Vor dem Start der Heim-EM träumen die deutschen Handballer von einer Medaille. Dafür muss allerdings eine Menge zusammenpassen. Welche Zutaten man benötigt, wie man mit dem Druck eines Heimturniers umgehen kann, wie speziell die Hauptrunde in Köln wird und auf wen es bei der deutschen Mannschaft besonders ankommt – darüber haben wir uns mit dem früheren Weltmeister und heutigen ARD-Experten Dominik Klein unterhalten.

Ein Interview

Dominik Klein, Sie wissen, wie man mit der Nationalmannschaft große Titel gewinnt. Was braucht man für Zutaten?

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Dominik Klein: Ein Turnier ist eine spezielle Herausforderung. In so einer kurzen Phase gilt es, als Team den maximalen Zusammenhalt und ein gutes Verständnis füreinander zu schaffen. Große Begeisterung des Teams, leidenschaftlicher Einsatz, dazu ein bedingungsloses Füreinander – es sind so viele Aspekte, die da mit reinspielen. Es gibt immer eine Schnittmenge der Gemeinschaft, des Teamgeistes und des Sportlichen, die sich bei einem Turnier entwickeln muss. Wie das perfekt funktionieren kann, haben zuletzt erst die deutschen Basketballer gezeigt, als sie Weltmeister geworden sind.

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Dominik Klein ist im Hinblick auf die EM optimistisch

Wie sieht die Mischung beim deutschen Team aus?

Der Mix aus Erfahrung und Jungstars mit einer gewissen Unbekümmertheit lässt mich optimistisch und mit viel Vorfreude auf diese EM blicken, weil es eine super zusammengestellte Mannschaft ist. Dementsprechend ist das auf so einer großen Bühne wirklich eine große Chance für alle Beteiligten.

Viel Aufmerksamkeit bekommt das Auftaktspiel gegen die Schweiz in Düsseldorf im Fußballstadion. Wie wichtig ist das Auftaktspiel bei so einem Turnier?

Ich tue mich immer etwas schwer damit, bei einem einzelnen Spiel von einer großen Wichtigkeit zu sprechen. In der Sportpsychologie ist immer das nächste Spiel, das vor dir liegt, das wichtigste. Von daher würde ich das Auftaktspiel gar nicht so sehr herausstellen wollen, auch wenn es natürlich ein einzigartiges Spiel ist. Unter dem Strich ist es ein Gruppenspiel, das es zu gewinnen gilt. Alle anderen Nebengeräusche sind Emotionen, die das Ganze noch steigern können, die das Ganze noch zu einem wirklich besonderen Spiel machen können.

Welche Rolle spielt der Heimvorteil? Das kann ja auch schon mal eine Bürde werden und Druck aufbauen…

Wenn man sich vor Augen führt, dass man in Düsseldorf von 50.000 Fans gefeiert wird – wenn das nicht beflügelt, weiß ich es auch nicht. Alleine dieses Bild sollte so viel Energie freisetzen, um alles dafür zu tun, dieses Spiel zu gewinnen. Was einen möglichen Druck angeht, ist jeder Spieler für sich selbst verantwortlich, wie er das mit sich ausmacht. Ich habe das früher mit einem Performance-Coach gemacht. Mit ihm kann man besprechen, was einen erwartet und wie man das schon vor einem Spiel in einer gewissen Form verarbeiten kann, damit es keine Energie frisst. Die Prozente fehlen dir sonst am Ende eines Spiels. So ein Coach ist oftmals eine wichtige Hilfe, auch wenn wir Männer uns oftmals nicht eingestehen, dass wir sie brauchen, weil wir alles können und die Besten sind und ja keine Schwächen haben. Aber eine mentale Verarbeitung gehört für mich zum Profisport absolut dazu.

Oft entsteht bei solchen Turnieren ein extremer, aber auch zeitlich begrenzter Hype rund um die Mannschaft und den Handball. Wie erklären Sie sich das Phänomen?

Die mediale Präsenz zum Zeitpunkt der Turniere ist sehr hoch, wo wir immer wieder feststellen, dass die Nationalmannschaft das Zugpferd ist, wenn sie in den Öffentlich-Rechtlichen Sendern zu sehen ist. Daneben ist die Vorbildfunktion nochmal eine ganz andere, wenn sie medial so dargestellt wird, dass sich alle plötzlich lange Haare wachsen lassen, weil sie so sein wollen wie Juri Knorr. Oder weil sie ins Tor wollen, um Andy Wolff nachzuahmen. Diesen Hype können sie selbst entwickeln, indem sie ihr Gesicht zeigen, für Deutschland auftreten, mit allem, was sie haben.

"Die Fußballer haben eine gewisse Distanz entwickelt über die Jahre."

Dominik Klein

Gerne wird ja der Vergleich herangezogen: Das kann der Fußball vom Handball lernen. Im Sommer ist die Fußball-EM. Was kann sich der Fußball im Januar vom Handball abschauen?

Der Vergleich ist schwierig, weil der Fußball eine andere Popularität hat, eine andere Intensität, was die mediale Darstellung angeht. Für mich als Spieler war es immer das Schönste, den Fans etwas zurückgeben zu können, nahbar zu sein. Die Fußballer haben eine gewisse Distanz entwickelt über die Jahre. Aber es wird ja bereits daran gearbeitet, dass dies wieder eine Tugend sein kann. Ich hoffe, dass der Handball Begeisterung schüren und den Hype anzünden kann für das Sportjahr 2024. Um dann auch die Fußballer zu infizieren, was es heißt, ein extrem motiviertes Team für Deutschland an den Start zu bringen.

Sie erleben das Ganze jetzt als Experte. Sehen Sie das Spiel anders als früher?

Die Expertenrolle hat sich bei mir ein bisschen entwickelt. Als Spieler war ich noch emotionaler. Jetzt will ich die Emotionen gar nicht kleinreden. Aber ich habe die Erfahrung, acht Jahre unter Alfred Gislason gespielt zu haben, und die spielt da sehr viel mit rein. Und wenn ich gewisse Spielzüge und Spielabläufe sehe, dann kann ich sehr gut beurteilen, wie dieser Spielzug gespielt wurde und ob das jetzt die richtige Entscheidung war. Von daher bin ich viel taktischer und analytischer bei der Beobachtung, weiß aber, dass wir natürlich auch Zuschauer haben, die den Handball nicht so intensiv verfolgen. Und für mich und das Team ist es die große Aufgabe, alle abzuholen.

Ist man bei Weggefährten wie zum Beispiel dem Bundestrainer vorsichtiger im Umgang?

Auch da gibt es eine Entwicklung. Alfred zum Beispiel hat sehr schnell gemerkt, dass wir bei den Analysen ziemlich genau wissen, was nach einem Spiel angesprochen werden kann. Und ich freue mich eigentlich immer wieder, ihn zu treffen und noch mehr jetzt als Experte, weil wir auf Handball-Ebene einfach eine gleiche Sprache sprechen. Das gilt auch für die Spieler.

"Der kühle Isländer, wie ich ihn noch als Vereinstrainer ab und zu erlebt habe, ist zu einem lockeren Bundestrainer geworden."

Dominik Klein

Sie kennen Alfred Gislason, Sie haben ihn selbst als Trainer erlebt. Wo hat er seine Stärken, wo auch Schwächen?

Alfreds größte Stärke ist die Analyse. Er ist sehr ehrlich und klar bei dem, was er von seinen Spielern verlangt und wie er seine Spieler sieht. Das ist der wichtige Punkt der Rollenverteilung: Dass jeder weiß, welche Rolle er wie einnimmt. Das ist bei einem Team, das sich neu formiert, immer eine wichtige Aufgabe, sowohl vom Trainer als auch von den Spielern. Ich weiß, dass es bei ihm in der Kommunikation eine Entwicklung gab. Der kühle Isländer, wie ich ihn noch als Vereinstrainer ab und zu erlebt habe, ist zu einem lockeren Bundestrainer geworden. Wobei er sich den größten Druck selbst macht, wenn es darum geht, jetzt auch die Ergebnisse einzufahren.

Wie kompliziert wird die Gruppe mit der Schweiz, Nordmazedonien und Frankreich?

Die deutsche Mannschaft hat mit Frankreich einen Favoriten auf den Titel bereits in der Gruppenphase. Gegen die Schweiz und Nordmazedonien ist sie in der Favoritenrolle. Aber wenn die Mannschaft den Prozess annimmt, die Entwicklungsschritte vollzieht, dann kann es weit gehen.

Wie schätzen Sie konkret die Chancen der deutschen Mannschaft ein?

Ich bin beim Team Entwicklung, ich sehe dieses Turnier als weiteren Entwicklungsschritt, um insgesamt weiter voranzukommen. Bei diesem Turnier wird die Mannschaft anhand der Gruppenspiele eine Entwicklung erleben. Wir wissen alle, dass es für die Hauptrunde nach Köln geht. Die Entwicklung bis dahin wird zeigen, wo die deutsche Mannschaft am Ende stehen kann. Daher wird Köln die Pflicht sein. Und dann gibt es in vier Spielen nochmal eine Entwicklung, wo man sich hoffentlich immer wieder steigert, wo die Mannschaft noch mehr zusammenwirkt, wo sie die Euphorie mitnimmt. Sie dürfen einfach nichts liegen lassen, wenn sie sich ihre Träume erfüllen wollen.

Bei der WM war es zuletzt Platz fünf, der logische nächste Schritt wäre das Halbfinale, das Team träumt von einer Medaille. Ist das für Deutschland realistisch?

In der Spitze mischen Schweden, Dänemark, Norwegen, Frankreich und Spanien mit, da geht es eng zu. Aber es ist klar, dass für das deutsche Team alles zusammenpassen muss, so wie es bei der WM auch der Fall war, als die deutsche Mannschaft in einem Flow war. Das braucht es als Grundlage, um unter die letzten Vier zu kommen. Ich möchte aber gar keine konkrete Platzierung nennen. Wenn ich die Entwicklung sehe, das bedingungslose Füreinander, die Begeisterung und Leidenschaft, und wenn das alles erlebbar und spürbar war, dann ist das für mich aus deutscher Sicht schon ein erfolgreiches Turnier. Und wenn das zu spüren ist, dann kannst du einen Flow und eine Euphorie entfachen, die dich weit tragen können.

Köln ist ab der Hauptrunde wie beim Titelgewinn 2007 das Wohnzimmer, wo so eine Euphorie entstehen kann. Was macht die Arena so speziell?

Diese Energie, dieses Enthusiastische, das Fahnenmeer – jeder Sportfan weiß, dass er etwas erlebt, wenn er in diese Halle kommt. Und das macht den Spirit aus, denn diese Halle kann Handball. Daher kann das eigentlich nur gut werden und ich drücke uns allen die Daumen, dass wir das auch tatsächlich erleben können.

Wer sind die Schlüsselspieler der Deutschen, auf wen kommt es an?

Im Angriff ist Juri Knorr der Motor, und Andreas Wolff ist im Tor der Rückhalt der Nationalmannschaft. Aber ich würde den Fokus gerne auf die Abwehr richten, die mit Julian Köster und Johannes Golla eine entscheidende und zentrale Rolle spielen wird. Dazu gehört natürlich auch eine ganze Mannschaft, die leidenschaftlich Abwehr spielt, die kämpft und bei der einer für den anderen da ist. Wenn das gezeigt wird, und wenn dann noch die Emotionalität und die Körpersprache dazu kommen, dann wird das die Leute begeistern.

Das Jahrzehnt des Handballs

Wie sehen Sie den Status Quo des deutschen Handballs und die Zukunft? Und wie wichtig wird die EM dafür sein?

Wir hören schon lange, dass das Jahrzehnt des Handballs die große Story ist. Und zu den kleinen Kapiteln, die bereits geschrieben wurden, gehört zum Beispiel die U21, von der wir sogar vier Weltmeister aus dem vergangenen Jahr in der Nationalmannschaft sehen. Gleichzeitig gibt es in diesem Jahrzehnt des Handballs auch die Frauen-WM im nächsten Jahr, dazu die Heim-WM der Männer 2027. Und dieser Weg dorthin zeigt einfach, welche Kapitel nicht nur die Nationalmannschaften schreiben können, sondern vielmehr auch jeder einzelne Verein in der ganzen Republik. Um Kinder in die Vereine zu bekommen, um in den Schulen den Handball zu vermitteln und diese tolle Sportart nach außen zu tragen. Und dafür gebe auch ich alles, dafür bin ich auch selbst an der Basis in meiner Funktion beim Bayerischen Handball-Verband oder der Gemeinnützigkeit des Handballcampus München, den ich gegründet habe.

Geben Sie zum Abschluss bitte noch den ultimativen Experten-Tipp ab: Wer holt den Titel und wo landet die deutsche Mannschaft?

Bei der ersten Antwort tue ich mich leichter als bei der zweiten. Ich wünsche mir den maximalen Erfolg in Köln für die deutsche Mannschaft. Nichtsdestotrotz sind die erfahrenen Dänen und Franzosen ganz vorne zu sehen. Ich würde es meinem Freund Nikola Karabatic, der seine letzte EM für Frankreich spielen wird, gönnen. Aber wir werden ja schon im dritten Gruppenspiel sehen, wo es für die Franzosen hingeht bei diesem Turnier.

Über den Gesprächspartner

  • Dominik Klein gewann mit der deutschen Nationalmannschaft 2007 den WM-Titel, auf Vereinsebene wurde der Linksaußen mit dem THW Kiel unter anderem acht Mal Meister, sechs Mal Pokalsieger und drei Mal Champions-League-Sieger. Heute ist der 40-Jährige unter anderem als Handball-Experte in der ARD tätig.
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