Der 6. Februar 2000: Um 0.13 Uhr entgleiste der Nachtexpress D-203, der von Amsterdam nach Basel unterwegs war, bei Tempo 122 an Weiche 48 im Bahnhof Brühl.
Neun Menschen starben, 149 weitere erlitten zum Teil schwere Verletzungen. Von einer auf die andere Sekunde waren Brühl und der ganze Rhein-Erft-Kreis in einem Ausnahmezustand.
Das Bild, das sich an der Einsatzstelle bot, war fremd, unreal und bizarr. Ein tonnenschwerer Waggon hatte sich um eine Stütze des Bahnsteigdachs gewickelt, die Lok stand rund 40 Meter weiter im Wohnzimmer eines Einfamilienhauses Am Inselweiher, deren Bewohner erst kurz vorher ins Bett gegangen waren. Ein Waggon lag seitlich im Garten vor einem Mehrfamilienhaus. Etwa 300 Personen saßen an dem Sonntag in dem Schnellzug, als das Unglück passierte.
An der Einsatzstelle herrschte gespenstische Stille. Leises Wimmern war zu hören, einige Personen kletterten trotz teils schwerer Verletzungen und mit blutigen Gesichtern durch Fenster der Waggons, weil die Türen sich nicht öffnen ließen. Leute liefen teilweise in der Dunkelheit, mit und ohne Koffer, zum Teil nur leicht bekleidet planlos die Gleisböschung herunter, irrten durch Vorgärten oder setzten sich in Taxis, die am Vorplatz standen. Anwohner reagierten sofort, betreuten die Opfer in ihren Wohnzimmern oder Garagen.
Rettungshubschrauber aus allen Himmelsrichtungen
Immer mehr Rettungskräfte wurden nach Brühl beordert, 200 Feuerwehrleute, 300 Polizisten, mehr als 20 Notärzte und viele Helfer des Technischen Hilfswerks, das mit seinen Scheinwerfern die Unglücksstelle ausleuchtete, waren in der Nacht tätig. Das Bahnhofsrestaurant wurde zum Behandlungsplatz für die Verletzten, die anschließend in Krankenhäuser gebracht wurden.
Die Polizeischule an der Rheinstraße wurde zum Landeplatz für die Rettungshubschrauber, die aus allen Himmelsrichtungen kamen und die Verletzten in Kliniken flogen. Der Vorplatz zwischen Bahnhofsgaststätte und Schloss entwickelte sich innerhalb von wenigen Stunden zu einem großen Behandlungsplatz in Form eines Zeltlagers.
Erst als es Stunden später hell wurde, wurde das eigentliche Ausmaß richtig sichtbar. Etwa vier Tage dauerte es, bis die letzten Waggons und die Lok geborgen waren. Etwa 800 Helfer waren bis dahin dort eingesetzt.
Gedenkgottesdienst in
der Kirche St. Margareta
Eine Woche später fand ein Gottesdienst in der Kirche St. Margareta in der Brühler Innenstadt statt. Viele Personen, die im Zug gesessen hatten und Angehörige von Opfern nahmen in der Kirche neben dem damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau, NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement, Verkehrsminister Reinhard Klimmt, Bahnchef Hartmut Mehdorn, Landrat Werner Stump und Bürgermeister Michael Kreuzberg Platz.
Die juristische Aufarbeitung dauerte etwa eineinhalb Jahre. Im Fokus stand der Lokführer, der an der Baustelle anstatt der 40 km/h mit Tempo 122 gefahren war. Angeklagt wurden vor dem Landgericht in Köln insgesamt vier Mitarbeiter der Deutschen Bahn. Nach 23 Prozesstagen wurde das Strafverfahren wegen geringer Schuld gegen Geldzahlungen eingestellt. Die Anweisungen seien von den Verantwortlichen nicht eindeutig kommuniziert worden, von unklaren Betriebsanweisungen und Fehlinterpretation des Lokführers war die Rede.
Aus der Katastrophe viel gelernt
25 Jahre nach dem Unglück hat sich einiges getan im Bereich des Rettungswesens. Damals gab es noch keine vergleichbare Dokumentation. Die Abläufe und Einstufung der Verletztengrade sind seitdem deutlich abgestimmter und professionalisiert worden. Farblich unterschiedliche Sichtungskarten, nach denen die Personen nach ihrem Verletzungsgrad eingeteilt wurden, gab es zwar auch schon, sind seit 2002 aber nahezu weltweit einheitlich. Die Sichtung dauert heute nur wenige Sekunden, damit möglichst schnell feststeht, welches Ausmaß einUnglück hat.
Hinter der Bezeichnung PASS verbirgt sich der Begriff Personenauskunftsstelle. "In der ersten Phase haben wir Personendaten der Verletzten auf Bierdeckel und losem Zettelwerk in der Bahnhofsgaststätte aufgeschrieben und anschließend gesammelt", berichtet einer der Rettungskräfte von damals. Heute werden die Daten digital erfasst, sodass schnell klar ist, wie die Betroffenen heißen und in welche Krankenhäuser sie gebracht wurden.
Bei Großeinsätzen galt damals grundsätzlich, dass der Rettungswagen einen Patienten in das Krankenhaus brachte, wo die Besatzung herkam. Da in der Unglücksnacht viele Rettungswagen aus dem Rhein-Sieg-Kreis an der Einsatzstelle in Brühl waren, wurden viele Patienten auch dorthin gebracht. Das hatte damals auch etwas mit der Ortskundigkeit zutun. Heute ist jeder Rettungswagen mit einem Navigationsgerät ausgerüstet.
PSU-Teams sollen Retter helfen, erlebtes zu verarbeiten
Jeder Kreis muss heute auf den Massenanfall von Verletzten (ManV) von mindestens 50 Personen vorbereitet sein. Notfallseelsorger, die sich um die Betroffen kümmern, gab es zwar damals schon, aber sie waren nicht so professionell aufgestellt wie heute. Grundsätzlich geändert hat sich nach dem Zugunglück die Betreuung der Einsatzkräfte. Ausgebildete PSU-Teams sind kompetente Ansprechpartner, um Erlebtes zu verarbeiten. Das Vorhalten dieser Kräfte ist inzwischen sogar gesetzlich vorgeschrieben. Im Fall von Brühl war einer der Helfer mehr als ein Jahr arbeitsunfähig, bis er die Bilder und Eindrücke so verarbeitet hatte und wieder in Dienst gestellt wurde.
Harald Band, damals Leiter der Frechener Feuerwehr, und Bernd Geßmann, seinerzeit Feuerwehrbeamter der Stadt Kerpen, hielten unzählige Fachvorträge an Feuerwehrschulen und anderen Einrichtungen, um die Erfahrungen und Verbesserungsvorschläge weiterzugeben.
In Brühl hat der Stadtrat nach 25 Jahren beschlossen, eine Gedenktafel zu installieren, die an das Zugunglück am 6. Februar 2000 erinnern soll. Bereits vor Jahren wurde der Vorschlag gemacht, aber fand zunächst keine Mehrheit. Unklar ist nur noch, an welcher Stelle die Tafel montiert werden soll. © Kölner Stadt-Anzeiger
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