Unesco-Welterbe: Die Herz-, Vogel- und Pflanzenmotive auf bäuerlichem Leinen, einst gut gehüteter Hausschatz bäuerlicher Familien, ist nun offiziell als Kulturerbe anerkannt.

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Paradekissen, Tauftücher und Frauenmieder gehören heute nicht mehr zur Ausstattung eines vollständigen Haushaltes. Das war einmal anders, denn die Aussteuer, bestehend aus Bettlaken, Kissenüberzügen, Paradekissen für besondere Anlässe, Überwürfe, dazu Taschentücher, Unterwäsche, Hemden, Blusen hatte eine Braut mit in die Ehe zu bringen. Meist bestand die aus Leinen, und je nach Stand und Kunstfertigkeit war sie mehr oder weniger aufwendig bestickt oder mit Spitze versehen.

Der Kulturraum rund um das Flüsschen Schwalm mit seiner typischen Tracht, eigenen Mundart und eigenen Bräuchen und Tänzen ist eine flache, von Bergland umgebene Landschaft. In dieser Region hat die Ahle Wurscht ihre Heimat, die bislang noch keinen Welterbestatus hat, aber dabei kann es sich nur um ein Versehen handeln. Hier bildete sich nun im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert ein ganz eigener Stil der Wäscheverzierung heraus, die Schwälmer Weißstickerei, auch "Hessenstickerei" genannt.

Üppig bestickt wurden vor allem Festtagsgegenstände wie Tauftücher, Schultertücher für den Kirchgang oder sogenannte Türhandtücher. Das waren lange. schalartige Stoffstreifen, die aufwendig bestickt waren und an Festtagen über die Tür gehängt wurden. Auch Taschentücher oder Kleidungsstücke wurden verziert, besonders an den Ärmeln, wo Hemd oder Miederbluse sichtbar waren.

Typisch für die Schwälmer Stickerei sind Glück und Wohlstand versprechende Motive wie Herzen, Körbe, Täubchen und Tulpen. Sterne und Sonnen gehören dazu, manchmal finden sich auch Granatäpfel. Die Motive werden mit Kettenstichen umgeben und mit Durchbruchmustern ausgefüllt. Darum herum ranken sich üppige Zweige, manchmal in Form von Lebensbäumen. Am Ende krönte die Stickerin ihr Werk gern mit einer goldenen Krone, manchmal auch ihren Initialen samt Jahreszahlen. Ursprünglich waren diese Kronen schwarz, doch die damalige Farbe begann nach der ersten Wäsche in ein Goldbraun zu verblassen, weshalb man später ganz zu dieser Farbe griff. Die Kronen sind eine Besonderheit der Schwälmer Stickerei und höchst individuell, mal ganz schlicht, mal üppig wuchernd.

In den Familien und Dörfern entwickelte sich eine Vielfalt an Stichen und Techniken: Wickelstiche und Plattstiche, Erbsloch- und Stopfhohlsäume, dazu eine unendliche Zahl an sogenannten Limetrosen, die Füllmuster, bei denen kunstvoll einzelne Fäden aus dem Gewebe entfernt werden. Hier muss die Stickerin zählen und sich konzentrieren, aber es entstehen auf diese Weise ganz einzigartige geometrische Muster.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts legten viele Frauen die Tracht ab. Die Hessenstickerei überlebte, nun modernisiert und industrialisiert, auf Tischdecken und andern Gebrauchstextilien. Die Muster wurden luftiger, die Limetrosen stark vereinfacht. Das sah moderner aus und war einfacher zu produzieren. In dieser Form erreichte die nun "Hessenstickerei" genannte Technik ganz Deutschland.

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Dann übernahmen Landfrauen und andere begeisterte Stickerinnen die Sache, sammelten alte Stücke, hielten die Kunst mit privater Begeisterung am Leben. Sie entwickelten sie weiter und gaben Kurse. Inzwischen ist, dem Internet sei Dank, "the Schwalm Whitework" bei Handarbeitsenthusiasten weltweit ein Begriff. Die Anerkennung als Unesco-Welterbe ist eine schöne Anerkennung für die Bemühungen einzelner, dass diese Tradition nicht ausgestorben ist.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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