Es kommen wieder mehr Geflüchtete in die EU. Wie soll die Politik darauf reagieren? Vor der Wahl zum Europäischen Parlament im Juni stellt sich diese Frage mehr denn je. Die deutschen Parteien haben sich dazu in ihren EU-Programmen positioniert.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Joshua Schultheis sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Kaum ein anderes Thema ist für die Zukunft der Europäischen Union so wichtig: An der Asylpolitik zeigt sich, ob der Staatenverbund handlungsfähig ist – und ob er seinen Werten der Humanität und Solidarität gerecht wird. Eine menschenwürdige Behandlung von Geflüchteten auf der einen Seite steht dem Wunsch nach einer geordneten Zuwanderung auf der anderen Seite gegenüber. Die Glaubwürdigkeit der Union hängt davon ab, ob dieser Spagat gelingt.

Mehr aktuelle News

Auch für einen großen Teil der EU-Bürger steht das Thema kurz vor den Wahlen zum Europäischen Parlament ganz oben auf der Prioritätenliste: 28 Prozent von ihnen betrachten laut einer Umfrage der Europäischen Kommission Immigration als wichtigstes Problem der EU. Nur der Krieg in der Ukraine wird genauso häufig genannt.

Migrationsexpertin: "Das Thema wird politisch instrumentalisiert"

Die Migrationsforscherin Petra Bendel sieht zwei Gründe dafür. "Wir haben zum einen nach wie vor viele Asylsuchende sowie Geflüchtete aus der Ukraine in der EU", sagt die Professorin der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen. Das belaste die Aufnahmeländer und Kommunen. "Zum anderen wird das Thema politisch stark instrumentalisiert."

Bendel spricht von einem EU-weiten "Wettbewerb nach unten": Die Mitgliedsstaaten hätten sich in den vergangenen Jahren mit einer immer restriktiveren Asylpolitik gegenseitig unterboten. Das eigene Land sollte möglichst unattraktiv für Geflüchtete werden.

Migrationsexpertin und Politikprofessorin Petra Bendel © Nico Tavalai

Die derzeitige Situation birgt nach wie vor Sprengstoff für den Staatenverbund. Nach einem Tiefstand während der Corona-Jahre erlebt die EU wieder einen starken Anstieg der Asylantragszahlen. 2023 waren es über 1,1 Millionen, davon 350.000 allein in Deutschland. Hinzu kommen mehr als zwei Millionen Geflüchtete aus der Ukraine, die kein Asyl beantragen müssen. Eine vergleichbare Situation gab es zuletzt 2015.

Damals kamen Hunderttausende Kriegsflüchtlinge vor allem aus Syrien und Afghanistan nach Europa. Gemäß der sogenannten Dublin-Verordnung war bisher das EU-Land für einen Asylbewerber zuständig, in dem dieser zuerst europäischen Boden betritt – de facto also meistens südliche Staaten wie Italien, Griechenland oder Ungarn. Diese hielten sich jedoch mit zunehmenden Migrationsdruck immer weniger an diese Regel. Im "Sommer der Migration" 2015 offenbarte sich das Scheitern der europäischen Asylpolitik.

EU einigt sich auf gemeinsame Asylreform

Doch eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) ließ lange auf sich warten – zu unterschiedlich waren die Interessen der Mitgliedsstaaten. Im Dezember 2023 kam dann schließlich doch noch der Durchbruch bei den Verhandlungen. Die neuen Regeln sehen unter anderem Asylverfahren in "Transitzonen" an den EU-Außengrenzen sowie einen neuen Solidaritätsmechanismus vor. Mitgliedsstaaten müssen entweder Geflüchtete aufnehmen oder einen alternativen Beitrag, etwa in Form von Geldzahlungen, leisten.

Migrationsexpertin Bendel sieht darin eine deutliche Verschärfung der europäischen Asylpolitik. "Dieses Reform-Paket hat eine Schieflage auf Kosten der Rechte von Schutzsuchenden", sagt sie. Ob an den Außengrenzen Asylverfahren nach menschenrechtlichen Maßstäben möglich sind, sei fraglich.

Die Mitgliedsstaaten wollten mit dem Kompromiss vor den Wahlen zum Europäischen Parlament ein Zeichen setzen, konstatiert die Wissenschaftlerin: "Es ging darum zu zeigen, dass man handlungsfähig ist und das Thema nicht den Rechtsextremen überlässt."

So positionieren sich die deutschen Parteien

Die GEAS-Reform bildet nun den Hintergrund, vor dem auch in Deutschland der EU-Wahlkampf geführt wird. Die Positionen der wichtigsten Parteien zum Thema Asyl lassen sich grob in zwei Lager aufteilen: Die einen betonen ihre Sorge vor einer Verschlechterung der humanitären Lage von Geflüchteten und lehnen Verschärfungen des Asylrechts ab. Den anderen geht die GEAS-Reform nicht weit genug. Sie wollen eine noch restriktivere Flüchtlingspolitik.

Zu den Bedenkenträgern zählen insbesondere Linkspartei und Grüne. Die SPD ist irgendwo zwischen beiden Lagern einzuordnen. Hier ist eine Zusammenfassung ihrer jeweiligen EU-Programme:

  • Die Linke wirft der EU vor, täglich gegen die Genfer Flüchtlingskonvention zu verstoßen. Dem stellt die Partei in ihrem EU-Programm eine "solidarische und humane Migrations- und Asylpolitik" entgegen. Die GEAS-Reform lehnt die Linkspartei ab. Frontex, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, müsse in eine europäische Rettungsmission umgewandelt werden.
  • Die Grünen legen in ihrem EU-Programm einen Fokus auf die Bekämpfung von Fluchtursachen. Dafür müsse die humanitäre Hilfe in den Herkunftsländern der Geflüchteten ausgebaut werden. Auf die GEAS-Reform blicken die Grünen mit Skepsis, weil dadurch ein Abbau der Rechte von Geflüchteten drohen könne. Die derzeitige Behandlung von Geflüchteten in der EU stehe häufig im Widerspruch zu europäischen Werten. Die Grünen unterstützen die private Seenotrettung und setzen sich für sicherere Fluchtwege ein.
  • Die SPD will eine humane Flüchtlingspolitik und besteht auf dem individuellen Recht auf Asyl. Gleichzeitig brauche es Ordnung und Steuerung von Migration, schreiben die Sozialdemokraten in ihrem Programm für die Europawahl. Die GEAS-Reform wird grundsätzlich positiv bewertet. Die SPD will sichere und legale Fluchtwege schaffen. So sollen mehr Geflüchtete aus den Aufnahmelagern der UN nach Europa kommen können. Die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten lehnt die SPD ab.

CDU/CSU, FDP, das "Bündnis Sahra Wagenknecht" und die AfD tendieren jeweils unterschiedlich stark in die andere Richtung. Das sagen die Parteien in ihren Programmen zum Thema Asyl:

  • FDP: Die Liberalen wollen die EU-Außengrenzen besser überwachen. Dafür soll Frontex auf 10.000 Einsatzkräfte ausgebaut werden. Die FDP befürwortet die GEAS-Reform und fordert darüber hinaus Asylverfahren in Drittstaaten. Fluchtursachen sollen durch Entwicklungszusammenarbeit abgemildert werden.
  • Das "Bündnis Sahra Wagenknecht" fordert eine restriktivere Flüchtlingspolitik. Dazu sollen Asylverfahren an den EU-Außengrenzen und in Drittstaaten sowie die Repression von Schlepperbanden gehören. Ergänzend sollen Fluchtursachen in den Herkunftsländern bekämpft werden. Die EU soll helfen, Kriege diplomatisch zu lösen.
  • CDU/CSU: Irreguläre Migration müsse gestoppt werden, fordern die Unionsparteien in ihrem Europaprogramm. Die GEAS-Reform betrachtet man als Schritt in die richtige Richtung. Aber CDU/CSU wollen noch weiter gehen: Geflüchtete sollen künftig in sichere Drittstaaten gebracht werden, damit sie dort ein Asylverfahren durchlaufen. Im Gegenzug soll "eine Koalition der Willigen innerhalb der EU" ein gewisses Kontingent an Geflüchteten aufnehmen. Frontex soll mit 30.000 Grenzschützern deutlich besser ausgestattet werden.
  • AfD: Für die Alternative für Deutschland (AfD) ist die Asylpolitik eine "Schicksalsfrage" der EU. Die Partei sieht einen Kontrollverlust bei der Migration und glaubt, dass die Identität Europas durch die Zuwanderung bedroht ist. Die AfD ist gegen eine gemeinsame europäische Asylpolitik und will die Kompetenz über solche Fragen an die Nationalstaaten zurückgeben. "Illegale Migranten" müssten an den Grenzen abgewiesen und Verfahren von Asylbewerbern in Drittstaaten durchgeführt werden. Um auch die deutschen Grenzen strenger überwachen zu können, will die AfD das Schengen-Abkommen, das innerhalb der EU Reisefreiheit ermöglicht, reformieren.

Vor allem der AfD und den Unionsparteien schwebt eine echte Zäsur im europäischen Asylsystems vor: Sie wollen eine Flüchtlingspolitik nach dem "Ruanda-Modell", wie es derzeit in Großbritannien eingeführt werden soll. Demnach sollen Geflüchtete in ein Nicht-EU-Land gebracht werden, wo ihnen im Falle eines erfolgreichen Asylverfahrens auch Schutz gewährt werden soll.

Migrationsforscherin ist für "Entdramatisierung" der Debatte

Zu den Befürwortern dieser Idee zählt auch der Migrationsforscher Gerald Knaus. "Ich halte Asylverfahren in Drittstaaten für den wichtigsten Baustein eines Paradigmenwechsels in der Asylpolitik", sagte Knaus im Februar der "Süddeutschen Zeitung". Geflüchtete würden so davon abgehalten, sich auf eine gefährliche nach Europa einzulassen. Zudem hält Knaus das "Ruanda-Modell" unter bestimmten Bedingungen für rechtlich vertretbar.

Das sieht seine Fachkollegin Petra Bendel anders. "Wer das Völkerrecht und das EU-Recht ernstnimmt, muss einen anderen Ansatz wählen", sagt sie. Das "Ruanda-Modell" untergrabe das individuelle Recht auf Asyl. In Drittstaaten ließe sich für die EU zudem kaum überprüfen, ob Menschenrechte eingehalten werden. Stattdessen müssten Aufnahmestaaten besser unterstützt und die Geltung der Grundrechte in den EU-Mitgliedstaaten besser überwacht werden.

Die Migrationsforscherin wünscht sich eine "Entdramatisierung" und Versachlichung der Debatte um die deutsche und europäische Asylpolitik. "Doch angesichts der bevorstehenden Wahlen ist das in absehbarer Zeit eher unwahrscheinlich", sagt Bendel.

Über unsere Gesprächspartnerin

  • Petra Bendel ist Professorin für Politische Wissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität (FAU) in Erlangen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Themen Migration, Demokratie und Menschenrechte. An der FAU leitet sie den Forschungsbereich Migration, Flucht und Integration. Bendel war unter anderem Vorsitzende des unabhängigen Sachverständigenrats für Integration und Migration sowie des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesamtes für Migration und Integration.

Verwendete Quellen

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.