Serie "Hameln": Constantin Keller ist taub. Und will ein großer Schauspieler werden. Jetzt jagt er aber erstmal dem Rattenfänger von Hameln hinterher, in einer Horrorserie für das Fernsehen.
Probebühne I der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, im Industriegebiet im Frankfurter Gallus, ein paar Tage vor Weihnachten. Constantin Keller spielt Olaf, den zum Leben erweckten Schneemann aus "Die Eiskönigin". Karotte im Mund, oberkörperfrei, in schwarzen Leggings. Zum kitschigen Soundtrack des Disney-Films rasten die Schauspieler ordentlich aus. Drehen sich rasend schnell im Kreis, hüpfen in die Luft, strecken die Körper. Und das Publikum johlt.
Es ist Tradition, dass sich der jeweils jüngste Jahrgang des Studiengangs Schauspiel der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst bei der Weihnachtsfeier der Akademie zum ersten Mal mit einiger eigenen Inszenierung vorstellt.
In diesem Jahr haben die Neuen sich für eine Reihe von Szenen aus Wintermärchen oder -filmen entschlossen. "Der kleine Lord", "Tatsächlich Liebe", "Aschenbrödel": All das kommt reichlich slapstickhaft und schrill auf die Bühne. Mehr als fünf Minuten dauert keine Szene.
Schauspieltraum seit er klein war
Seit Oktober studiert Constantin Keller an der Hochschule. Dass er dort aufgenommen wurde, ist eine Besonderheit. Denn Keller ist taub. Der Zweiundzwanzigjährige ist der bislang erste Gehörlose, der die Aufnahme in den Schauspiel-Studiengang der Hochschule geschafft hat. Beinahe 400 Bewerber hatten um die acht Plätze, die pro Jahr vergeben werden, konkurriert.
Über drei Runden zog sich das Aufnahmeverfahren: Bewerbung per Video, erstes Vorsprechen, dann drei Tage Prüfung am Stück. "Das war hart", sagt Keller. Und dass er "überglücklich" sei, dass man ihn auf der Hochschule angenommen habe. Denn von der Schauspielerei hat Keller schon als Kind geträumt. Trotz seiner Behinderung.
Bald kann man ihn auch im Fernsehen sehen, in der für ZDFneo gedrehten Serie "Hameln". Der Regisseur und Drehbuchautor Rainer Matsutani hat den Stoff des Märchens über den Rattenfänger in die Gegenwart verlegt und daraus einen Horror-Mystery-Thriller gemacht. Am 30. Dezember wird die reichlich bluttriefende Mini-Serie ausgestrahlt und in der ZDF-Mediathek gestreamt.
Kann von den Lippen seines Gegenübers lesen
Drei Kinder entkamen der Sage nach dem mittelalterlichen Kinderfänger: ein Blinder, ein Lahmer und ein Tauber. In der "Hameln"-Serie sind sie es, die nun seine Rückkehr verhindern müssen. Constantin Keller spielt in der Serie den gehörlosen Jannik – neben bekannten Darstellern wie Veronica Ferres und
In den Wochen vor dem Drehbeginn im Herbst 2023 sei er "wahnsinnig aufgeregt" gewesen, berichtet Keller. Aber als der Dreh dann begann, war er auf einmal ruhig. "Ganz fokussiert." Zum Interviewtermin ist er gemeinsam mit einem Gebärdensprachendolmetscher gekommen. Der Dolmetscher übersetzt die Fragen in Gebärden, Keller antwortet sprechend. Dass er etwas abgehackt spricht, dass es ungewohnt klingt, wie er manche Wörter betont, ist dabei nur in den ersten Momenten irritierend.
Schon im Kindesalter hat Keller eine Logopädin besucht, die ihm, dem Gehörlosen, die Lautsprache beibrachte. Und er ist auch nicht komplett taub. Keller trägt ein Hörgerät, kann von den Lippen seines Gegenübers lesen. Wenn man deutlich und laut mit ihm spreche, könne er das meiste recht ordentlich verstehen, sagt er. Für eine wirklich gute Kommunikation aber brauche es den Dolmetscher.
Liebhaber von Slapstick-Komödien der Stummfilm-Ära
So war es auch auf dem Filmset von "Hameln". Dort war an jedem Drehtag ein Dolmetscher dabei, der für Keller "übersetzte". Besonders wichtig sei das gewesen, um genau zu verstehen, was der Regisseur von ihm erwartet habe, um auf die Details achten zu können.
Bei den Dreharbeiten habe ihm aber auch der Kontakt zu den anderen Schauspielern sehr geholfen, sagt Keller. Dass Riccardo Campione, der in "Hameln" den im Rollstuhl sitzenden Ruben spielt, sogar einige Gebärden gelernt habe, um mit ihm zu kommunizieren, habe ihn besonders gefreut. "Wir hatten eine sehr schöne Zeit."
Vom Kino war Keller schon als Kind fasziniert. Doch sein Geschmack unterschied sich von dem der nichttauben Kinder. Er liebte die Slapstick-Komödien der Stummfilm-Ära. Stan Laurel und Oliver Hardy als "Dick und Doof" brachten ihn zum Lachen, von Charlie Chaplin war er gefesselt.
Seine Mutter, selbst gehörlos, hatte die Filme für ihn ausgesucht. Erst später, als Untertitel immer üblicher wurden, entdeckte Keller auch andere Seiten der Kinowelt. Vor allem Peter Jacksons "Herr der Ringe"-Filme waren es nun, die ihn in den Bann zogen.
Gefangen in der Welt der Gehörlosen
Als Keller acht Jahre alt war, wurde ein Dokumentarfilm über ihn gedreht. Seine Stiefmutter arbeitete damals beim Hessischen Rundfunk. Sie hatte von einem Regisseur gehört, der für eine Dokumentation auf der Suche nach einem tauben Kind war. Als sie Keller fragte, ob er sich den Dreh vorstellen könne, zögerte der Junge nicht.
Zehn Jahre später drehte der Regisseur einen weiteren Film mit dem gerade erwachsen gewordenen Schauspieler. In der Dokumentation sieht man, wie Keller sich schon als kleiner Junge mutig durchkämpfte, wie er etwa bei einem Fußballcamp mitmachte, obwohl das Spiel ihn als Gehörlosen überforderte.
"Das war schon immer so, dass ich aus meinem Leben etwas machen wollte, dass ich es selbst in die Hand nehmen wollte", sagt Keller. "Ich kenne meine Grenzen, aber diese Grenzen waren mir immer zu eng." Oft sei er gefangen gewesen in seiner Welt, der Welt der Gehörlosen. "Aber das hat mir nie gereicht."
"Dort merkte ich, wer ich bin, was ich werden möchte"
Als Kind, sagt Keller, sei er enorm wissbegierig gewesen. Wenn er mit seiner Mutter Bücher gelesen oder mit ihr die Dinosaurier-Sammlung im Frankfurter Senckenberg-Museum besucht habe, dann habe er immer mehr erfahren, habe weiter in die Tiefe vordringen wollen. Warum, warum, warum? So löcherte er seine Mutter.
Später, in der Realschule, war es für ihn oft schwer. Von seinen Mitschülern wurde Keller gemobbt. "Die Zeit war hart für mich, die anderen Schülern haben schlecht über mich geredet, haben über mich gelästert."
Besser wurde es mit dem Wechsel auf ein Internat für Gehörlose in Essen. In der HR-Dokumentation kann man sehen, wie Keller zu der neuen Schule aufbricht, man spürt seine Unsicherheit, von der ihn schützenden Familie, die in Neu-Isenburg lebt, wegziehen zu müssen.
Doch der Wechsel lohnte sich. "Auf der Schule war ich wieder in meiner Welt, aber ich konnte mich entfalten", sagt Keller. "Dort habe ich mich viel besser kennengelernt, dort merkte ich, wer ich bin, was ich werden möchte."
Situation für Gehörlose habe sich verbessert
Auch seinem Wunsch, als Schauspieler zu arbeiten, ist Keller durch die Dokumentarfilme, in denen er darüber offen sprach, näher gekommen. Man kannte ihn nun, man wusste, dass er sich für die Schauspielerei begeistert. 2012 hatte er einen kurzen Auftritt in dem Fernsehfilm "Sechzehneichen", spielte neben Heike Makatsch und Mark Waschke. Auch für einen Werbefilm wurde er gebucht.
2022 war er dann in "Du sollst hören" zu sehen. Der Spielfilm erzählt von einem tauben Mädchen, dem ein Implantat helfen könnte, zu hören. Doch ihre gehörlosen Eltern wollen die Operation verhindern. Durch diesen Film wurde auch Rainer Matsutani, der Regisseur von "Hameln", auf Keller aufmerksam.
Die Situation für Gehörlose habe sich in den vergangenen Jahren verbessert, sagt Keller. 2002 wurde die Deutsche Gebärdensprache anerkannt, schon das war ein wichtiger Schritt. Auf die Probleme der Gehörlosen werde seitdem immer mehr Rücksicht genommen – trotzdem könnte noch immer vieles besser werden. Er selbst sieht sich aber nicht als Aktivist oder als Vorkämpfer für Behindertenrechte. Das könnten andere besser, meint Keller.
Konzentration auf das Schauspielstudium
Manchmal gehe die Entwicklung aber auch in die falsche Richtung. Keller berichtet von den Kürzungen im Berliner Kulturetat, die auch vielen renommierten Theatern nun die Arbeit schwer machten. Am härtesten betroffen von den Sparplänen seien aber Inklusions-Projekte. Viele behinderte Schauspieler machten sich deshalb nun Sorgen um ihre Zukunft, wichtige "Leuchtturmprojekte" stünden vor dem Aus. "Das ist nicht in Ordnung, da wird an der falschen Stelle gekürzt."
Keller selbst geht regelmäßig ins Theater – auch wenn er von den Dialogen auf der Bühne kein Wort versteht. "Ich sehe mir dann an, wie andere Schauspieler mit dem Körper arbeiten, wie sie sich ausdrücken, welche Körpertechniken sie anwenden", sagt er.
Nach dem Abitur am Gehörlosen-Internat ist Keller wieder zu seiner Mutter nach Neu-Isenburg gezogen. Er wohnt nun in einem Anbau auf ihrem Grundstück. Viel lieber wäre es ihm aber, wenn er eine Wohnung in Frankfurt, näher an der Hochschule, finden würde.
Sich auf sein Studium zu konzentrieren, das ist für Keller nun das Wichtigste. An sich arbeiten, an seinem Ausdruck, der Sprechtechnik. Neues ausprobieren, gemeinsam mit seinen Kommilitonen im Schauspiel-Studiengang. Was will er in den nächsten Jahren erreichen? "Wenn ich es schaffen würde, an einem der großen Theater zu landen, das wäre absolut crazy." © Frankfurter Allgemeine Zeitung
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