Sinkende Einnahmen: Der Stadt Marburg fließen viele Millionen Euro weniger Gewerbesteuern zu als erwartet.

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Das hat wie in Mainz mit Biontech zu tun. Marburg muss aber nur etwas sparen. Denn der Stadt kommt Geld aus Aktien und Anleihen zugute.

Nach dem während der Corona-Pandemie stark angeschwollenen Gewerbesteuerzufluss müssen die Marburger Stadtpolitiker nun mit einer unliebsamen Überraschung zurechtkommen: Die Einnahmen sinken stärker als gedacht. Der im Dezember von den Stadtverordneten beschlossene Haushaltsplan für dieses Jahr hält der Wirklichkeit nicht mehr stand.

Dies folgt aus den neuen Zahlen zu den Erträgen aus der Gewerbesteuer, mit denen die Uni-Stadt an der Lahn bis Jahresende und im nächsten Jahr rechnen kann. Deshalb muss sie Ausgaben kürzen und ein höheres Etatminus einplanen. Der von Oberbürgermeister Thomas Spies (SPD) vorgelegte Entwurf für den Nachtragsetat spiegelt dies wider.

Spies gab sich im Gespräch mit der F.A.Z. dennoch unaufgeregt. Marburg bleibe eine wohlhabende Stadt. "Wir haben in den vergangenen Jahren keine Liquiditätskredite aufgenommen – und das machen wir jetzt auch nicht." Diese Darlehen entsprechen im Grunde den früher so genannten Kassenkrediten, die eine Kommune bis zum Ende des jeweiligen Jahres ausgleichen muss. "Am besten ist, eine Stadt fängt damit gar nicht erst an", meint der frühere Landtagsabgeordnete, der in seiner zweiten Amtszeit an der Spitze der Stadtverwaltung steht.

350 Millionen Euro in Spezialfonds

Unaufgeregt kann sich Spies wegen des finanziellen Weitblicks zum Ende der Corona-Pandemie geben. Marburg hat einen unter Kommunen in Hessen ungewöhnlichen Weg eingeschlagen und 350 Millionen Euro in einen auf die Stadt zugeschnittenen Spezialfonds eingezahlt. Seit Mitte vergangenen Jahres arbeitet dieses Geld für die Bürger. Angelegt ist es in börsengehandelten Indexfonds (ETF) auf Anleihen und Aktien.

Im Februar sagte Spies: "Vor Inflation haben wir keine Angst." Daran hat sich nichts geändert. Nun sagt er: Marburg habe drei sehr gute Jahre erlebt. "Das ist jetzt mal ein schlechtes." Wobei es auf den Haushaltsplan für das nächste Jahr ausstrahlen werde. Der langfristige Gewerbesteuertrend sei aber intakt. Im Mittel rechnet der Oberbürgermeister mit 120 bis 140 Millionen Euro im Jahr nach etwa 96 Millionen im laufenden.

Die nackten Zahlen sehen so aus: Das Haushaltsdefizit steigt um fast 40 Millionen Euro. Die Einnahmen gehen um 55 Millionen Euro zurück. Dahinter steht eine für die Stadt nachteilige Gemengelage. Zwar redet Spies, der auch Kämmerer ist, nicht über Namen von Gewerbesteuerzahlern.

Aber klar ist: Nach dem Höhenflug durch den millionenfachen Verkauf von in Marburg hergestellten Corona-Impfstoffen und den daraus folgenden Milliardengewinnen weist der Hersteller Biontech längst niedrigere Erfolgszahlen aus. Nach einem Jahresüberschuss von 17,8 Milliarden Dollar, das sind ungefähr 16 Milliarden Euro nach derzeitigem Kurs, im Jahr 2021 und 13,6 Milliarden Dollar im Folgejahr wies das Mainzer Biotech-Unternehmen zuletzt nur einen Gewinn von 1,3 Milliarden Dollar aus, also gut eine Milliarde Euro.

Weniger Gewerbesteuer, höhere Kosten

Das wirkt sich nicht nur auf die Kassenlage der Stadt Mainz aus, deren Nachtragsetat 2024 von der Aufsichtsbehörde beanstandet worden ist. Marburg spürt die Folgen ebenfalls. Zwar hat die in Marburg beheimatete Deutsche Vermögensberatung im vergangenen Jahr einen Rekordgewinn erzielt.

Doch kommen die Gewerbesteuern nicht allein den Mittelhessen zugute, sondern auch Frankfurt. Dessen ungeachtet ist der Kreis der großen Zahler überschaubar, wie Spies sagt. Der Schwerpunkt liege auf den Branchen Pharma und Biotechnologie. Das ist seit den Zeiten der Behringwerke der Fall.

Zum abschwellenden Gewerbesteuerfluss gesellen sich weitere Belastungen für die Stadt, die sie nicht zu verantworten hat und auch nicht direkt beeinflussen kann. Der Oberbürgermeister und Kämmerer nennt von den Gewerkschaften ausgehandelte höhere Gehälter für die Bediensteten, hohe Energiekosten, Inflation, Baukostenexplosion, kombiniert mit der Ankündigung des Landes, die Zuweisungen an die Kommunen zu kürzen, außerdem "immer mehr bürokratische Auflagen und die ständige Übertragung weiterer Aufgaben ohne finanziellen Ausgleich" durch den Bund und das Land.

Einschnitte sollen trotz Defizit im Haushalt gering ausfallen

Vor diesem Hintergrund sparen die Ämter alles in allem etwa 15 Millionen Euro an eingeplanten Ausgaben laut Nachtragshaushalt ein. Dafür habe sich die Verwaltung strikt an den tatsächlichen Ausgaben im vergangenen Jahr orientiert, als eingeplante 20 Millionen Euro nicht benötigt worden seien.

Der Nachtrag sieht ein Defizit von knapp 93 Millionen Euro vor statt fast 55 Millionen Euro bei Einnahmen von 252 Millionen und Ausgaben von 345 Millionen. Die Stadtverordneten müssen am 11. Oktober darüber befinden.

"Besonders wichtig ist mir, dass wir den Bestand der wichtigen Einrichtungen und Institutionen in der Jugendarbeit, Jugendhilfe und Kinderbetreuung, in der Bildung, bei den sozialen Leistungen, der Gleichstellung, des Gewaltschutzes, der Kultur und dem Sport sichern können", hebt Spies hervor. Solche freiwilligen Leistungen seien kein Schnickschnack, sie sicherten Lebensqualität. Weniger in Schulen und Wohnungsbau, Kindertagesstätten und Sozialeinrichtungen investieren wolle Marburg auch nicht.

Schulbauten "cash bezahlen"

Da kommt das Geld ins Spiel, das die Indexfonds abwerfen. In den vergangenen Monaten haben sich die Aktienbörsen in Europa und den USA gut entwickelt, die Kurse sind gestiegen.

Gleiches gilt für Anleihen, denn die Zentralbanken senken die Leitzinsen. Am Markt schon umlaufende Papiere, die mehr Zinsen versprechen als neue, sind gefragter und steigen im Wert. Das zeigt sich in den Indexfonds, die Marburg hält und von Vermögensverwaltern betreuen lässt.

Von den ursprünglich 350 Millionen Euro hat die Stadt schon etwa 85 Millionen Euro für Investitionen herausgenommen. Etwa für Schulbauten, "die wir cash bezahlen", erläutert Spies. Zudem sollen auf mehrere Gebäude verteilte Ämter in einer größeren Liegenschaft zusammengeführt werden. Diese Gebäude würden dann für den Wohnungsmarkt frei.

Gleichzeitig könnte die Verwaltung abgestimmter und effizienter arbeiten, so die Idee. An flüssigen Mitteln halte die Kämmerei dessen ungeachtet rund 30 Millionen Euro vor. Schließlich müsse Marburg umgehend handeln können, wenn die Stadt zu viel überwiesene Gewerbesteuern zurückzahlen müsse.

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