Zweimal hat Ulrich von Trotha den beschwerlichen Weg zu seiner Bank bereits auf sich genommen. Vergeblich.

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Jetzt nimmt er zum dritten Mal Anlauf, um den Überblick über sein Konto zu behalten. "Bisher wurden mir die Auszüge per Post zugeschickt, das ist vorbei, jetzt soll ich sie mir auf mein Handy laden", sagt der 79-Jährige und seufzt. Er scheut das Dickicht von Pin-Kombinationen, Sicherheitscodes und Passwörtern. "Wenn das die Folge von Digitalisierung ist, dann überschreiten die Probleme die Vorteile, dann ist sie eher hinderlich als nützlich", schimpft das frühere FDP-Ratsmitglied aus Gummersbach.

Auch im Oberbergischen wird der Alltag für jeden Menschen immer digitaler

So wie ihm geht es vielen Oberbergerinnen und Oberbergern im Rentenalter. Immer mehr Bankfilialen schließen, Behörden verweisen auf Online-Formulare, vom Fahrkartenkauf bis zur Steuererklärung soll im Alltag immer mehr digital erledigt werden. "Da fehlen mir die Kulturtechniken, mit denen unsere Enkel aufgewachsen sind", bedauert von Trotha.

In Lindlar haben sich jüngst 17 Teilnehmerinnen und Teilnehmer beim ersten Termin des Digital-Cafés der Ehrenamtsinitiative Weitblick in diesem Jahr getroffen. Einige sind gekommen, weil sie daran scheitern, die Abholtermine der Müllabfuhr nur noch per App einzusehen statt wie bisher im Abfuhrkalender auf Papier. Andere, weil sie beunruhigt sind über E-Mails von angeblichen Paketzustellern, obwohl sie gar kein Paket erwarten. Ist Online-Banking sicher? Wie schütze ich mich vor Daten-Klau?

Manche Seniorin und mancher Senior in Oberberg fürchtet, den Anschluss zu verlieren

"Ich habe Sorge, den Anschluss zu verpassen", bekennt Seniorin Sabine Friedrichs. "Viele fühlen sich abgehängt", stimmt Gisela Schwermer zu, und am Nebentisch bezeichnet sich eine Teilnehmerin selbst als "digitalen Dinosaurier" und stöhnt über Alpträume. Gitta Quercia-Naumann, Weitblick-Lotsin in Engelskirchen, erzählt von einer Frau, die nach dem Tod ihres Mannes nicht mit dem Online-Banking zurechtkam.

Anette Weber, Seniorenreferentin der Evangelischen Kirchengemeinde in Waldbröl, versucht, einer Teilnehmerin des Online-Treffs zu helfen, die entsetzt ist über tausende von ungewollten Followern auf ihrem Facebook-Account, den ihr Enkel eingerichtet hat. Geduldig beantworten die Digtial-Lotsinnen und Digital-Lotsen in Lindlar Fragen, zeigen und erklären, wie Handy und Laptop funktionieren und was zu tun ist, wenn versehentlich etwas im Nirwana verschwindet.

Lotsin Karin Fleischer macht Mut: "Man muss sich nur trauen, kaputtmachen kann man nichts", beruhigt sie. Lotse Walter Jenauer versichert der 67-jährigen Helgina Schäfer, dass sie keinesfalls zu alt sei, sich mit Apps auseinanderzusetzen. "Sie können das Leben leichter machen" – falls man sich auskennt.

Elektromarkt in Gummersbach verkaufte 92-Jährigem aus Lindlar einen Laptop und ein Handy

Einem 92-jährigen Lindlarer wurden in einem Gummersbacher Elektromarkt ein Laptop und ein Handy verkauft – er hat bisher noch nie eine E-Mail geschrieben. "Er wird demnächst von uns zu Hause besucht", sagt Lotsin Fleischer. 300-mal wurde dieser Service von "Lindlar verbindet" in den vergangenen zwei Jahren genutzt. Bei Bedarf werden Senioren zum Digital-Café abgeholt. Oder auch mal zur Arztpraxis gebracht – nur, um sich dort einen Termin zu besorgen, weil in der Praxis niemand mehr ans Telefon geht und der digitale Terminservice Doctolib für viele ein Buch mit sieben Siegeln ist. Ein Luxusservice, von dem Seniorinnen und Senioren in anderen Gemeinden nur träumen können.

Je eingeschränkter die Mobilität, umso wichtiger ist die digitale Kompetenz, um im Alter an der Gesellschaft weiterhin teilhaben zu können. "Brutal verweigern kann man sich der Entwicklung kaum", stellt auch Ulrich von Trotha fest. "Dann müsste man sich ganz auf sein privates Umfeld zurückziehen." Und selbst das würde immer weniger funktionieren.

Einen Termin beim Straßenverkehrsamt bekommt man nur noch digital oder auf persönliche Anfrage. Spontan geht gar nichts mehr. Und diese Entwicklung schreitet fort. "Arztbesuche zum Beispiel werden bald nur noch digital stattfinden", stellt die 70-jährige Gitta Quercia-Naumann fest und betont die Dringlichkeit des Problems. "Die Zukunft ist nicht in fünf Jahren, die ist morgen." Zur Unterstützung der Senioren gebe es bisher nur Termine ein- oder zweimal im Monat, die sich alle aufs Ehrenamt stützten. "Wir sind nur eine Handvoll Leute, die Unterstützung anbieten können."

Was wäre nötig, um Abhilfe zu schaffen? "Ein ständiger Kontaktpunkt zur digitalen Beratung in jeder Gemeinde", sagt die Engelskirchenerin. "Natürlich kostet das was. Aber da kommt es auf die Gewichtung an. Wir Alten sind viele, und wir werden immer mehr!"

Wege aus dem digitalen Dschungel

"Ich verstehe den Wunsch von Seniorinnen und Senioren nach einem ständigen Kontaktpunkt zur Digitalberatung", sagt Astrid Wollenweber vom städtischen Projekt "Wiehl enthindert". "Aber so etwas ist keine Pflichtaufgabe der Kommunen und wird darum nicht refinanziert." Dennoch gebe es Möglichkeiten, die Teilhabe zu fördern.

In diesem Sinne versteht sich das Pilotprojekt "Wiehl enthindert" als Koordinationsstelle von ehrenamtlichen Initiativen. Wichtig sei, auf digitale Hürden aufmerksam zu machen und, wo möglich, eine analoge Alternative zu finden, sagt Wollenweber. Der On-Demand-Bus Monti etwa sollte ursprünglich nur mit App und hinterlegter Kreditkarte zu buchen sein. Das habe man geändert. Es gebe inzwischen eine Telefonnummer und man könne wieder beim Fahrer direkt bezahlen. Wichtig sei bei allen Vorteilen der Digitalisierung, dass es überall auch einen konkreten Ansprechpartner gibt, "und eine Telefonnummer, über die ein echter Mensch tatsächlich erreichbar ist".

Kostenfreie Hilfe zur Selbsthilfe bei der Orientierung im digitalen Dschungel gibt es bei den Digital-Cafés der Ehrenamtsinitiative Weitblick in Lindlar unter der Rufnummer (02266) 4 40 72 04 und in Engelskirchen, 0152/27 37 84 28, sowie zudem in den Repair-Cafés in Marienheide, Waldbröl und Morsbach.

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Unterstützung findet man auch bei den Online-Treffs für Senioren im Rahmen des Projekts "3-Klang" der Evangelischen Kirchengemeinde in Waldbröl, (02291) 92 14-0, und bei der Handysprechstunde der Oase Seniorenberatung der Stadt Wiehl, (02262) 79 71 20.  © Kölner Stadt-Anzeiger

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