In rechtspopulistischen Kreisen gelten einige der Nationalspieler als "nicht deutsch genug". Genau sie sind aber die umjubelten Torschützen, die uns den Einzug ins Viertelfinale gesichert haben. Kein Feiertag für rassistische Arschgeigen, findet unsere Kolumnistin. Der satirische Wochenrückblick.

Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Marie von den Benken dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Herzlich willkommen zu diesem EM-temporär zu einer Fußball-Kolumne abgestürzten Wochenrückblick. Auch die vergangenen sieben Tage standen im Zeichen von hoch bezahlten Fußballmillionären, die sich (mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg) anschickten, das ihnen von Gott (oder wem auch immer) in die Wiege gelegte Supertalent in Fanbegeisterung umzuwandeln.

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Immerhin, das scheint zumindest der durchschnittliche EM-Teilnehmer verstanden zu haben, sind es am Ende immer noch die Fans, die ihre fürstlichen Gagen ermöglichen. Stichwort Fankultur. Einfacher geht es ja nun auch kaum. Mit vier, fünf spektakulären Auftritten kann man die geschundene Fan-Seele stolz machen und entschädigen für so manch dubiose Entwicklung im Profifußball, die sich in den vergangenen Jahren eingeschlichen hat.

Das geht von abenteuerlicher TV-Vermarktung bis hin zu WM-Turnieren in Katar. Während man in Deutschland seit Jahren damit hadert, dass in der englischen Premiere League, finanzseitig betrachtet, das Land entstanden ist, in dem Milch und Honig fließen, vergibt man in der eigenen Bundesliga die Sendelizenzen so kreuz und quer an jeden, der nicht schnell genug sein Angebot zurückziehen kann, dass man heute etwa 12 Abos von 18 Anbietern und Streaming-Plattformen benötigt, um von Erster über Zweite Liga bis zu DFB-Pokal, Champions League und Euro League sowie Länderspiele alles sehen zu können, wo die wichtigen Bälle rollen.

Früher schaltete man ARD ein, so erinnert sich zumindest mein Vater, und sah Paul Breitner und Franz Beckenbauer kicken. Mit gefühlt nur einer Kamera, die irgendwo über dem Mittelkreis positioniert war. Ohne 400 Field-Interviewer und Statistik-Einblendungen zwar, aber fußballnostalgisch muss das eine angenehme Zeit gewesen sein. Die eine Kamera war ausreichend. Da in den 70er- und 80er-Jahren der internationale Fußball mit einer Dynamik daherkam, wie man sie sonst nur von Öltankern kennt, gab es keinen Bedarf an 48 Spezial-Zeitlupen. Zeitlupe liefen die Jungs auf dem Platz quasi in Echtzeit.

Fußball ist unser Leben, denn König Fußball rasiert die Welt

Damals, so geht die familieninterne Legende bei uns, hätten selbst Vera Int-Veen und Ottfried Fischer Spielern wie Günter Netzer im Sprint von der Mittellinie zur Strafraumgrenze noch 20 Meter abgenommen. Mit gebrochenen Beinen. Und 40 Kilogramm schweren Eisenkugeln an beiden Füßen. Heute verfolgen allein drei Kameras die jeweiligen Superstars der Teams aus allen Winkeln, um noch das letzte Augenzwinkern des Ballsportidols einzufangen und an Milliarden fußballbegeisterte Kids auf der ganzen Welt auszuspielen, damit die dann ihre Eltern monatelang nerven können, bis die zermürbt klein beigeben und ihnen ein Trikot des Dribbelhelden kaufen.

In den ersten Jahren der wirtschaftlichen Auskommerzialisierung war man noch an der einen oder anderen Stelle dankbar für innovative Ideen oder außergewöhnliche Einblicke. Inzwischen ist das Spektakel darum größer, welche Influencerin Mats Hummels auf Instagram geliked hat und welches Kaugummi Cristiano Ronaldo wohin ausgerotzt hat, als welches System die Holländer (sind übrigens keine Brasilianer, das sagte jedenfalls Franz Beckenbauer einst, und der muss es wissen, denn er ist ebenfalls kein Brasilianer) gegen Frankreich wählen werden.

Und auch bei den vermeintlichen Hauptprofiteuren, den Stars, sorgt die mediale Rund-um-die-Uhr-Beschäftigung nicht zwangsläufig immer für den gewünschten Erfolg. Würden die Kameras nicht jede Bewegung, jeden Gesichtszug und jedes Augenrollen dokumentieren und jedes Wort von den Lippen ablesen, hätten Fußballwunderkinder wie Vinicius Jr. oder Jude Bellingham ihren Status als Hypersportsmänner behalten können und wären nicht in der Fan-Gunst dramatisch abgestürzt, weil ihre vermeintlichen Charakterschwächen auch abseits von Zweikämpfen auf dem Spielfeld lückenlos in Superzeitlupe dokumentiert wurden.

Fußball aber normal

Aber genug der grauen Theorie. Rein ins Fußballparadies EM 2024. Fans und Medien, Sachkundige wie Laien, Public-Viewing-Ultras wie Couch-Bundestrainer sind sich einig: Deutschland hat ein neues Sommermärchen. Gesellschaftlich etwas anders gelagert als 2006 zwar, aber immerhin flächendeckend. Gut, damals, beim Original-Sommermärchen, gab es mit David Odonkor und Gerald Asamoah auch nur zwei Spieler, die im heute inzwischen von rechtspopulistischen Intelligenzdilemma-Start-ups wie "Nius" durchsetzten Medienzirkus und in Social-Media-Kommentarspalten als "nicht deutsch genug" gebrandmarkt werden würden. Spieler wie Christoph Metzelder (Diskrepanz zwischen Fußballtalent und Charakter) oder Jens Lehmann (Kettensägen-Massaker gegen Bäume auf Nachbargrundstücken) galten damals noch als unauffällig.

Heute, 18 Jahre nachdem das von Jürgen Klinsmann per Schreitaktik durchmotivierte Legendenteam von seinem Husarenritt erst im Halbfinale entsattelt wurde, sieht die emotionale Euphorielage im Land anders aus. Analog dazu, dass sich Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in den letzten Jahren, assistiert von feindemokratischen Wohlfühlparteien wie der AfD und antisemitischen Linksbubbles, eine Art Hoffähigkeit erschlichen haben, existiert mittlerweile eine sich selbst als Ritter des Stolzmonats definierende, lauwarm intelligente Pseudo-Patriotentruppe, die sich seit Monaten gegenseitig lautstark versichert, sie würde dieser deutschen Nationalmannschaft vieles wünschen, aber sicher kein Glück und schon erst recht keine Siege. Und weil gute Argumente, Fakten und Moral im Abseitsbereich der Gesellschaft nicht besonders bereitwillig verfolgte Details sind, lautet die Begründung in ihrer beinahe rührenden Schlichtheit: Die Spieler sind uns nicht weiß genug.

Nun ja, Jonathan Tah, Benjamin Henrichs, İlkay Gündoğan, Emre Can, Leroy Sané, Jamal Musiala und vor allem Antonio Rüdiger sind zwar allesamt in Deutschland geboren und aufgewachsen, während die Helden des Sommermärchens wahlweise in Polen (Lukas Podolski und Miroslav Klose) oder der Schweiz (Oliver Neuville) das Licht der Welt erblickten, aber sie sehen den Intelligenzverweigerern der rechtspopulistischen Auffangbecken für Vollzeit-Versager eben nicht arisch genug aus.

Dass jetzt auf den großen Fanfesten von Flensburg bis München auch noch das pinke Ausweichtrikot das Gesamtbild prägt und sich viele der selbsternannten Patrioten dementsprechend beängstigt fragen, ob man von Regenbögen schwul werden könnte, sorgt da nur unzureichend für Abhilfe. Im Grunde ist jedes Tor, jeder Sieg des DFB-Teams ein Schlag in die Fresse (bitte entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise) der Stolzdeppen. Die Tore zum weitgehend ungefährdeten Einzug ins Viertelfinale erzielten mit Can, Musiala (drei Buden!) und Gündogan teilweise dann auch noch ausgerechnet die Protagonisten, die man im AfD-Kosmos und seiner Begleitjournaille eigentlich lieber für Nigeria oder die Türkei im Einsatz sehen würde. Man hat es wirklich nicht leicht als Hobbyrassist dieser Tage.

Rassismus und Wasserfälle

Womit wir beim Achtelfinal-Sieg gegen Dänemark wären. Glücklicherweise trugen die Dänen wenigstens rote Trikots, so konnte ein erneuter Auftritt in Pink und damit tonnenweise Kommentarmüll aus der Expertenrunde vermieden werden, die sich das Nationalteam lieber in braunen Trikots wünschen würde. Mit etwas VAR-Glück brachte uns ausgerechnet "Asylkritiker"-Liebling Jamal Musiala mit dem entscheidenden 2:0 in die nächste K.o.-Runde. Schon wieder kein Feiertag für Arschgeigen.

Zum Glück gab es rund um den Auftritt der Multikultitruppe ausreichend nachrichtenrelevanten Beifang, mit dem man sich ablenken konnte, wenn man sich von einem in Stuttgart geborenen Deutschen mit Vornamen Jamal in seinem fehlgeleiteten Patriotismus bedroht fühlt. Das Dortmunder Westfalenstadion hielt dem orkanartigen Regen nebst Starkgewitter nur bedingt stand. Sofort konnte man sich in der einschlägigen "Die Grünen sind schuld"-Truppe meinungsoriginell darüber auslassen, dass sich wegen der paar Blitze und der Winzigkeit an Regentropfen bestimmt Luisa Neubauer, Robert Habeck oder (noch schlimmer) Annalena Baerbock zu Wort melden würden, um vor den Auswirkungen des Klimawandels zu warnen. Hass lenkt ab, Hass eint. Ein spezielles Sommermärchen eben.

Das Dach des Stadions in Dortmund, von dem sich pünktlich zur 30. Minute des Achtelfinalspiels Wassermassen auf die Tribünen ergossen, ist etwa 60 Meter hoch. Damit zählt es seit Samstagabend offiziell zu den 10 größten Wasserfällen in Deutschland. Einige Dänen tanzten im Wasserschwall, der Schiedsrichter unterbrach das Spiel für eine knappe halbe Stunde und ein durchgeknallter Vollidiot erklomm das Dach, nur um dann fachgerecht von einem Sonderkommando gestellt zu werden. Dortmund hat einen Dachschaden, haha, aber Deutschland ist weiter. Insofern ein zwar ungewöhnlicher, aber lediglich für Rechtsausleger (und Dänen) unerfreulicher Abend.

Ob die Erfolgsgeschichte ausgerechnet gegen den nun am Freitagabend wartenden Viertelfinalgegner Spanien weitergeschrieben werden kann, da gehen die Prognosen auseinander. Viele Experten halten Spanien für das aktuell kompakteste Team des Turniers. Andere sagen, die Dynamik und der Wille der AfD-feindlichen Nationalelf könne auch die Ballzauberer aus dem Land des Sangriaeimers in die Schranken weisen. Wenn dabei jetzt noch Niclas Füllkrug, Toni Kroos, Thomas Müller und Nico Schlotterbeck die Tore erzielen würden, wäre eventuell sogar der handelsübliche Hautfarbenfetischist zufriedengestellt. Ob man das möchte, sei mal dahingestellt. Aber ein Halbfinale im eigenen Land, das würde man dann doch gerne mitnehmen. Sorry, Spanien.

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