75 Jahre F.A.Z.: Wo die Frösche quarren oder Eine Lehmgrube wird zur Geldgrube: Wie ein Zugezogener in den Achtzigern die Nordweststadt erlebte.

Mehr News aus Hessen finden Sie hier

Frankfurt ⋅ Wie, Sie wohnen in der Nordweststadt?" Der Gesprächspartner versucht gar nicht, die Stimme von mitleidigem Entsetzen in ungläubiges Erstaunen zu modulieren. Er hat ja recht: Die Nordweststadt ist keine gute Adresse. Manchem erscheint sie geradezu als Albtraum: "So viel Apfelwein können Sie doch gar nicht in sich hineinlaufen lassen, daß Ihnen die Betonkisten der Neuen Heimat auch nur für eine halbe Stunde gleichgültig würden!" Gegen den Spott derer, die standesgemäß im richtigen Viertel wohnen, will ich die toten, schon rissigen und wieder verspachtelten, also doch nicht ganz so toten Fassaden der Wohnhochhäuser nicht verteidigen müssen. Vor noch nicht zwanzig Jahren waren diese Klötze von der traurigen Gestalt mit großem Tamtam in Tafelbauweise auf die Felder hinter Heddernheim gesetzt worden.

War das ein Optimismus und eine Aufregung damals! Die Nordweststadt, der Fortschritt im Städtebau und der soziale Gedanke. Zwischen die neuen Mietskasernen schob man Bungalows und Reihenhäuser: Wohneigentum für Leute mit Bausparkonto. Groß und klein dicht nebeneinander. Doch alle, die hohen Mietshäuser und die niedrigen Eigenheime, wurden an einem Lineal ausgerichtet, zwar in den Fronten versetzt, aber alle in der Ost-West-Achse. Ordnung muß sein.

<span style="tab-stops:51.35pt">Kalifornische Qualitäten</span>

Einer, der da wohnt und darüber nicht unglücklich werden will, muß sich wappnen, muß Argumente sammeln: Warum ich trotzdem dort bin und bleibe.

Schon auf den ersten Blick entdeckt er in der Nordweststadt kalifornische Qualitäten. Nicht bloß in den schier endlosen Ring- und Radialstraßen, die mit unzähligen gleichnamigen Seitenästen die Hausnummern hoch ins Dreistellige und den Ortsunkundigen zur Verzweiflung treiben; nicht bloß in den weiten Wegen von den Wohnungen zu den wenigen Supermärkten, die das Einkaufen ohne Auto fast unmöglich machen; an manchen Tagen hängt ein Rauschen unter der Nebeldecke, als sei die Brandung des Pazifiks nicht fern. Es sind aber nur die Lastzüge auf der Kasseler Autobahn.

Nein, die Nordweststadt hat schöne Seiten. Das haben wir den nassen Sommern des vergangenen Jahrzehnts zu verdanken. Zwischen den Häusern wuchs und wucherte das Gebüsch und Gebäum so heftig, daß der Urwald manchenorts schon ausgedünnt werden muß; und die Karnickel finden trotzdem genügend Deckung vor den Nordweststadtkötern und den nicht mehr so vielen Nordweststadtkindern.

<span style="tab-stops:51.35pt">Den Bauvorschriften unterworfen</span>

Wie wird man denn Nordweststadtkind, Nordweststädter? Wider Willen, natürlich. Wir suchten damals, als die Zinsen fielen, ein kleines Grundstück irgendwo auf den Dörfern zwischen Bad Vilbel und Mammolshain. Doch alle Vorsprache bei Bauämtern, all die Besuche bei Besitzern baureifen Lands waren vergebens. Schließlich setzten wir eine Serie von Annoncen in die dörflichen Amtsblätter und in die Frankfurter Zeitungen. Aus den Vortaunus-Gemeinden und von der Rundschau kein Echo. Ein Leser der Neuen Presse erkundigte sich nach dem Erfolg der Anzeige, er suche Gleiches. Die Annonce in der F.A.Z., wie anders, führte uns zur Baulücke am Wendehammer der Rudolf-Hilferding-Straße, dann zu den Banken, dann zum Notar, dann zum Architekten; denn unser Fertighaus mit dem Holzgiebel durften wir dort nicht hinstellen. Bauordnung muß sein.

Zwei Jahre sitzen wir nun schon am Rand der Nordweststadt und versuchten nie, den Makel zu vertuschen. Jetzt müssen wir uns von den Nachbarn in der Straße belehren lassen, daß sie sich durchaus nicht als Nordweststädter betrachten. Aber sie waren doch wie wir den Bauvorschriften der Nordweststadt unterworfen: Flachdach und rechte Winkel, nichts Spitzes und nichts Rundes. Und wir sind hier doch alle Nutznießer der Nordweststadt-Fernwärme, die nicht billiger ist als ein eigener Öltank, aber bequemer.

Wenn wir Kräuter brauchen, Gemüse, Obst, das der allmählich sich formende Garten noch nicht liefert, so fahren wir nicht mehr in die Kleinmarkthalle, sondern über die Bernadottestraße ins Souterrain des Nordwestzentrums zum Gemüsehändler. Sein Sortiment ist nicht größer als das der Markthalle, Papayas hat auch er nicht, aber es ist genauso frisch und jedenfalls billiger.

<span style="tab-stops:51.35pt">Das Nordwestzentrum bietet fast alles</span>

Auch sonst ist das Nordwestzentrum, das nicht zentral liegt, sondern an der Heddernheimer Peripherie, gut für die Versorgung mit dem Nötigen. Auch fürs Versorgtwerden: Ärzte gibt es genug, möchte man meinen, solange man nur die vielen Schilder sieht und nicht einen Vormittag in einem vollen Wartezimmer gesessen hat. Das große Betonoval bietet fast alles, so man es im steinernen Labyrinth nur zu finden weiß, von der Zoohandlung bis zur Legasthenikerschule. Es gibt sogar eine richtige Buchhandlung. Zum Bummeln freilich wird unsereins nicht verführt. Man kauft, was man sich vorgenommen hat, und verschwindet wieder: Geld gespart, Zeit gewonnen. Den Architekten des unwirtlichen Ortes sei Dank.

Eigentlich ist das Nordwestzentrum bloß der Überbau einer größeren U-Bahn-Station. Die U-Bahn wird in diesen autofeindlichen Zeiten immer wichtiger. Sie fährt in fünfundzwanzig Minuten zur City, zum richtigen Leben. Auf den kahlen Perrons des Nordwestzentrums wird es nur vor Wahlen lebendig, wenn die Parteien Luftballons verteilen oder die Flughafengegner ihre Flugblätter – auch kein Grund zum Verweilen. Und um sieben Uhr abends ist dieses Kommunikationszentrum allemal beängstigend leer. Das Laden-schlußgesetz schnürt ihm das bißchen Leben ab, pünktlich.

Nun sitzen wir also am Rand der Nordweststadt und möchten uns als Nordweststädter betrachten. Wir sind aber allesamt Niederurseler. So steht es im Grundbuch. Doch Niederursel ist weit. In der Rudolf-Hilferding-Straße fühlen wir uns eher als Praunheimer. Der Gartenzaun unten am Steinbach steht schon fast in Praunheim. Die Brötchen holen wir in Praunheim. Die Kaninchen, die Mäuse, der Maulwurf, die Grille, der Igel, die Finken und Meisen, sie kommen uns von Praunheim her. Von Niederursel kommt der Hagel, der Schnee, der kalte Wind.

Nach zehn Jahren in Eschersheim als Mieter am Lindenring hoch über den Niddawiesen sind wir in eine Niederung und zugleich in eine Sackgasse geraten. Es ist keine schlechte Sackgasse, unseren Nachbarn stehen die größeren Wagen gut zu Gesicht. Nur der sozialdemokratische Straßenname ist uns beschwerlich; nicht weil er sozialdemokratisch, sondern weil er so lang ist. Lieber wäre uns kurz und gut der Kautsky-Weg oder die Bebel-Straße oder die Bernstein-Allee. Noch besser und richtiger könnte die Anschrift heißen: Am Steinbach oder Unter der Weide oder Vor den Äckern oder In der Lehmgrube.

<span style="tab-stops:51.35pt">Aus der Lehmgrube wurde eine Geldgrube</span>

Denn als der Keller ausgeschachtet war, zeigte sich am Grund der Baugrube unter dem trockenen gelbbraunen plötzlich grauer glitschiger Ton. Ausgerechnet hier hatte sich früher, so erfuhren wir nun, ein Zufluß zum Steinbach bei kräftigem Regen zum Teich gestaut. Eine unangenehme Entdeckung. Das Fundament und die Wände mußten für dreißigtausend Mark mit Beton und Eisen verstärkt werden: Die Lehmgrube wurde zur Geldgrube. Sie liegt wiederum in der Goldgrube. So heißt die Flur ringsum. Schon immer. Nicht erst, seit hier im Mai 1773 nach einem Hagelwetter Niederurseler Hirtenjungen einen Schatz fanden. Beile und Sicheln aus Bronze, dreitausend Jahre alt, waren vom Wasser freigespült worden.

Die Kraft des Wassers ist heute stärker denn je. Wenn nach einem Gewitter oder Dauerregen der Steinbach zu rauschen und zu tosen beginnt, kommen die Männer vom Entwässerungsamt in Gummistiefeln mit Rechen und Haken, die Fanggitter des Bacheinlaufs von Treibholz und Unrat freizuhalten. Manchmal kommen sie zu spät. Dann ist die Überschwemmung schon da, der Nachbarsgarten im unteren Teil von brauner Brühe bedeckt, der Keller des Altenheims am Praunheimer Weg wird von der Feuerwehr ausgepumpt, und der zuständige Dezernent im Römer gibt eine Pressekonferenz. Er schiebt die Schuld an der nassen Not den Taunusgemeinden zu, die ihr Oberflächenwasser nicht halten. Hier weiß freilich jedes Kind, daß der Einlauf des Steinbachs zu kümmerlich angelegt ist.

Manchmal scheint aber die Sonne. "Sie haben wohl die Vogelgezwitscher-Kassette eingelegt?" fragt der Kollege, der die gleiche Vielstimmigkeit droben in Friedrichsdorf vor der Höhe offenbar nicht kennt. Dabei hat er die Spottdrossel nicht gehört und noch gar nicht die Nachtigall. Die macht sich freilich rar. Mit Recht. Nachtigallenschlag und Nordweststadt, paßt das zusammen? Eher schon das Quarren der Frösche. Das hören wir allerdings nicht auf der Terrasse, weil das Gartengewässer noch nicht fertig ist. Wollen wir sommers Frösche hören, müssen wir einstweilen noch hinüberspazieren in den Martin-Luther-King-Park. Da quakt es am großen Teich, mitten im Grünen, mitten in der grauen, in der grünen Nordweststadt.

Interessieren Sie die Artikel der F.A.Z.?
Uneingeschränkter Zugriff auf diesen und alle weiteren zahlungspflichtigen F+ Inhalte auf FAZ.NET. Jetzt Abo abschließen.

Die Frankfurter Nordweststadt war als Musterviertel gedacht. 20 Jahre nach ihrem Bau war diese Hoffnung verflogen, wie der Text aus einer Serie über Frankfurter Stadtviertel zeigt.

Dieser Artikel erschien am 10. 9. 1981.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.