Tänzer Marcos Abranches: Der brasilianische Tänzer Marcos Abranches ist schwer behindert. Seine Performances sind eine Herausforderung, für das Publikum und ihn selbst. Jetzt ist er Gast am Staatstheater Darmstadt.
Mit einer steil gezackten Krone und der Geste eines Rockstars tritt er auf und verabschiedet Orpheus in die Unterwelt. Der brasilianische Tänzer und Choreograph Marcos Abranches (Jahrgang 1977) verkörpert die Psyche in "Orpheus und Eurydike" am Staatstheater Darmstadt. Er ist aber auch der Tod, der Amor würgt.
Mal mit dem Dolch, mal mit der Rose in der Hand verkörpert Abranches zwei Figuren, die in Christoph Willibald Glucks Oper eigentlich nicht vorkommen. Zwei Gestalten, die man auch sonst nicht im Theater zu sehen kriegt, denn das Doppelwesen aus dem Unterbewusstsein und der Unterwelt ist ein Störfaktor im feierlichen Reich der Oper, die Fleisch gewordene Verunsicherung.
Marcos Abranches zuckt mit den Armen, humpelt und stürzt auch, ruft unverständlich in eine Chorpassage hinein. Was an dieser Performance Ausdruck künstlerischen Willens, was unwillkürliche Körperreaktion ist, lässt sich nicht sagen. Irritation und Faszination liegen nah beieinander, wenn man diesem Mann zuschaut, der bei der Geburt zu wenig Sauerstoff abbekommen hat, was zum Krankheitsbild der Zerebralparese mit Bewegungsstörungen und Krämpfen führte. Erst mit neun Jahren lernte er das Laufen, mittlerweile aber steht er seit 25 Jahren auf der Bühne – bis Ende Februar 2025 als Gast in einem Residenz-Programm des Darmstädter Staatstheaters.
Als Operndirektor Sören Schuhmacher in der Vorbereitung auf seine erste Darmstädter Inszenierung in die Abgründe des Orpheus-Stoffs hinabstieg, merkte er: "Ich brauche Marcos, ich muss ihn anrufen!" Kennengelernt haben sich der deutsche Theatermann und der brasilianische Tänzer schon vor 16 Jahren. Da gehörte Schuhmacher zum Regieteam, das den Entwurf des todkranken Christoph Schlingensief (1960–2010) für die Opernrarität "Szenen aus dem Leben der heiligen Johanna" von Walter Braunfels in Berlin umsetzte – mit Abranches im Ensemble. Und jetzt ist der Tänzer am Staatstheater Darmstadt, wo das Team mit Inklusion vor allem im Schauspiel gute Erfahrungen gesammelt hat.
Heavy-Metal und Opernarie, Kampf und Leid
Der querschnittgelähmte Samuel Koch hatte hier von 2014 an sein erstes Engagement, spielte vom Faust bis zum Prinz von Homburg die klassischen Hauptrollen hoch und runter, testete dabei wagemutig die Grenzen seines Rollstuhls und seines Körpers aus. Auch die kleinwüchsige Jana Zöll und ihr ebenso mit der Glasknochenkrankheit lebender Kollege Erwin Aljukic beeindruckten in Darmstadt mit dem Willen, aus ihren Einschränkungen eine ganz eigene Körpersprache und Theaterarbeit zu schaffen. Was das betrifft, steht Marcos Abranches in der Tradition mutiger Vorgänger, wobei seine Erscheinung deutlich verstörender wirkt.
So verwundert man auf den ersten Blick sein mag, so bewundernswert ist das, was man sieht, auf den zweiten Blick – und geradezu wunderbar, wenn man es mit Abstand betrachtet. Der erste Eindruck aber ist hart. Das zeigt sich am unmittelbarsten in den Soli, die Abranches in Darmstadt vorführt. Den Auftakt hat er mit "Canto dos Malditos" (Lied der Verdammten) gemacht: Die Bewegungen entgleisen grotesk, die Finger krampfen, die Extremitäten scheinen ein Eigenleben zu führen.
Abranches windet sich am Boden, würgt Worte hervor, erhebt sich wieder und schimpft, dass man an das wütende La-Linea-Strichmännchen aus dem Trickfilm denken mag. Über fast vierzig Minuten ist diese Performance zu Heavy-Metal und Opernarien ganz dem Kampf und dem Leid der Kreatur gewidmet. Anfang November stand, neben seinen Auftritten in "Orpheus und Eurydike", auch sein unter anderem vom Butoh-Tanz inspiriertes Maskenspiel "Avessos" auf dem Programm. Im Januar 2025 folgt das Solo "Corpo sobre tela" (Körper auf Leinwand), in dem der Tänzer im klecksenden Farbrausch zwischen Action- und Bodypainting zum menschlichen Pinsel, die Bühne zur Leinwand wird. Inspiriert ist das von Francis Bacon.
Munchs "Schrei" hat Abranches auch schon verkörpert. Und wer seine verkrümmte, hagere Gestalt anschaut, mag an Gemälde von Egon Schiele denken. Eine brasilianische Dokumentation, die am Staatstheater zu sehen war, zeigt, welche Facetten der Expressivität Abranches ausspielen kann. Allen Vorzeichen zum Trotz.
"Ich habe entdeckt, dass ich frei sein kann"
Als die Ärzte seiner Mutter mitteilten, wie schwer behindert ihr Sohn ist, stand die Wahrscheinlichkeit auf ein Leben im Rollstuhl bei 95 Prozent. Doch er kam auf die Beine, und als der Vater eines Tages sagte, der Sohn solle allein zum Bäcker um die Ecke gehen, wurde das zu seinem Initiationsmoment. Er stolperte und stürzte, doch er kam mit Brot zurück.
"Das war der wichtigste Moment", hat Abranches jüngst bei einem Publikumsgespräch gesagt. "Ich habe entdeckt, dass ich frei sein kann. An diesem Tag habe ich Flügel bekommen." Und diese Schwingen haben ihn weit getragen durch die Theaterwelt – und über Spott und Einsamkeit hinweg ins Leben. Marcos Abranches ist zweifacher Familienvater. Und er ist ein Mann, der mit der Kunst seine Lieben ernähren kann.
Mitleid braucht er nicht. Bei den Workshops, die er gibt, sind drei Sätze verboten: Ich kann nicht. Ich bin behindert. Es ist schwer. Hätte er sich darauf beschränkt, wäre er sicher nicht da, wo er heute ist. Er sei nicht Künstler wegen seiner Behinderungen, sondern wegen seiner Gaben, sagt er im Film.
Und weil seine Geschichte zu schön ist, um sie nur auf zähe Selbstüberwindung zu gründen, schmückt Abranches seine Lebenserzählung gerne mit spirituellen Motiven. "Was mich rief, war die Kunst: Komm, sei glücklich! Ich wurde von einem Kunst-Gott geschaffen. Er hat den Tanz in mein Leben geholt, um den Menschen zu zeigen, was Gleichheit ist."
Am 28. November präsentiert Marcos Abranches Ergebnisse seiner Darmstädter Residenz im Ballettsaal des Staatstheaters. © Frankfurter Allgemeine Zeitung
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