zum Einzug ins Finale der Champions League. Hummels wusste dabei nicht nur in den Spielen als Instanz zu überzeugen, sondern auch abseits des Platzes als Mahner und Motivator. Als einer, an dem sich die Mannschaft orientieren und aufrichten kann. Dessen Wort besonderes Gewicht hat, nach innen wie nach außen. Ein Elder Statesman auf einer Mission – die auf den letzten Metern aber doch noch zu scheitern droht.

Dabei könnte Hummels so ziemlich jeder Mannschaft der Welt etwas geben. Nur wenige verteidigen so vorausschauend und antizipativ wie er, haben im Vordecken und Rausstechen so ein gutes Gespür für die Situation und auch das nötige Timing. Im Sechzehner ist Hummels in der Luft und am Boden eine Instanz bei den sogenannten "klärenden Aktionen". Seine Qualitäten, die Ruhe und die Übersicht im Spiel mit dem Ball sind bekannt, die Stärke bei offensiven Standards ebenfalls.

Die Mannschaft hat nicht nur beim letzten großen Turnier vor rund anderthalb Jahren ein veritables Defensivproblem offenbart, fünf Gegentore gegen Spanien, Japan und Costa Rica waren indiskutabel und ein Hauptgrund für das blamable Aus schon nach drei Spielen. Ein zusätzlicher gestandener Abwehrspieler hätte da jetzt durchaus helfen können.

Und als Stammesältester nach Kapitän Manuel Neuer und Teilzeitarbeiter hätte man sich Hummels auch in jener Rolle gut vorstellen können, die Per Mertesacker vor zehn Jahren in Brasilien ausgefüllt hat. Aber offenbar hat der Bundestrainer andere Vorstellungen. Wie also kann das sein?

"Das sind keine schönen Gespräche, das habe ich natürlich nicht gerne gemacht. Am Ende muss ich aber im Sinne der Mannschaft eine Entscheidung treffen."

Bundestrainer Julian Nagelsmann

Ein entscheidender Grund, der gerne etwas unter den Tisch fällt, dürfte die Spielanlage der Nationalmannschaft sein. Mit dem BVB durfte oder musste Hummels in den wichtigen, den großen Spielen aus einem tiefen Abwehrblock heraus verteidigen. Immer in der Position, mit Schlotterbeck eng an seiner Seite. Die Borussia errang ihre großen Siege auch dank eines gewissen Außenseiter-Fußballs, mit großem Fokus auf dicht gestaffelte Verteidigungslinien und wenig Raum im Rücken der Abwehrkette.

Bei der Nationalmannschaft sind aber zumindest in den ersten Spielen der Gruppenphase andere Elemente gefragt. Deutschland wird in jedem Spiel der Favorit sein, anrennen und dabei hoch verteidigen müssen. Mit viel Raum hinter der letzten Linie. Hummels‘ Geschwindigkeitsnachteile kämen dabei anders zum Tragen als bei der BVB-Variante. Sein Dortmunder Kollege Schlotterbeck bringt schlicht mehr Endgeschwindigkeit mit, Rüdiger, Tah und Anton spielen in Klub-Wettbewerben mit Real, Bayer 04 und Stuttgart als Innenverteidiger fast dauerhaft an der Mittellinie.

Robin Koch bildet da eine Ausnahme und bot nach einer durchwachsenen Saison mit und bei Eintracht Frankfurt noch am meisten Debattenpotenzial. Auch im Vergleich zu Hummels und dessen Nichtbeachtung.

"Wir glauben, dass die nominierten Spieler die für ihnen zugedachten Rollen bestmöglich ausfüllen", sagte Nagelsmann und betonte bei der Pressekonferenz am Donnerstag noch einmal, dass Wert und Aufgabe in den jeweiligen sich unterscheiden können zu dem, was bei der Nationalmannschaft gefragt ist.

Anfang der Woche habe er Hummels und dem ebenfalls nicht berücksichtigten Leon Goretzka Bescheid gegeben. "Das sind keine schönen Gespräche, das habe ich natürlich nicht gerne gemacht. Am Ende muss ich aber im Sinne der Mannschaft eine Entscheidung treffen. Beide waren sehr enttäuscht und wären gerne dabei gewesen. Ich habe versucht, zu begründen, wieso und warum. Aber der Inhalt dessen bleibt unter uns. Das waren keine bösen Gespräche, aber natürlich gibt es angenehmere als die."

Hummels' DFB-Karriere trudelt leise aus

Und so enden Mats Hummels‘ Karriere in der Nationalmannschaft nicht mit einem möglichen großen Knall und eventuell dem EM-Titel – sondern heimlich, still und leise. Und in gewisser Weise auch so, wie sie begonnen hatte: Mit einer satten Enttäuschung.

2010 stand Hummels im Perspektivkader vor der WM in Südafrika. Trotz starker Leistungen im Verein und diverser verletzungsbedingter Ausfälle kurz vor dem Turnier schaffte es Hummels aber anders als die 2009er-Europameister Manuel Neuer, Jerome Boateng, Mesut Özil und Sami Khedira und andere junge Spieler wie Holger Badstuber und natürlich Thomas Müller nicht in den Kader.

Mit zwei Jahren Verzögerung begann deshalb die Turnier-Laufbahn. 2012 war Hummels als Double-Sieger vom damaligen Bundestrainer Joachim Löw nicht mehr zu übersehen, zwei Jahre später holte Hummels als Stammspieler den WM-Pokal. Es folgten noch je eine EM und eine WM, wobei das Turnier 2018 in Russland auch als eine der großen Enttäuschungen in den Büchern steht.

Es folgte die vorübergehende Ausbootung durch Löw, die Rückkehr und die Nichtberücksichtigung 2022 durch Hansi Flick. Und jetzt eben der erneute Tiefschlag - und womöglich auch der letzte.

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