- Kabul ist gefallen, die radikal-islamischen Taliban kontrollieren weite Teile Afghanistans.
- Immer mehr Menschen sind auf der Flucht.
- In der Union steigt die Befürchtung, es könnten sich viele von ihnen auf den Weg nach Deutschland machen.
- Update vom 17. August: Ein Migrationsforscher erwartet keine Flüchtlingszahlen wie 2015 oder 2016.
Die Taliban haben Afghanistan im Sturm erobert. Auch die Hauptstadt Kabul steht seit Sonntag unter der Kontrolle der Islamisten. Tausende Menschen sind auf der Flucht. Viele haben Angst, von den Taliban getötet zu werden.
Fernsehbilder zeigten Staus von Menschen bei der Ausreise aus Kabul. Personen kletterten über Drehleitern, um in ein Flugzeug zu kommen. Auch Afghanen, die nicht einmal Reisepässe hätten, würden ihr Glück versuchen, sagten Augenzeugen.
Der afghanische Journalist Jawad Skuhanyar teilte ein Video auf Twitter, auf dem Hunderte Menschen zum Flughafen rennen. "Ein neuer Tag beginnt in Kabul. Ein Meer von Menschen eilt zum Flughafen-Terminal", schrieb er dazu.
Kabul: Chaos und Schüsse am Flughafen
Wenige Stunden später kam es zu einem Tumult am Flughafen. Augenzeugen bestätigten der Nachrichtenagentur Reuters, dass mindestens fünf Menschen dabei ums Leben kamen. Ein Zeuge sagte, es sei unklar, ob sie in der Massenpanik gestorben oder ob sie erschossen worden seien.
Hunderte Menschen wollten einen Platz in einer Maschine erzwingen, um aus Afghanistan zu fliehen. Journalist Khalid Hussein teilte ein Video, auf dem Schüsse zu hören sind. Davor hatte es Berichte gegeben, US-Soldaten, die den Flughafen absichern, hätten Warnschüsse abgegeben.
Am Montag verbreiteten sich in Kabul zudem Gerüchte, dass jeder, der es zum Flughafen schaffe, evakuiert werde, sagte ein Bewohner der Stadt. Es gibt jedoch keinerlei Hinweise, dass diese Gerüchte zutreffen. Die deutsche Botschaft warnte auf Twitter davor, ohne Aufforderung zum Flughafen zu fahren.
Unionspolitiker befürchten Flüchtlingsbewegung nach Deutschland
Unionspolitiker hatten schon vor dem Wochenende Befürchtungen geäußert, der Vormarsch der Taliban könnte neue Fluchtbewegungen nach Deutschland auslösen. Bundesinnenminister
CDU-Außenpolitiker
Und auch Unions-Fraktionsvize
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Auch die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Annette Widmann-Mauz (CDU) sprach sich für eine Versorgung afghanischer Geflüchteter in der Region aus. "Jetzt muss es darum gehen, die Botschaftsangehörigen und die Ortskräfte mit ihren Kernfamilien schnell in Sicherheit zu bringen - dabei dürfen die Frauen und Mädchen nicht vergessen werden", sagte sie. "Die Staatengemeinschaft muss jetzt alles dafür tun, die Nachbarländer in die Lage zu versetzen, Schutzbedürftige aufzunehmen und eine humanitäre Versorgung aufzubauen."
Der Großteil der Geflüchteten bleibt im Land - oder flieht in Nachbarländer
Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR warnte bereits Mitte Juli vor einer drohenden humanitären Krise in Afghanistan. Es fehle massiv an humanitären Ressourcen. Nur 43 Prozent der 337 Millionen Dollar (285 Millionen Euro), die man in Afghanistan sowie für die Versorgung afghanischer Flüchtlinge in Pakistan und im Iran benötige, stünden zur Verfügung.
Nach Angaben der UNO sind in Afghanistan aktuell mehr als drei Millionen Menschen innerhalb ihres eigenen Landes vertrieben. Allein seit Mai kamen rund 390.000 Binnenvertriebene hinzu.
Weitere rund 2,6 Millionen Afghaninnen und Afghanen lebten Ende 2020 in anderen Ländern als Flüchtlinge - der Großteil davon in den Nachbarländern Iran und Pakistan. Diese beiden Länder haben laut UNHCR fast 90 Prozent der geflüchteten Afghanen aufgenommen.
Kritisch äußerte sich Merkel zur Entscheidung der USA zum Truppenabzug aus Afghanistan. Diese habe einen "Domino-Effekt" ausgelöst, der nun zur Machtübernahme der radikalislamischen Taliban geführt habe.
Migrationsforscher erwartet keine Flüchtlingszahlen wie 2015 und 2016
Steffen Angenendt von der Stiftung Wissenschaft und Politik hält Warnungen vor Flüchtlingszahlen in Deutschland in einer Größenordnung wie 2015 und 2016 für überzogen. Es sei unlauter, wenn Politiker mit Warnungen vor einer Wiederholung des Jahres 2015 Ängste schürten, sagte der Migrationsforscher der dpa.
"Ich gehe davon aus, dass die Zahl afghanischer Flüchtlinge in der EU in den kommenden Monaten weiter wachsen wird, dass wir aber bei weitem nicht die Zahlen von 2015 und 2016 erreichen werden." In den beiden Jahren kamen mehr als 1,1 Millionen Asylsuchende nach Deutschland, viele von ihnen aus Syrien.
Angenendt geht allerdings davon aus, dass nicht nur die Zahl der Geflüchteten innerhalb Afghanistans zunehmen wird. Steigen werde auch die Zahl jener, die versuchten, ins Ausland zu gelangen.
"Es wird zunächst neue Fluchtbewegungen nach Iran und Pakistan geben, in Länder, die schon seit langem viele afghanische Flüchtlinge aufgenommen haben, die zunehmend überlastet sind und in denen die Lebensbedingungen für die Flüchtlinge immer schlechter werden", erklärte der Forscher. Ob die Menschen dort bleiben könnten, hänge auch der der Unterstützung Deutschlands für diese Aufnahmeländer ab.
«Dass aber diese Menschen demnächst in sehr großer Zahl nach Europa weiterwandern, halte ich derzeit für wenig wahrscheinlich», sagte Angenendt. "Dagegen sprechen schon die große Entfernung und die damit verbundenen hohen Kosten."
Der Vergleich sei auch deshalb krumm, weil 2015 und 2016 die meisten Flüchtlinge aus Syrien kamen. "Sie hatten also deutlich kürzere Wege nach Europa als die Afghanen." Zudem hätten die meisten Transitländer zwischen Afghanistan und Deutschland in den vergangenen Jahren die Grenzüberwachung massiv verschärft. "Das macht die Flucht noch riskanter und teurer."
Bisher keine steigende Zahl an Asylanträgen in Deutschland
Einige Afghanen ziehen vom Iran aus weiter in die Türkei. Berichten zufolge kommen täglich zwischen 500 und 2.000 Menschen an - trotz eines eigens gebauten Grenzzauns. Es ist nicht auszuschließen, dass einige von ihnen den Weg in die EU suchen werden.
Zwar verschlechterte sich die Sicherheitslage in Afghanistan in den vergangenen Monaten kontinuierlich, noch ist aber von einer steigenden Zahl an Asylanträgen in Deutschland wenig zu spüren. Laut dem Bundesamt für Migration (Bamf) waren Afghanen im ersten Halbjahr 2021 mit 7.587 Erstanträgen nach Syrern (26.454 Anträge) die zweitgrößte Gruppe von Schutzsuchenden. Darunter fallen allerdings auch Anträge von Kindern, die in Deutschland geboren wurden.
Zum Vergleich: Im Jahr 2015 hatten Afghaninnen und Afghanen laut Migrationsbericht des Bamf 31.382 Erstanträge auf Asyl gestellt, im Jahr 2016 waren es 127.012 Erstanträge. Von solchen Zahlen ist man aktuell also weit entfernt.
Kritiker wie der Al-Jazeera-Journalist Andrew Connelly bemängeln zudem, wer eine neue Flüchtlingskrise für Europa vorhersage, lasse außer Acht, dass beileibe nicht jeder Geflüchtete nach Europa wolle. Zudem koste es viel Geld, außer Landes zu flüchten - Geld, dass viele Afghaninnen und Afghanen nicht aufbringen können, vor allem nicht so schnell.
Mützenich: NATO soll über Aufnahme afghanischer Flüchtlinge beraten
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich sprach sich indes dafür aus, dass sich die NATO mit der Aufnahme von Flüchtlingen aus Afghanistan befasst. "Das ist ja nicht allein eine militärische Organisation, sondern eine politische", sagte er im Deutschlandfunk. "Und vielleicht ist die Durchsetzungskraft hier viel höher international stärker zusammenzuarbeiten, damit genügend Flüchtlinge in ganz vielen Ländern auch aufgenommen werden."
Unterdessen dringen 25 EU-Länder sowie mehr als 40 weitere Staaten auf weiterhin offene Grenzen und Ausreisemöglichkeiten in Afghanistan. "Afghanen und internationale Bürger, die das Land verlassen wollen, müssen dies tun dürfen; Straßen, Flughäfen und Grenzübergänge müssen offen bleiben", heißt es in einem am Montagmorgen vom EU-Außenvertreter Josep Borrell veröffentlichten Statement, das den Angaben zufolge auch mit Deutschland und Österreich abgestimmt ist.
Zudem heißt es, dass diejenigen, die in Afghanistan Macht- und Autoritätspositionen innehätten, die Verantwortung für den Schutz von Menschenleben trügen und rechenschaftspflichtig seien. Außerdem müssten sie Sicherheit und eine zivile Ordnung sofort wiederherstellen.
Dieser Text wurde erstmals am 16. August um 14:30 Uhr veröffentlicht und seither mehrfach aktualisiert.
Verwendete Quellen:
- dpa
- afp
- Reuters
- UNO-Flüchtlingshilfe UNHCR: Vertriebene Frauen und Kinder von Konflikt in Afghanistan besonders schlimm betroffen
- UNO-Flüchtlingshilfe UNHCR: UNHCR warnt vor drohender humanitärer Krise in Afghanistan
- Bundesamt für Migration: Flyer Schlüsselzahlen Asyl 1. Halbjahr 2021
- Bundesamt für Migration: Migrationsbericht 2015
- Bundesamt für Migration: Migrationsbericht 2016/2017
- EEAS: Afghanistan: Joint statement of the international community on the latest developments
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