Die Zahlen sind erschreckend und besorgniserregend: 34 Prozent der befragten Mädchen zwischen 13 und 15 Jahren im Kreis Euskirchen erklärten, sich in den vergangenen zwölf Monaten gedanklich damit beschäftigt, sich das Leben zu nehmen. Bei den Jungen sind es 24 Prozent.
Das geht aus der YES-Jugendbefragung 2023 hervor. YES steht für "Youth Euregional Scan". 14 Organisationen aus dem Gesundheitswesen sind an der Studie beteiligt. Seit dem Jahr 2000 wird auf diese Weise die Gesundheit von Jugendlichen in der Euregio Maas-Rhein untersucht. 2023 wurde sie erstmals auf die Euregio Rhein-Maas Nord ausgeweitet.
Kreis Euskirchen: Mehr als 2000 Schüler nehmen an Umfrage teil
Die Umfrage, so die Organisationen, liefere "wichtige Erkenntnisse zur gesundheitlichen Lage von Jugendlichen in den Grenzregionen Deutschland, Belgien und den Niederlanden".
Aus dem Kreis Euskirchen nahmen mehr als 2000 Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 8 und 10 teil. Insgesamt klickten sich im Grenzgebiet mehr als 27.700 Schüler durch die anonyme Befragung. Für die Befragung im Kreis Euskirchen war das Gesundheitsamt zuständig. Das Gesundheitsamt beschäftigt sich derzeit mit möglichen Präventionsmaßnahmen.
Neben dem Gesundheits- und Risikoverhalten wurde auch das mentale Wohlbefinden der Jugendlichen erfasst. Und die Ergebnisse lassen aufhorchen: Pädagogen und Polizei versuchen gegenzusteuern.
Einsamkeit und Mobbing spielt bei Jugendlichen eine große Rolle
Mehr als die Hälfte der Mädchen erklärte, dass sie sich in den vier Wochen vor der Befragung oft oder fast immer einsam fühlten – und das in einem Alter, in dem ihnen nach allgemeiner Wahrnehmung das Abhängen in der Clique oft wichtiger ist als Schule, Hausaufgaben, Familie oder das Nachdenken über Zukunftsperspektiven.
Fast ein Drittel der Mädchen und Jungen gaben an, in den vergangenen drei Monaten mindestens einmal gemobbt worden zu sein. Mobbing wurde in der Befragung so definiert: "Eine Person wird auf eine Art und Weise belästigt, die ihr nicht gefällt." Dazu gehörten Tratschen, böse Nachrichten schicken, beleidigen, etwas wegnehmen, spucken oder jemanden ausschließen.
Mädchen bewerten ihre psychische Gesundheit schlechter als Jungen
Mehr als ein Drittel der Befragten berichteten von psychischen Belastungen. Ursachen seien häufig Einsamkeit und Leistungsdruck. Jugendliche, die Einsamkeit empfinden, so die Autoren der Studie, sind viermal empfänglicher für seelische Beeinträchtigungen.
Mädchen bewerten ihre psychische Gesundheit insgesamt schlechter als Jungen. Jüngere Jugendliche schätzen im Vergleich zu älteren ihre mentale Verfassung positiver ein. International, so die Studie, habe sich die psychische Gesundheit von Jugendlichen besorgniserregend verschlechtert.
Der Kreis Euskirchen ist keine Ausnahme. So berichten jeweils zwei Fünftel der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler aus dem Kreis von psychischen Belastungen, Einsamkeit und regelmäßigem oder häufigen Leistungsdruck. Fast die Hälfte (47 Prozent) fühlt sich durch Schule und/oder Hausaufgaben gestresst.
Konsum von Social Media hat weiter zugenommen
Der Konsum von TikTok, Instagram & Co hat seit der vorherigen Befragung sowohl international als auch im Kreis Euskirchen weiter zugenommen. 57 Prozent der Jugendlichen im Kreis nutzen demnach die Sozialen Netzwerke mindestens drei Stunden am Tag, 2019 waren es noch 48 Prozent.
Bei etwa einem Fünftel im Kreis müsse der Umgang als gefährdend angesehen werden, so die Autoren. Diese Jugendlichen zeigten Anzeichen für eine mögliche Suchtentwicklung – nicht selten mit fatalen Folgen: etwa Vernachlässigung anderer Aktivitäten und Pflichten, Konsum als Gegenmittel zu negativen Gefühlen oder Unruhe, wenn gerade mal nicht konsumiert werden könne. Mädchen seien davon mehr betroffen als Jungen.
Ein Problem, das auch in den Schulen im Kreis Euskirchen wahrgenommen wird. "Digitalisierung macht einsam", sagt eine Schulleitung im Gespräch mit dieser Zeitung: "Natürlich nehmen wir das an unserer Schule wahr. Wir leben doch nicht im gelobten Land."
Früher sei sich auf dem Schulhof "mindestens mal angezickt oder gar gestritten worden", sagt die Lehrkraft: "Heute wird der Streit digital ausgetragen. Und dort geht es ganz anders zur Sache, als dass mal jemand doofe Kuh genannt wird."
Gegen die Gefahren, die das zunehmende Nutzen der Sozialen Netzwerke birgt, setzen die Schulen auf ein Medienkompetenztraining – und das altersgerecht bereits ab dem ersten Schuljahr. Auch die Euskirchener Polizei ist mit ihren Experten dabei. Dass sich der Streit vom Schulhof ins Netz verlagert hat, heißt aber auch: Lehrer und Eltern sind oftmals außen vor. "Viele Erziehungsberechtigte bekommen nicht mehr mit, wenn ihr Kind Stress mit der besten Freundin oder dem besten Freund hat", sagt eine Lehrkraft.
Challenges haben im Leben der Schüler Überhand genommen
Schlimmer noch: Oftmals lebten Erwachsene dieses Verhalten vor. "Auch in Eltern-Whatsapp-Gruppen wird sich hochgeschaukelt, ohne mal in Ruhe mit dem Lehrer über ein Thema zu sprechen", so eine Schulleitung: "Soziale Netzwerke sind alles andere als sozial, wenn es darum geht, vermeintliche Probleme anzusprechen."
Sorgen bereiten Pädagogen zudem die sogenannten Challenges. Dort versuchen TikTok-Nutzer, bei Mutproben besonders viele "Likes" von Followern zu erhalten. Diese Mutproben sprengen auch schon mal den strafrechtlichen Rahmen, wenn es etwa heißt: "Klau etwas in deiner Schule".
Und wenn der Auftrag "Würge eine andere Person bis zur Bewusstlosigkeit!" lautet, wird es sogar gesundheits- oder gar lebensgefährlich. Die Aufgabe "Iss scharfe Chips" ging im August 2023 an der Gesamtschule in Euskirchen ziemlich schief. 15 Kinder, die extrem scharfe Tortilla-Chips verzehrt hatten oder mit ihnen in Berührung kamen, mussten medizinisch behandelt werden.
Digitalisierung hat Unterricht an Schulen im Kreis Euskirchen verändert
"Das Leben von Schülern ist längst zur Challenge geworden – in vielerlei Hinsicht", sagt eine Schulleitung: "Es geht sehr häufig um Likes im digitalen Raum. Das ist oft wichtiger als eine gute Note oder ein schönes Gespräch mit den Klassenkameraden." Die Ausstattung mit iPads oder Convertibles an den Schulen hat seit der Corona-Pandemie gehörig Fahrt aufgenommen – die digitalen Endgeräte gehören längst zum schulischen Alltag.
Aber wird auch der Umgang damit thematisiert? Eine Schulleitung berichtet von einer Jugendlichen, die erklärt habe, auf Instagram nicht sie selbst sein zu können und dass sie sich praktisch eine zweite Identität aufgebaut habe. "Da bin ich hellhörig geworden", so die Lehrkraft: "Da müssen wir pädagogisch gehörig aufpassen und entgegenwirken."
Die Pandemie habe sich auf die Schüler extrem ausgewirkt – auch das sagen Schulleitungen immer wieder. Das Soziale habe gelitten. "Es ist unglaublich wichtig, dass wieder Klassenfahrten stattfinden. Das ist für den Gemeinschaftssinn wichtig", sagt eine Schulleitung.
Dass Menschen im Alter zwischen 13 und 15 Jahren mit sich und dem Leben nicht immer im Reinen sind, ist nicht neu. "Da werden ganz viele Synapsen neu justiert", sagt ein Pädagoge: "Das macht etwas mit den jungen Menschen. Da müssen wir für sie da sein." Aber genau daran scheint es zu hapern. Fast 40 Prozent der Jugendlichen im Kreis Euskirchen vermissen ein besseres Angebot an ihren Schulen, um gegen Mobbing, Diskriminierung und aggressives Verhalten vorzugehen. 25 Prozent im Kreis wünschen sich mehr Unterstützung seitens der Schule.
Schülerin löst Mobbingproblem auf analoge Art
"Ich mache mir in meinem Alter viele Gedanken über die Zukunft. Und fühle mich mitunter ganz schön unter Druck gesetzt – von meinen Eltern, den Klausuren und meinen Mitschülern", sagt eine 14-jährige Schülerin. Sie und ihre Freundin seien auch schon gemobbt worden. Der Grund: ihr Kleidungsstil.
Inzwischen habe sich das Problem gelöst – auf analoge Weise: Sie habe die Verursacherin angesprochen. "Offenbar hat sie das beeindruckt und lässt mich seitdem in Ruhe", erzählt die Teenagerin.
Wohl eher eine Ausnahme. Denn Mobbing findet oft im Verborgenen statt. "Mobbingopfer sagen nicht, dass sie gemobbt werden. Die fressen das in sich hinein. Da müssen wir als Lehrer genau hinschauen", sagt eine Lehrerin.
Polizei und Schulen haben verschiedene Konzepte entwickelt
Das könnte auch eine Erklärung dafür sein, dass Cybermobbing noch keinen eigenen Posten in der Kriminalitätsstatistik bei der Kreispolizei hat. "Aus der Erinnerung sind die Anzeigen in diesem Deliktfeld eher gering", teilt Franz Küpper mit, Pressesprecher der Euskirchener Polizei.
Dennoch beschäftige sich die Behörde mit dem Thema. "Speziell im Kreis bieten wir in Kooperation mit den Schulen und Schulsozialarbeitern Präventionsprojekte zur Mediensicherheit an. Die jeweiligen Projekte steigern die Medienkompetenz und thematisieren gezielt die Risiken und Chancen der Internetnutzung", erläutert Küpper.
Das ist offenkundig auch nötig. Das zeigt die Studie, und das sagen die Lehrkräfte. So viel Negatives prassele auf junge Menschen ein, erzählt eine Schulleitung. Auch das habe es immer gegeben, aber die Wege, das alles zu konsumieren, seien immens vielfältiger geworden, so eine Lehrkraft. Ihr Fazit: "Wir dürfen die Kinder und Jugendlichen nicht mit der digitalen Welt alleine lassen."
Die YES-Jugendbefragung soll in vier Jahren mit einem weiteren Befragungszyklus fortgesetzt werden, um langfristige Entwicklungen zu beobachten und entsprechende Maßnahmen abzuleiten. Das teilen die 14 beteiligten Organisationen aus dem Gesundheitswesen mit. Die aktuellen Ergebnisse sind im Euregional Health Atlas einsehbar, der die gesundheitliche Lage der Jugendlichen im grenzübergreifenden Vergleich abbildet. (tom) © Kölner Stadt-Anzeiger
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