Lesung im F.A.Z.-Tower: Wie der Holocaust jüdische Familien bis heute prägt: Die Journalisten Hans Riebsamen und Rafael Herlich stellen im F.A.Z.-Tower ihr Buchprojekt "Nie gefragt – nie erzählt" vor.
Der Fotograf Rafael Herlich erzählt von seinem Vater, der zur Liebe nicht fähig war, von einem Mann, der es nicht schaffte, sich zu binden. Von einem auf den anderen Tag hatte er ihn und seine Mutter verlassen, war er aus Israel ausgereist, nur einmal noch meldete er sich aus der Schweiz. Erst viele Jahre später, durch einen Zufall, sollte Rafael Herlich erfahren, dass sein Vater noch ein zweites Mal so gehandelt hatte. Wieder verliebte er sich in eine Frau, wieder kam ein Kind zur Welt, Herlichs Halbbruder Pierre, wieder nahm der Mann Reißaus.
Der Fotograf nimmt seinem Vater diese Entscheidungen heute nicht mehr übel. Weil er sicher ist zu wissen, welches Motiv dahintersteckte: "Mein Vater war kein Holocaustüberlebender, mein Vater steckte sein ganzes Leben lang weiter im Holocaust."
Fotografien aus dem Archiv
Das Buch, in dem Herlich von seinem Vater berichtet, hat der Journalist Hans Riebsamen geschrieben, sein Titel lautet "Nie gefragt – nie erzählt". 31 Porträts über Frankfurter Familien von Holocaustüberlebenden sind darin versammelt. Von Rafael Herlich stammen die Fotografien für den im Societäts-Verlag erschienenen Band. Seit mehr als 40 Jahren dokumentiert er das jüdische Leben in Deutschland, vor allem in der Frankfurter Gemeinde ist Herlich als Fotograf aktiv. Und er war es auch, der die Kontakte herstellte zu den Familien, die dem Autor Riebsamen bereitwillig aus ihren Leben berichteten, die Privates preisgaben, darüber sprachen, wie die Erinnerung an die Schoa sie bis heute, auch die Enkel und sogar die Urenkel prägt. Und die beschrieben, wie viel Überwindung es kostete, über das erlittene Leid zu sprechen.
Im F.A.Z.-Tower stellen Autor und Fotograf ihr Buchprojekt am Mittwochabend vor, mit der Lesung unterstützen sie das Spendenprojekt "F.A.Z.-Leser helfen". Die Theaterpädagogin Katharina Fertsch-Röver liest drei der bewegenden Biographien, neben der von Rafael Herlichs Vater Emanuel auch die Porträts über Eva Szepesi, die als junges Mädchen nach Auschwitz deportiert wurde, und über Siegmund Freund, der als Zwangsarbeiter des Chemiekonzerns IG Farben im Lager Auschwitz-Monowitz arbeiten musste.
Für Riebsamen ist der Auftritt auch eine Rückkehr: Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2020 hatte er als Redakteur der F.A.Z. gearbeitet, in der Rhein-Main-Zeitung war er für die Berichterstattung über jüdisches Leben zuständig. Noch heute schreibt er als freier Autor regelmäßig für "seine Zeitung".
Juden bleiben "unbekannte Wesen"
Im Gespräch mit F.A.Z.-Herausgeber Carsten Knop beschreiben Herlich und Riebsamen, wie ihr Buchprojekt entstand, wie sie zueinanderfanden, wie Herlich sein Archiv nach Fotografien der Familien durchforstete und die intensiven Gespräche mit den Überlebenden und ihren Nachfahren den Autor Riebsamen bewegten.
Mit ihrem Buch wollen sie erreichen, dass auch nichtjüdische Deutsche die Belastungen, mit denen die Überlebenden-Familien zu kämpfen haben, besser verstehen. Für viele in Deutschland, besonders fernab der Metropolen, seien Juden noch immer "unbekannte, fremde Wesen", sagt Riebsamen. Die Vorurteile von reichen, international vernetzten Strippenziehern hielten sich beharrlich: "Die Bilder kommen aus der NS-Zeit und werden weiter aus der Vergangenheit in die Gegenwart getragen."
"Ein Tsunami des Judenhasses"
Seit dem Hamas-Anschlag vom 7. Oktober habe sich die Lage verschärft, sagt Herlich. Er spricht von einem "Tsunami des Judenhasses", der über das Land rolle. Immer häufiger werde er seitdem von Schulen angerufen, an denen sich antisemitische Vorfälle häufen, an denen etwa jüdische Schüler mit dem "Hitler-Gruß" konfrontiert würden. Herlich macht sich dann auf, zeigt seine Bilder, spricht mit den Schülern, klärt auf. "Ich merke, dass ich etwas bewegen kann", sagt der Fotograf, "sonst würde ich das nicht machen." © Frankfurter Allgemeine Zeitung
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