Am Samstag treffen der FC Bayern und Bayer Leverkusen um 18:30 Uhr im Bundesliga-Topspiel aufeinander. Im Interview spricht Bayer-Legende Jens Nowotny über das fehlende Selbstverständnis in Leverkusen, die Qualität der beiden Teams, die möglichen Auswirkungen des Spitzenspiels auf den Saisonverlauf und die Zukunft von Florian Wirtz.
Jens Nowotny, wie sehr leiden Sie als Ex-Abwehrmann im Moment angesichts der neun Gegentore von Bayer Leverkusen?
Jens Nowotny: Zu meiner Zeit war das nicht unähnlich. Ich habe immer gesagt: Solange wir ein Tor mehr schießen, ist alles gut. Dann kann man auch ein Risiko eingehen. Aber heutzutage ist das zu kurz gedacht. Denn der alte Spruch, vorne werden Spiele entschieden, hinten Meisterschaften, hat sich letztes Jahr auch wieder bewahrheitet.
Granit Xhaka hat zuletzt angemahnt, dass man mit dem Defensivverhalten so nicht weitermachen könne. Wie laut ist dieses Alarmsignal?
Es ist noch nicht bedenklich, aber zumindest etwas, das man überprüfen muss, weil es auf Dauer nicht gutgehen kann. Die Abwehr war der Garant dafür, dass man in der Vergangenheit Spiele bis zum Schluss offen gestalten konnte. Deswegen steckt es eigentlich in der Mannschaft drin. Die Frage: Will die Mannschaft aktuell wirklich verteidigen oder ist sie im Moment auf diesem Trip, Fußball spielen zu wollen mit dem Verständnis, dass man am Ende sowieso gewinnt?
Was muss sich dann ändern, damit es wieder besser wird?
Letztes Jahr hat die ganze Mannschaft eine Verantwortlichkeit an den Tag gelegt. Da wurde sofort gegengepresst, da wurde versucht, den Ball wieder zurück zu erobern, um das Spiel selbst gestalten zu können. Dass man wieder schneller in das Gegenpressing kommt, könnte ein Hebel sein. Möglicherweise fehlt auch dieses Selbstverständnis, das man sich im Laufe der vergangenen Saison erarbeitet hat.
Leichtfertigkeit kann Bayer gefährlich werden
Woran liegt es, dass möglicherweise das Selbstverständnis fehlt? Die Ergebnisse stimmen ja eigentlich…
Oft sind es nur Kleinigkeiten. Es kann aber auch eine gewisse Art von Leichtfertigkeit oder Überheblichkeit sein, dass man ein bisschen leichtsinnig oder übermütig wird, dass ein bisschen der Fokus verrückt ist, was die Defensivarbeit angeht.
Wie kann man daran arbeiten?
Indem man den Fokus wieder auf das Eins gegen Eins legt im Training. Dass man gegen den Ball Übungsformen macht, bei denen man in Kleingruppen trainiert, später dann im gemeinschaftlichen Verbund, also im Elf gegen Elf, um das Defensivverhalten wieder ins Zentrum zu rücken. Aber ich gehe fest davon aus, dass
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Ist der Druck nach so einer Saison größer oder lässt es sich befreiter aufspielen?
Es ist immer wieder der gleiche Erfolgsdruck. Das bedeutet für Leverkusen im ersten Schritt, das letzte Jahr zu bestätigen, also wieder um den Titel mitzuspielen. Da geht es dem FC Bayern, Borussia Dortmund, RB Leipzig oder auch dem VfB Stuttgart nicht anders. Im Grunde hat jede Mannschaft den gleichen Druck. Ich finde nicht, dass es exorbitant anders ist.
Was glauben Sie, was Bayer für eine Saison spielen wird?
Bayer kann sich eigentlich nur selbst schlagen, weil die Qualität die beste in Deutschland ist. Da findet sich keine andere Mannschaft, die so viel individuelle Qualität hat, dazu so eine Spielphilosophie und Spielintelligenz. Bei
Wenn sich Bayer nur selbst schlagen kann, wo verorten sie dann den FC Bayern?
Ich sage es mal positiv: einen Platz hinter Bayer Leverkusen. Der Tabellenplatz sagt etwas anderes und im schlimmsten Fall könnte Bayer nach Samstag sechs Punkte zurückliegen. Trotzdem sage ich, dass sich die Mannschaft nur selbst schlagen kann, wenn man sieht, wie die Spiele gelaufen sind. In Mönchengladbach zum Beispiel, wo man das Spiel nach 2:0 plötzlich wieder aus der Hand gibt. Warum passiert so etwas? Das hat nichts mit Qualität zu tun, sondern das ist der Kopf. Das heißt, die Leverkusener können sich nur vom Kopf her selbst schlagen, indem sie nicht zu 100 Prozent fokussiert sind, indem sie nicht in diesen Flow reinkommen wie in der letzten Saison. Von der individuellen Qualität her gibt es in der Bundesliga keine bessere Mannschaft. Bayern München ist eine Top-Mannschaft, mit der man immer rechnen muss. Aber ich finde, sie sind qualitativ im Moment einen Schritt hinten dran.
Bei den Bayern läuft es trotzdem etwas besser, auch spielerisch. Überrascht Sie die neue Souveränität und Dominanz?
Nein, das überrascht mich nicht. Das hatten sie letzte Saison auch schon, wenn sie in einen Fluss reingekommen sind. Dann kannst du einen Gegner auch einfach mal 'zerstören'. Ich finde, das hat jetzt noch nichts mit Dominanz zu tun, sondern einfach mit einer befreiten Spielkultur, die die Qualität der Einzelspieler zusammen auf den Platz bringt.
Ein Grund dafür ist Trainer
Ja, aber so ticken wir. Wir loben extrem schnell hoch und wir lassen extrem schnell fallen. Das ist der Zeitgeist. Im Moment haben sie eine gute Struktur, ein gutes Miteinander gefunden. Wir warten mal ab, wenn es in die entscheidenden Phasen geht, auch in der Champions League. Das sind die Momente, auf die Bayern München hinarbeitet. Dann wird sich zeigen, wie gefestigt die Mannschaft ist.
Es scheint jedoch so, als habe Kompany die berühmt-berüchtigte Bayern-Kabine hinter sich. Wie schafft man es als Trainer, die Spieler für sich zu gewinnen?
Es war eine andere, aber von der Herangehensweise her eine ähnliche Konstellation wie bei uns in Leverkusen früher. Sie hatten
Was lief bei Tuchel schief?
Tuchel ist ein sehr analytischer Trainer, der Abläufe einstudiert hat, der gewisse Vorstellungen hat, wie Fußball zu funktionieren hat. Und Kompany ist eher jemand, der sagt: 'Wir haben hier A und da vorne ist Z und wie ihr dahin kommt, ist egal.' So hat er die Freigeister wieder geweckt, um individuelle Qualitäten auf den Platz zu bekommen. Genau das hat bei Tuchel gefehlt.
Nowotny warnt vor den Gefahren nach großen Erfolgen
Ist der Kompany-Ansatz auch für Zeiten geeignet, in denen es mal nicht läuft?
Das ist die Gefahr. Das war bei uns auch so, als wir unter Toppmöller erfolgreich waren. Im Jahr nach dem Erfolg kam die schwierige Phase, als wir im Abstiegskampf steckten. Dann ist es schwierig, den Turnaround hinzukriegen. Das heißt, dass der Trainer im Vorfeld schon gewisse Grenzen setzen muss, um zu zeigen, dass man bestimmte Dinge machen kann, solange es läuft. Falls es nicht mehr funktioniert, muss er einen Plan B in der Tasche haben. Genau den wird Kompany sicher haben.
Haben Sie den Eindruck, dass es unter Kompany langfristig eine gewisse Konstanz in den Auftritten geben kann?
Ja, ich denke schon. Ganz wichtig, obwohl alle es etwas herunterspielen, ist am Samstag das Topspiel. Es kann mir niemand erzählen, dass es nur um drei Punkte geht. Es geht auch ums Prestige und für den FC Bayern darum, Bayer zu zeigen, dass der Erfolg eine Eintagsfliege war. Oder für die Leverkusener, dass man den Bayern zeigt, dass man weiter die Nummer eins ist.
Was für eine Auswirkung hat der Ausgang des Spiels für die kommenden Wochen?
Da ist ein psychologisch richtungsweisendes Spiel. Wenn die Bayern so ein Spiel dominant gewinnen und sich mit breiter Brust in die folgenden Wochen werfen, hast du bei sechs Punkten Vorsprung als Verfolger ein Problem. Und wenn der Abstand größer wird, dann kommen die üblichen Mechanismen: 'Die Bayern lassen keine Federn, von den anderen will ja keiner und die nehmen sich die Punkte gegenseitig weg.' Dadurch bekommt man als Mannschaft Alibis geliefert. Da musst du erstmal herauskommen.
Kann so ein Spiel eine Mannschaft so früh schon komplett aus dem Tritt bringen?
Wenn man sich auf das Geplänkel, was danach kommt, einlässt. Wenn man sich nicht einfach auf die nächste Aufgabe konzentriert, sondern vom Sieger Sprüche kommen und man meint, man müsse Sprüche zurückgeben. Und dann kommen die Journalisten und fragen spitzfindig, um gewisse Antworten herauszukitzeln. Und wenn man sich darauf einlässt, kann es passieren, dass man seine Linie verliert.
Schlüsselduell: Wirtz oder Musiala – Wer prägt das Spiel?
Worauf wird es im Spitzenspiel ankommen, wenn so viel Qualität aufeinandertrifft?
Wer besser ins Spiel reinkommt, wer die sicheren individuellen Qualitäten an den Tag legt. Das heißt, kann Florian Wirtz in den ersten paar Minuten genauso glänzen, Ausrufezeichen setzen wie in den letzten Spielen? Oder ist
Musiala und Wirtz sind Schlüsselfaktoren am Samstag. Glauben Sie, dass die beiden in der kommenden Saison zusammen beim FC Bayern spielen?
Nein, das glaube ich nicht.
Spielt Florian Wirtz denn nächstes Jahr noch in Leverkusen?
Nein, das glaube ich auch nicht.
Welchen Klub hätten Sie da auf der Rechnung?
Manchester City mit Pep Guardiola zum Beispiel, oder Real Madrid, es gibt aber auch den FC Barcelona, je nachdem, wie erfolgreich Hansi Flick ist. Es gibt nicht viele Optionen. Ich glaube nicht, dass außer englischen oder spanischen Vereinen ein anderer Klub in Frage käme. Das ist aber alles nur mein Gefühl.
Warum nicht die Bayern?
Was wäre die Herausforderung? Er kann mit den Bayern die Champions League gewinnen, aber das kann er bei einem internationalen Klub genauso. Und er lernt ein anderes Land kennen, eine andere Kultur. Florian Wirtz ist von seiner Qualität her auf internationalem Niveau. Da gehört der FC Bayern natürlich auch dazu. Aber ich glaube, dass der Reiz, ähnlich wie Toni Kroos, Ikone eines ausländischen Vereins zu sein, enorm groß ist. Und man kann im Ausland für sein Leben viel mehr mitnehmen. Und das steht meiner Meinung nach über der Möglichkeit, mit seinem Kumpel zusammenzuspielen.
Über den Gesprächspartner
- Jens Nowotny spielte von 1996 bis 2006 für Leverkusen und wurde in der Zeit viermal Vize-Meister und stand mit Bayer 2002 im Champions-League-Finale. Er bestritt 336 Bundesligaspiele und schoss dabei 11 Tore. Daneben absolvierte der 50-Jährige 48 Länderspiele. Heute ist er Co-Trainer der U16-Junioren des DFB.
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