175 Jahre Paulskirche: Vor dem tristen Ende der Nationalversammlung bäumen sich die Abgeordneten noch einmal auf.
Es geht um die hoch strittige Frage, ob das Parlament von der zentral gelegenen Kaiserstadt Frankfurt nach Schwaben ziehen soll.
Ernst wird es, bedrohlich ernst. Mittwoch, 30. Mai 1849, morgens, 10 Uhr. Präsident Theodor Reh eröffnet die 230. Sitzung der deutschen Nationalversammlung. Die Abgeordneten scheinen sich im weiten Rund der Paulskirche zu verlieren. Reh hat Zweifel an der Beschlussfähigkeit. Einzeln lässt er die Namen aufrufen, um die Zahl der anwesenden Mitglieder des Hohen Hauses zu ermitteln. Eine halbe Stunde später das Ergebnis der Zählung: 130 Abgeordnete sind präsent, dreißig mithin über dem neu festgesetzten Limit, um Beschlüsse fassen zu können.
Ernst wird es. Eine gefährliche persönliche Fehde. Der schlesische Abgeordnete Wilhelm Wolff, Gefolgsmann von Karl Marx, legt sich mit Carl Vogt an. Dieser, ein radikal demokratischer Abgeordneter aus Gießen, hat am Samstag zuvor empört den "Schmutz und Kot" angeprangert, mit dem Wolff den Reichsverweser Erzherzog Johann beworfen habe, indem er diesen als "ersten Volksverräter" titulierte. Wolff forderte Genugtuung, Vogt verweigerte sie. In der Paulskirche greift Wolff rhetorisch zur Waffe: "Ich weise die Äußerungen des Herrn Vogt als elende Schimpfereien eines feigen Schwätzers mit Verachtung zurück." Unruhe, "Aufhören"-Rufe. Wolff: "Jawohl, ich habe geendet und wiederhole, er ist ein feiger Schwätzer." Zwischenrufe, "Pfui", "Zur Ordnung". Resigniert reagiert Reh, mehr als einen Ordnungsruf sehe die Geschäftsordnung für solche Fälle nicht vor.
Bedrohlich ernst wird es – für das Parlament in der Frankfurter Paulskirche. Am Morgen hat sich der Dreißiger-Ausschuss, zuständig für Grundsätzliches, auf einen dringlichen Antrag verständigt: Die nächste Sitzung der Nationalversammlung soll im Lauf der kommenden Woche in Stuttgart stattfinden. Die provisorische Zentralgewalt mit dem Reichsverweser Johann an der Spitze soll sich ebenfalls "ungesäumt" dorthin begeben. Dazu gibt es eine knappe Erläuterung: "Daß wir hier mit einer Zentralgewalt, die die Verfassung nicht ausführen will, mitten zwischen verfassungsfeindlichen Truppen sitzen, das ist das Hauptmotiv." Applaus von der Galerie.
Frankfurt als Stadt auf der "Markscheide"
Umgehend begehrt der Abgeordnete August Gfrörer auf, widersetzt sich energisch "als Deutscher und als Württemberger". Der evangelische Theologe und Historiker hält die Idee, die Versammlung nach Stuttgart zu verlegen, nicht nur für gefährlich, er betrachtet sie als ein Vergehen am deutschen Vaterland. Denn den Charakter eines deutschen Parlaments verdankt das Haus seiner festen Überzeugung nach ganz wesentlich der Stadt, in der es tagt.
Gfrörer holt weit aus, legt Pathos in seine Stimme. Der Schwabe, 1803 in Calw geboren, bricht eine Lanze für Frankfurt, die alte Kaiserstadt, "tief in die Farben unserer Nationalerinnerungen getaucht". Aus dem Lager der Linken lautes Lachen. August Gfrörer, österreichisch-großdeutsch politisch positioniert, wehrt ab: "Lachen Sie nicht, meine Herren, die Erinnerungen sind eine große Macht, und dieselben haben viel mehr auf unsere Verfassungsarbeiten eingewirkt als vielen von Ihnen lieb war." Frankfurts Vorteile preist er, als Stadt auf der "Markscheide" des Südens, Nordens, Ostens und Westens. Und da der Süden und der Norden Deutschlands "nicht zum Besten gegeneinander steht", müsse man "dem einen Teil den Ort der Nationalversammlung so nahe rücken als dem anderen".
Der Schwabe breitet seine feinsinnigen Kenntnisse über die Stadt am Main mit ihrer großen Geschichte als ehemaligem Wahl- und Krönungsort der Könige und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation weiter aus: In Frankfurt gibt es keinen Fürstenhof, der auf die Beschlüsse der Versammlung einzuwirken suche. Viele ihrer alten Freiheiten hat die Stadt sich seines Wissens bewahrt, ja "hier gibt es nicht einmal eine Bevölkerung, die in einem schadlosen Sinne bearbeitet werden könnte". Frankfurt findet er "so glücklich organisiert, so wohlhabend und reich, daß allhier sich selbst nach größter Aufregung in kurzer Zeit alles ins Gleichgewicht setzt". Von hier wegzugehen, das wird nach seiner Überzeugung den Charakter der Nationalversammlung grundlegend verändern. Daher protestiert er "als Deutscher" gegen eine Verlegung nach Stuttgart.
Uhland schreckt vor nach Stuttgart zurück
Aber auch "als Württemberger", als Sohn des Landes, warnt er vor diesem Schritt. Aus Stuttgart hat es seines Wissens keine Einladung dazu gegeben, und er ist sicher, sie werde nicht kommen. "Man weiß recht gut dort in meinem Lande, was daraus entstehen muß, wenn man die Versammlung von Frankfurt nach Stuttgart verlegt", belehrt Gfrörer seine Kollegen. Der inzwischen linken Mehrheit des Hauses mag er nicht unterstellen, etwas zu tun, "was nicht recht sein würde". Doch er gibt offen zu bedenken, eine Verlegung in die schwäbische Hauptstadt könne faktisch keine andere Folge haben, "als Stuttgart zu karlsruhern". Als Professor in Freiburg kennt er die Verhältnisse in Baden, glaubt mit Blick auf die dortige Aufstandsbewegung, das Land sei durch die "verfluchten Wühlereien" unglücklich geworden. Nun erleben zu müssen, sein Heimatland erleide das gleiche Schicksal – davor graut es ihn.
Auch Ludwig Uhland schwant Schlimmes. An die Entscheidung des Vorparlaments erinnert er, die deutsche Nationalversammlung nach Frankfurt einzuberufen. Das Volk habe das Parlament in diese Stadt gewählt. Vor einer Verlegung nach Stuttgart schreckt er zurück, weil sich das Parlament in einen "die süddeutsche Bewegung nicht leitenden, sondern von ihr beherrschten und bewältigten Winkelkonvent" verwandele. Der Poet und promovierte Jurist aus Tübingen macht noch ein "persönliches Gefühl" geltend, über das er nicht mehr sagen möchte, als "daß ich diese Verlegung für mein schwäbisches Vaterland nicht wünschen kann".
Dringend rät Jacob Venedey, Kölner, von dem Vorhaben ab, warnt vor der Folge, "daß ein Kampf, der bisher unter uns stand, in Stuttgart über uns fortgehen, uns mit fortreißen wird". Der Rheinländer hört sich Einwand für Einwand an. Aber, prophezeit er, die Nationalversammlung, das deutsche Parlament, werde in diesem Kampf zugrunde gehen.
Die Parole "Nationalsouveränität" wirft Ludwig Simon in die Debatte, sucht damit alle Einwände wegzufegen. Provozierend poltert er: "Wollen Sie diese Souveränität noch länger hinsiechen lassen unter dem Druck eines verfassungsfeindlichen Ministeriums?" Der Anwalt aus Trier setzt auf den "biederen Stamm der Schwaben", rechnet mit freundlicher Aufnahme. Selbst wenn das nicht der Fall sein sollte, will er "lieber im Schwabenland in Ehren zugrunde gehen, nachdem ich den letzten Versuch zur Rettung der deutschen Volksehre gemacht habe, als hier unter den Streichen eines feindlichen Ministeriums schmählich hinsiechen und verwesen". Carl Vogt sekundiert: "Wir müssen für uns, für die Freiheit einen festen Punkt in Süddeutschland suchen. Wir können diesen Punkt nicht mehr in Norddeutschland finden, wo alles überflutet ist von den Wellen des Absolutismus."
Nationalversammlung sei identisch mit Frankfurt
Vogt warnt, Preußen wolle durch Usurpation und rohe Gewalt an sich reißen, was es aus der Hand der Nationalversammlung nicht angenommen habe. Von preußischen Schlingen spricht er, die sich "enger und enger um uns zusammengezogen haben". Die Bedenken wegen der Aufstandsbewegung in Baden tut der Gießener mit einem harten, geradezu vernichtenden Satz ab: "Wenn Sie dadurch, daß Sie in das süddeutsche Lager gehen, die Bewegung nicht nach Ihrem Willen bemeistern können, so sind Sie wert, daß Sie untergehen, und so ist es notwendig, daß die Bewegung über Ihre Köpfe hinausgeht." Bravorufe und Beifall aus der Versammlung und von der Galerie.
Theodor Reh, der Präsident, erteilt sich selbst das Wort. Das Recht, einen solchen Umzug zu beschließen, spricht er dem Parlament nicht ab. Aber – er hält ihn nicht für "heilbringend". Die Verlegung ist seiner Überzeugung nach überflüssig, weil er, so Reh, dem Reichsverweser vertraut, der Stadt Frankfurt und auch den preußischen und österreichischen Truppen, die seit dem Septemberaufstand im vergangenen Jahr hier stationiert sind. Für heilbringend hält er den Beschluss nicht, weil er "das letzte Band des Vertrauens zerreißt, welches zwischen Ihnen und dem deutschen Volke besteht, und weil er die stärkste Säule Ihrer moralischen Kraft zerbricht".
Rumoren in den Reihen, ungeduldige Zurufe unterbrechen den Redner. Ein Abgeordneter fährt belehrend dazwischen: "Der Präsident hat das Wort! Achtung vor dem Präsidenten." Reh kann weitersprechen. Im Bewusstsein des Volkes ist seinem Eindruck zufolge die Nationalversammlung identisch mit Frankfurt. "Sie werden in Stuttgart das Gewicht nicht finden, das Sie hier aufgeben", ruft der Präsident den Abgeordneten zu. Den Umzug nach dort sieht er als "unwillkommenes Geschenk" für den Süden an: "Sie werden die Verhältnisse des Südens nicht bessern, sondern verschlimmern und dazu die Sympathien im Norden ganz verlieren."
Die Unruhe ebbt ab
Theodor Reh zieht die aus seiner Sicht erforderlichen persönlichen Konsequenzen. Er verzichtet auf das Amt des Präsidenten, weil er den Umzugsbeschluss weder vollziehen noch sich ihm unterordnen möchte. Letzte Worte schließlich in der Paulskirche: "Indem ich Ihnen Lebewohl sage, drücke ich den Wunsch aus, daß meine Voraussagen Lügen gestraft werden mögen, und daß es Ihrer Wirksamkeit vorbehalten sein möge, das Vaterland zu retten."
Stille, kurz. Dann meldet sich Franz Joseph Buß, "auf zwei Worte". Links artikuliert sich Unwillen. Den "unglückseligen" Beschluss, eben gefasst, spießt der Freiburger auf. Unruhe. Buß fasst die Linke fest ins Auge: "So viel Freiheit werden Sie einem Andersgesinnten doch zum Abschied geben!" Die Unruhe ebbt ab. Buß formuliert resigniert abschließende Gedanken: "Ich wünsche Ihnen, meine Herren von der Linken, glückliche Reise. Aber das rechtmäßige Parlament deutscher Nation, das merken Sie sich auf dem Weg, das sind nicht Sie, die davonlaufen, sondern das sind wir, die bleiben."
Wilhelm Loewe, promovierter Mediziner aus Calbe an der Saale, übernimmt als Vizepräsident den Vorsitz. Urlaubsgesuche stapeln sich. Der Abgeordnete Hugo Wesendonck, Anwalt aus Düsseldorf, bittet, die Gesuche nicht zu bewilligen. Gründe anzuführen kann er sich ersparen, sie liegen auf der Hand. Die Genehmigungen werden verweigert. Loewe kündigt an, die württembergische Regierung und die Stadt Stuttgart schriftlich über die Ankunft des Frankfurter Restparlaments zu informieren. Zustimmung in der Paulskirche. Loewe sichert zu, in den nächsten Tagen mit dem Büro des Parlaments nach Stuttgart zu ziehen. Er bringt die Hoffnung zum Ausdruck, "Sie dann ebenso zahlreich, als Sie jetzt noch sind, dort wiederzusehen".
Es ist Mittwoch, der 30. Mai 1849, zwei Uhr und fünf Minuten mittags. Die Sitzung ist geschlossen. In der Paulskirche zu Frankfurt am Main hat die erste deutsche Nationalversammlung getagt. © Frankfurter Allgemeine Zeitung
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