Kostenlose Behandlung: Die Mehrheit der Obdachlosen leidet an psychischen Erkrankungen. In Frankfurt finden sie nun Hilfe in einer Praxis – unentgeltlich und auf Augenhöhe. Es ist das erste Angebot dieser Art in Deutschland.

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Eva Fucik beugt sich zu einer kleinen Frau, die mit sich selbst zu sprechen scheint. Die Frau steht eng an eine Wand gedrückt neben dem Liebfrauenkloster in der Frankfurter Innenstadt, als wolle sie sich so vor der Winterkälte abschirmen. "Ist alles in Ordnung bei Ihnen?", fragt Fucik höflich. Fucik ist Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie. Doch sie arbeitet nicht etwa in einem Krankenhaus oder einem Ärztezentrum. Fucik ist Ärztin in der nervenärztlichen Praxis für wohnsitzlose Menschen, die im September im Franziskustreff in Frankfurt eröffnet hat – neben dem Liebfrauenkloster.

Fucik engagiert sich schon lange für Obdachlose, hat ehrenamtlich in der Straßenambulanz gearbeitet. "Ich dachte immer, wer braucht schon einen Psychiater in der Straßenmedizin", sagt sie. Doch fast der erste Patient, um den sie sich kümmerte, lebte wegen einer schweren psychischen Erkrankung auf der Straße. Weil er nicht mehr krankenversichert war, gab es für ihn kein Angebot, seine Erkrankung behandeln zu lassen. So sei in ihr die Idee entstanden, sich auch um die seelischen Wunden der Menschen auf der Straße zu kümmern und nicht nur um die körperlichen, sagt Fucik.

Geschätzt rund 50.000 Menschen obdachlos in Deutschland

Laut Zahlen der Bundesregierung und dem Statistischen Bundesamt lebten 2023 rund 372.000 Wohnungslose in Deutschland, davon 22.645 in Hessen. Wie viele Menschen obdachlos sind, also nicht wie Wohnungslose zwar keine eigene Wohnung haben, aber in Notunterkünften oder etwa bei Freunden schlafen, dazu gibt es keine belastbaren Zahlen. Nach Schätzungen leben in Deutschland 50.000 Menschen auf der Straße. Wie viele von ihnen eine psychische Erkrankungen haben, lasse sich nicht einfach erheben, sagt Fucik. Aber man könne davon ausgehen, dass Obdachlose dreimal häufiger an psychischen Erkrankungen leiden als die "Normalbevölkerung".

Studien zufolge hätten mehr als 77 Prozent der Obdachlosen psychische Erkrankungen. Dabei könne nicht nur die Obdachlosigkeit an sich krank machen, sondern viele seien erst wegen einer Krankheit wohnungslos geworden: Mieten wurden deswegen nicht gezahlt, Papiere nicht bearbeitet. Einige kehrten auch nicht mehr in die eigenen vier Wände zurück, weil sie sich dort bedroht oder beobachtet fühlten, sagt Fucik. Weil die Menschen auf diese Weise oft auch ihren Versicherungsschutz verlören, hätten sie keinen Zugang mehr zur regulären medizinischen Versorgung. Die Hürden, dann eine Behandlung zu bekommen, seien hoch. Hinzu kämen Scham und Ängste vor dem medizinischen System, auch wegen schlechter Erfahrungen.

Diese Versorgungslücke will Fucik gemeinsam mit dem Franziskustreff schließen. Ihre Praxis ist nach Angaben des Treffs die erste dieser Art, nicht nur in Frankfurt, sondern in ganz Deutschland. "Ich weiß, dass eine Praxis allein die Versorgungslücke nicht schließen kann", sagt die Ärztin. "Aber sie soll zumindest einmal einen Anstoß geben." Denn in die Praxis im Franziskustreff könne jeder kommen, auch diejenigen, die nicht versichert sind.

"Wir haben hier alle möglichen Berufsgruppen"

Dafür hat Fucik lange gekämpft. Rund ein Jahr habe es gedauert, bis die Kassenärztliche Vereinigung ihr eine Zulassung für die nervenärztliche Praxis gegeben habe, sagt Fucik. Zunächst habe man dort keinen Bedarf gesehen. "Eigentlich ist Frankfurt überversorgt mit Ärzten." Aber eben nur für Menschen mit Krankenversicherung und einem festen Wohnsitz.

Wie soll man aber telefonisch einen Termin ausmachen, wenn man kein Handy hat oder das Guthaben aufgebraucht ist? Wo soll das ganze Gepäck, das ganze Hab und Gut hin, während man beim Arzt ist? Dass es auf diese Fragen keine Antwort gebe, habe Fucik der Kassenärztlichen Vereinigung in einem Widerspruch deutlich gemacht. Und schließlich die Zulassung bekommen.

Das freue sie sehr, sagt sie. "Denn Betroffene können aufgrund ihrer teils prekären Lebenssituation das reguläre medizinische Angebot gar nicht annehmen." Und Wohnungslosigkeit oder gar das Schicksal, obdachlos zu werden, könne jeden treffen. Das sehe sie auch an den Patienten, die nun von der Straße in der Praxis kommen: "Wir haben hier alle möglichen Berufsgruppen: Verkäufer, Ärzte, Juristen, Krankenpfleger." Auch Studenten seien darunter. Das Alter ihrer Patienten reiche von Ende 20 bis Mitte 50.

Scham sei ein großer Faktor für viele der Betroffenen, sagt Fucik. Mit ihrer Praxis wolle sie deshalb Aufmerksamkeit auf das Thema lenken und dabei helfen, Vorurteile abzubauen. "Psychische Erkrankungen sind leider, leider immer noch oft stigmatisiert", sagt die Ärztin. Ihre Patienten seien durch die Wohnungslosigkeit doppelt stigmatisiert. "Deshalb braucht es unbedingt diese intensive Zuwendung und das Bemühen um die Menschen." Sie plädiert für einen Umgang mit Respekt und Geduld.

Vor der Hilfe kommt das Vertrauen

Fucik nimmt sich viel Zeit, geht auf die Patienten ein, lässt ihnen den Raum, den sie zunächst brauchen. Viele müssten erst einmal Vertrauen zu ihr aufbauen. Und ihre Taktik funktioniert. Viele ihrer mehr als 70 Menschen, die ihre Hilfe zunächst abgelehnt hätten, kämen schließlich doch zu ihr. "Da freue ich mich dann unheimlich."

Sie erzählt von einem Mann, der häufig zitterte. Das sei immer auf Alkoholmissbrauch geschoben worden. "Aber er hat nie getrunken." Der Mann sei selbständig gewesen, habe wegen des Zitterns irgendwann nicht mehr arbeiten können und sei auf der Straße gelandet – ohne Krankenversicherung. "Im Endeffekt hatte er eine schwere neurologische Erkrankung", sagt Fucik. Heilen könne man sie nicht, aber der Patient kam wieder ins Versorgungssystem – und konnte schließlich wieder arbeiten. Ein anderer habe seinen Schlafplatz plötzlich nicht mehr gefunden. Auch bei ihm deutete man dies als Folge von Alkoholkonsum. Seine Diagnose war jedoch Demenz.

Viele Obdachlose "irren" von einer Einrichtung in die nächste, ohne eine Diagnose zu bekommen. So sei es schwer, den richtigen Hilfebedarf festzustellen. Bei Obdachlosen gehe man fast immer von Alkohol- oder Drogenkonsum aus, sagt Fucik. Dass sehr viele von ihnen eine Erkrankung haben, werde nicht gesehen. Die meisten ihrer Patienten etwa litten an Psychosen.

Angst hat die zierliche Ärztin aber vor keinem ihrer Patienten. Sie versuche immer, die Situation abzuschätzen und sich der Gefährdungslage entsprechend zu verhalten. Im Zweifel sei auch ein Sicherheitsteam mit dabei. Und Berührungsängste oder Probleme mit Gerüchen habe sie sowieso keine. Bereits seit 20 Jahren ist Eva Fucik Ärztin, hat unter anderem lange in der geschlossenen Psychiatrie gearbeitet.

Nach der Behandlung weiter unterstützen

Obwohl die Praxis, die durch Spenden finanziert wurde, noch nicht ganz fertig eingerichtet ist, hat Fucik bereits Pläne, sie zu erweitern. Die Sprechstunde erweitere das Frühstücksangebots des Franziskustreffs. "Natürlich können mich andere Einrichtungen bei Bedarf anfragen oder jemand ohne Wohnsitz kommt direkt, wenn er oder sie nervenärztliche Hilfe benötigt", sagt Fucik.

Sie sehe sich als Bindeglied zwischen Wohnungslosenhilfe und Teil des medizinischen Systems, speziell am Bedarf für Obdachlose orientiert: Seien die Menschen irgendwann so weit, dass sie keine intensive Behandlung mehr bräuchten, könnte Fucik sie an eine normale Praxis oder eine Institutsambulanz vermitteln. "Es geht uns ja nicht darum, dass wir die Menschen an uns binden wollen", sagt sie. Trotzdem richte sie ihren Patienten auch täglich bedarfsgerecht die Medikamente an, die sie sich abholen können. "Eine ganze Packung wird ihnen häufig geklaut oder geht verloren."

Es gehe vor allem darum, erst einmal Vertrauen zu schaffen und überhaupt die Einsicht, Kooperationsbereitschaft sowie die Motivation zur Mitarbeit der Patienten zu erreichen. Dann fördere sie gemeinsam mit den Angeboten wie der Sozialberatung des Franziskustreffs die weiteren Schritte wie die Suche nach einer Wohnung. "es geht darum, Hilfe anzunehmen. Viele sind krankheitsbedingt ja erst einmal nicht in der Lage, Hilfen anzunehmen", sagt Fucik.

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Die kleine Frau, die eng an die Mauer des Franziskustreffs neben dem Liebfrauenkloster gedrückt steht, scheint dieses Mal keine Hilfe von Eva Fucik zu brauchen oder zu wollen. Aber wenn sie sich doch einmal anders entscheidet, auch wenn es erst das über- oder überübernächste Mal sein wird, ist Eva Fucik da. Mit Respekt und Geduld.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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